Warum Resilienz nicht reicht

Roland Psenner

 

Eigentlich möchte ich über Resilienz reden, da ich mich seit langem mit Resistenz und Resilienz [1] von Öko­syste­men befasse. Eines meiner Beispiele ist der Traunsee in Ober­österreich, der über Jahrzehnte mit Abfällen aus der Soda­produktion belastet wurde, aber scheinbar resistent gegen Veränderungen war. Mit mehr als einem Dutzend Fachleuten versuchten wir damals im Auftrag der Öster­rei­chischen Akademie der Wissen­schaften statistisch signi­fikante Veränderungen fest­zumachen. Zum Vergleich zogen wir von Industrieschlämmen unbeeinflusste Seen wie den Attersee und den Hallstätter See heran. Bei­de Seen (und viele andere Gewäs­ser) waren jedoch weit davon entfernt, als „Standard“ zu dienen, denn sie waren zuerst durch eine Phase der Über­düngung, dann der Versaue­rung gegan­gen, aber nach geeigneten Maß­nahmen zur Luft- und Wasser­rein­haltung in den Zustand vor der Belastung zurück­gekehrt. Sie waren also resilient, das war unsere Annahme! Wir muss­ten jedoch erken­nen, dass eine so genannte base line oder ein Grund­zustand, an dem wir uns orientie­ren und zu dem wir zurück­kehren woll­ten, nicht existiert. Das lag nicht nur daran, dass sich Gewässer seit den 1980er Jahren etwa dreimal so schnell erwärmen wie die Atmo­sphäre, sondern an vielen weiteren Umwelt­veränderungen. Es gibt kein Zurück zu einem wie immer imaginierten, postulierten oder definierten Zustand eines „Davor“ – und das gilt nicht nur für Ökosysteme.   

In einer Welt, in der nur die Veränderung beständig ist, müssen wir Resilienz neu denken. Gefährlich werden die üblichen Vorstellungen von Resilienz in der durch die Corona-Pandemie ausge­lösten Krise, denn eine Rück­kehr in den vorherigen Zustand wäre der größte Fehler, den wir machen könnten. Ich argumentiere im Folgen­den nicht mit dem Faktum, dass „die größere Krise“ noch bevor­steht, sondern gehe von einigen Zahlen aus, die uns die Pan­demie geliefert hat.

Für jene, die bisher in einiger­maßen sauberer Umgebung lebten, mag der lockdown die Lebens­­qualität vor­wiegend negativ beeinflussen. Wenn man aber in Delhi, Bogotá, São Paolo, Wuhan und vielen ande­ren Groß­städten (auch in der Poebene) lebt, wird man feststellen, dass man die Luft wieder atmen kann. Wie der Guardian am 11. April 2020 berichtete, atmen die Einwohner Delhis seit kurzem “alpine” Luft: der AQI (air quality index), der üblicherweise bei toxischen 200 und manchmal bei lebensbedroh­lichen 900 liegt, ist auf Werte unter 20 gesunken. Der Himmel ist blau und selbst der Gesang der Vögel klingt anders.

Laut einer Studie von Greenpeace Southeast Asia und dem Centre for Research on Energy and Clean Air sind die Emissionen aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe (Feinstaubpartikel PM2.5 und Ozon) verant­wortlich für 7.7 Millionen durch Asthma ausgelöste Notfälle. Allein der durch die Verbren­nung von Kohle, Erdöl und Erd­gas freigesetzte Feinstaub PM2.5 verursacht weltweit jährlich 1.8 Milliar­den Krank­heitstage. PM2.5 aus fossilen Brenn­stoffen ist schuld am Tod von etwa 40.000 Kindern vor ihrem fünften Lebensjahr sowie für den vorzeitigen Tod von ungefähr 3 Millionen Menschen aufgrund kardio­vaskulärer Krankheiten, Lungen­krankheiten und Lungen­­krebs. Zusätzlich sterben jährlich etwa 1 Million Menschen vorzeitig durch Ozonverschmutzung und NO2.

Martha Nussbaum und Amartya Sen haben aus philosophischer und ökonomischer Sicht ein normati­ves Ziel entwickelt („not dying prematurely“), das im Prinzip auch für jene 5.000 Menschen gilt, die jeden Tag vor­zeitig an Tuber­kulose sterben, einer Krankheit, die in den meisten Ländern Europas vermeidbar wäre. Um beim Ökonomischen zu bleiben: die durch Emissionen aus fossilen Brennstoffen verursachten wirt­schaftlichen Schäden beliefen sich 2018 auf 2,9 Billionen USD, was etwa 8 Milliarden USD pro Tag ausmacht, wobei China, die USA und Indien den größten Teil dieser Lasten tragen.

In der EU sterben jährlich 399.000 Menschen vorzeitig durch die Luftverschmutzung aus der Ver­bren­nung von Kohle, Erdöl und Erdgas. 295.000 Todesfälle werden durch Feinstaub, 69.000 durch NO2 und 34.000 durch Ozon verursacht. Wie viele Menschenleben ein lockdown von ein, zwei Monaten retten wird, wird sich erst nach Ende der Krise beurteilen lassen, aber bereits jetzt gehen in Europa durch Luft­verschmutzung aus­gelöste akute Krankheiten wegen der massiven Einschränkungen von Verkehr und Industrie­produktion zurück. Eine Rückkehr zum Status quo wäre also aus rein gesundheitlichen Über­legungen unsinnig.

Lassen wir Europa und die Auswirkun­gen des wirtschaftlichen Stillstands [2] bei Seite und werfen wir einen Blick auf andere Epide­mien. Da ergibt sich ein dramatisch negatives Bild. So musste z.B. die Global Polio Eradication Initiative am 24. März die ihre Impf­kampagne für die zweite Jahres­hälfte aus­setzen, und die Strategic Advisory Group of Experts on Immunization (SAGE) der WHO empfahl die Unter­brechung sämtlicher Impf­kampagnen, um die Ausbreitung von COVID-19 zu reduzieren. Bereits im April 2020 hat das Aussetzen der Impf­aktionen für Polio, Masern, Papillomavirus, Gelb­fieber, Cholera und Meningitis dazu geführt, dass mehr als 13,5 Millionen Kinder nicht mehr geimpft wurden. Das bedeutet, dass mehr Kinder an Kin­der­läh­mung erkranken werden und die Poliomyelitis von den Ländern, in denen sie noch existiert, auf Nachbar­länder übergreifen kann. Die Masern­impfung wurde in 23 Ländern ausgesetzt, damit verlieren 78 Millio­nen Kinder den Schutz gegen eine extrem ansteckende Krankheit, die 3 bis 6 Prozent der infizierten Kinder, vor allem schlecht ernährte, tötet. Im Jahr 2018, für das verläss­liche Zahlen vorliegen, erkrankten 10 Millionen Menschen an Masern, 140.000 starben daran. Dass etwa 500.000 jährlich an Malaria ster­ben, sei am Rande vermerkt; es gibt keine Impfung, während zurzeit Dutzende Unternehmen an der Entwick­lung eines Impfstoffs gegen SARS-CoV-2 arbeiten.

Eigentlich wollte ich über Resilienz reden, nicht über die Vermeidung vorzeitiger Todesfälle durch einen zwei­mona­tigen lockdown und die zusätzlichen Toten wegen des Stopps welt­weiter Impf­aktio­nen, aber allein diese beiden Beispiele beweisen, dass wir eine bessere Definition für Resilienz benötigen, die sich nicht nur an vergangenen Zuständen orientiert. Wir werden als Gemeinschaft erst dann relisient sein, wenn Resilienz nicht Rückkehr zu business as usual bedeutet, sondern wenn wir erstens die permanente soziale, wirtschaftliche, tech­nische und ökologi­sche Ver­änderung mitdenken und zweitens den Blick auf die Zukunft, d.h. auf die Bewältigung unmittelbar bevorstehender globaler Heraus­forderungen richten. Es gibt kein Zurück.

Roland Psenner, Ostern 2020

 

[1] Resilienz spielt von der Psychologie bis zu den Ingenieurwissenschaften eine bedeutende Rolle, sie beschreibt die Fähigkeit von Systemen, nach massiven externen oder internen Störungen wieder in den Ausgangszustand zurückzukehren, während Resistenz die Widerstandkraft beschreibt, im konkreten Fall z.B. als Resistenz gegenüber Infektionen.

[2] Zu diesem Thema haben sich bereits zu Beginn des Stillstands zahlreiche Expert*innen geäußert, einige haben angesichts des Umfangs der Krise und in Erinnerung der Nachkriegssituation einen Lastenausgleich gefordert.

 

Die Erstveröffentlichung dieses Artikels erfolgte in englischer Sprache auf eurac.edu

 

Roland Psenner ist Ökologe-Limnologe mit Schwerpunkt Alpine Seen und Klimageschichte. Seit den 1980er Jahren Beschäftigung mit Umweltproblemen zunehmender Dimension: Eutrophierung von Seen, Saurer Regen, Klimawandel. Prof. emeritus der Uni Innsbruck, Präsident von Eurac Research, Südtirol, Obmann des Vereins Wissenschaft und Verantwortlichkeit

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