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Im Verborgenen 1

Der Gendarm Joachim Nairz, Wachmann im AEL Reichenau, täuschte vor seiner Einberufung zur Wehrmacht einen Unfalltod vor, um sich fast ein Jahr lang in einer Höhle bei Prutz zu verstecken.

Am Montag, den 5. Juni 1944, kam der 44-jährige Gendarm der Reserve Joachim Nairz, geboren im Jahr 1900 in Zamserberg, wohnhaft mit seiner Ehefrau Maria in Prutz, um ca. fünf Uhr früh mit seinem Fahrrad zur Pontlatzbrücke über den Inn, um nach einem Sonntagsurlaub zu Hause an seine Dienststelle, das Arbeitserziehungslager der Gestapo in Innsbruck-Reichenau, zurückzukehren. Bei der Kontrolle durch die Brückenwache ließ er die Bemerkung fallen, dass ihm unwohl sei, dann fuhr er „in Schlangenform“ Richtung Landeck weiter. Nach der Ortschaft Neuer Zoll stieg er vom Rad, warf es in den Inn und seinen Rucksack und seine Dienstmütze mit eingesticktem Namen auf die Straße, verstreute Pfeffer und Schnupftabak, um Spürhunde zu täuschen. Dann ging er über die Holzbrücke nach Niedergallmig und stieg in den Wald hinauf, um die „Unfallstelle“ zu beobachten. Um ca. sechs Uhr sah er einen Arbeiter, der den Rucksack fand und seine Entdeckung im nahegelegenen Gasthof „Neuer Zoll“ meldete. Kurz darauf trafen Gendarmen ein und begannen die Böschung entlang des Inn abzusuchen.

Drei Tage später berichteten die Innsbrucker Nachrichten, dass der Gendarmeriewachtmeister der Reserve Joachim Nairz „beim Neuen Zoll in Fließ auf ungeklärte Weise von seinem Fahrrad über die steile Böschung der Reichsstraße in die reißenden Fluten des Inn“ gestürzt und seitdem verschollen sei.

Tatsächlich befand sich Joachim Nairz in den unwegsamen Schrofen hoch über dem Inntal nahe seines Heimatdorfes – in einem, ihm schon länger bekannten, natürlichen, bis zu zwei Meter hohen, drei Meter langen und zwei Meter breiten Hohlraum unter einem riesigen Felsblock, den er auf einer offenen Seite abgedeckt hatte, sodass er nur über eine schmale Spalte zugänglich war. Hier wollte er das Ende des Krieges abwarten. Die mögliche Flucht in die Schweiz kam für ihn nicht in Frage, da er Repressalien gegen seine Frau befürchtete. Als Gendarm wusste er wohl, dass die NS-Behörden in der Nachbargemeinde Pfunds gegen Familienangehörige von Deserteuren, die in die Schweiz geflüchtet waren, bereits Sippenhaft und Enteignungen angewandt hatten.

 

Innsbrucker Nachrichten (Credit © Österreichische Nationalbibliothek)

 

Mehr als 40 Jahre später, im Alter von 87 Jahren, verfasste Joachim Nairz einen vierseitigen Bericht über seine Flucht vor der Einberufung in die Wehrmacht, der im Archiv seiner Heimatgemeinde aufbewahrt ist. Darin schildert er die karge und arbeitsreiche Kindheit eines Bauernsohns in Zams und Südtirol, der sich als „Hütebub“ im Schwabenland verdingen musste, eine Jugend als Knecht bei Bauern in Tirol und Deutschland, schließlich als Malerlehrling und -geselle beim Malermeister Kneringer in Prutz. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde er im Jänner 1939 als tauglich für den Wehrdienst gemustert, wegen seines Alters aber in die Ersatz Reserve I versetzt. Im Juni 1941 kam die Einberufung zum Dienst bei der Gendarmerie. Nach kurzer Ausbildung wurde er als Rottwachtmeister der Reserve dem Gendarmerieposten Ried im Oberinntal zugeteilt.

Über seine Tätigkeit als Gendarm berichtete er: „Meine Hauptaufgabe bestand darin, auf richtige Verdunkelung zu achten, die ‚Schwarzschlächter‘ und Schwarzarbeiter aufzuspüren und zu strafen. Wenn ich auf meinen ‚Strafgängen‘ auf rechtschaffene österreichische Patrioten traf, strafte ich nicht und bezahlte oft aus eigener Tasche das Strafmandat, scheute mich aber nicht, bei bekannten Nazis die volle Schärfe anzuwenden.“

 

Joachim Nairz (Credit © Tiroler Landesarchiv)

 

Nachdem ihn ein Mann wegen einer Äußerung, wonach die Amerikaner den Krieg gewinnen würden, bei seinem Vorgesetzten denunziert hatte, wurde er im August 1942 zum Dienst im Arbeitserziehungslager (AEL) der Gestapo in Innsbruck-Reichenau „strafversetzt“: „Dort hatte ich zusammen mit anderen Gendarmeriemalern und Häftlingen Malerdienste zu leisten.“ Ein Einsatzort der Arbeitskommandos war Natters, wo der Innsbrucker Kommandeur der Gendarmerie Baracken für eine Polizeischule zur Hochgebirgsausbildung errichten ließ, andere waren in Innsbruck, wo Nairz Arbeitseinsätze von Häftlingen zur Beseitigung von Bombenschäden beaufsichtigte. Knapp schildert er in seinem Bericht einige Eindrücke vom AEL Reichenau: „Sträflinge mussten mit leerem Magen, im Winter mit Sandalen, die sie mit Papier umwickelt hatten, schwer arbeiten. – Ein nicht mehr arbeitsfähiger Arbeiter wurde auf einen Lastwagen geworfen und totgetrampelt. […] Sträflinge wurden von der SS als Zielscheiben benutzt, von Hunden zerfetzt, in Arrestzellen totgefroren.“

Im Mai oder Juni 1944 geriet Joachim Nairz bei Malerarbeiten in der Kanzlei der Lagerleitung in einen Konflikt mit einem Vorgesetzten, nachdem sich dieser mit Ölfarbe beschmutzt hatte. Als „Strafe“ verlangte der Vorgesetzte seine Einziehung zur Wehrmacht nach Jugoslawien. Als Nairz davon erfuhr, beantragte er einen Sonntagsurlaub in Prutz, um seine Flucht vorzubereiten.

Tatsächlich finden sich im Wehrstammbuch (zugänglich im Tiroler Landesarchiv) Hinweise auf eine bevorstehende Einziehung zur Wehrmacht, etwa die Eintragung einer neuerlichen Musterung am 14. Mai 1944 in Innsbruck mit dem Vermerk „g.v.F.“, was „garnisonsverwendungsfähig Feld“ bedeutet und eine Versetzung in ein rückwärtiges Operationsgebiet ermöglichte. Die Befürchtung von Joachim Nairz, als Soldat in den Partisanenkrieg nach Jugoslawien geschickt zu werden, findet Bestätigung auch darin, dass das Wehrmeldeamt Landeck einen Einberufungsbefehl ausstellte, wonach er sich am 25. August 1944 bei der Gebirgs-Sanitäts-Ersatz- und Ausbildungs-Abteilung 18 in Saalfelden einzufinden habe. Von hier aus wurden Soldaten häufig zu Truppen in Jugoslawien geschickt. Der Einberufungsbefehl war nach seinem Verschwinden jedoch nicht mehr zustellbar. Das Wehrmeldeamt Landeck verlangte daraufhin vom Bürgermeisteramt in Prutz die Ausstellung einer Sterbeurkunde, worauf dieses bekannt gab, dass Joachim Nairz weiterhin als vermisst gelte und eine Sterbeurkunde erst beim Auffinden der Leiche ausgestellt werden könne.

 

(Credit © Markus Jenewein)

 

In seinem Bericht schilderte Joachim Nairz die Bedingungen seines fast einjährigen Überlebens in der Höhle. Eingeweiht war zunächst nur eine Bekannte aus Niedergallming, die ihn mit den nötigsten Lebensmitteln versorgte. Erst nach einiger Zeit ließ er auch seine Frau von seinem Versteck in Kenntnis setzen und auch sie soll ihm beim Beeren- und Holzsammeln in der Nähe des Verstecks Nahrung hinterlegt haben. Kaum vorstellbar ist, wie er den strengen Winter 1944/45 in der Höhle überlebt hat. Er schrieb: „Nur einmal am Tag, in der Nacht (meist um Mitternacht) konnte ich kochen, da konnte man den Rauch nicht so gut sehen, auch hatte ich Lebensmittelmangel. Ich kam mir vor wie ein Jagdwild. Ich schreckte auf, wenn ein Hase oder ein Reh um die Wege war. Wie oft verfluchte ich die Hitlerbrut! Oft dachte ich an die Soldaten in den Schützengräben, in Dreck und Angst, und war dann wieder froh, ruhig schlafen zu können. (…) Im Winter war es besonders schlimm. Etwas Holz hatte ich mir im Herbst hergerichtet. Im Winter durfte ich die Höhle wegen der Spuren nur in dringendsten Fällen verlassen. Dann musste ich Schnee sieben, um die Spuren zu verwischen. Vier Monate sah ich keinen Menschen. Die Kartoffeln, etwa 15 kg, waren gefroren, daß sie klingelten wie Nüsse. Brot gab es keines. In der Höhle war es meist kalt, zentimeterdick war das Eis an den Wänden, die Schlafstelle war naß. […] Meine Beschäftigung bei Tage war das Beten von 12 Rosenkränzen.“

(Fortsetzung folgt)

Text: Peter Pirker

 

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