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In Tumpen 2 – Rettungswiderstand der Frauen

Unter den Deserteursgruppen im Ötztal und in der Gemeinde Umhausen war jene in der Ortschaft Tumpen die größte. Bei Kriegsende bestand sie aus zwölf Deserteuren. Frauen organisierten ihr Überleben.

Zu Georg Mair und Otto Maurer gesellten sich 1944 der 33-jährige Cousin und Bruder Johann Maurer, ein Hirte und Jäger, der seinen Kriegseinsatz in Italien eigenmächtig beendete und Alfons Auderer, ein Freund des Trios, der bereits verheiratet und Vater von drei kleinen Kindern war. Auderer tauchte im September 1944 nach Ablauf einer Uk-Stellung unter – er hatte den Sommer als Hirte auf der Gehsteigalm verbracht. In Absprache mit seiner Ehefrau Johanna verschwand er auf dem Weg zur Gebirgs-Sanitäts-Ersatz- und Ausbildungs-Abteilung 18 in Saalfelden, die ihn nach Ablauf des Stellungstermins wegen unerlaubter Entfernung anzeigte und die Fahndung einleitete.

Die wesentlichen Quellen zur Rekonstruktion des kleinräumigen Solidarsystems, das die klandestine Existenz der Deserteure ermöglichte, bilden Interviews und Gespräche mit Georg Mair, seiner Schwester Elisabeth, seinem Sohn Alois und Hildegard Frischmann, der Tochter von Alfons Auderer. Den Nukleus bildeten die miteinander verschwägerten Familien Mair und Maurer. Eine zentrale Rolle spielten die Schwestern Elisabeth Mair und Berta Mair (verh. Maurer). Sie wirkten bereits an den Fluchtentscheidungen maßgeblich mit, wie Elisabeth Mair in einem Interview mit dem ORF 1983 berichtet: „Und dann hätte mein Schwager [Otto Maurer], der war auch beim Zollgrenzschutz mit meinem Bruder zuerst…, aber dann kam er nach Russland. Wurde verwundet und kam zurück und hätte dann müssen zur SS nach München einrücken. Und dann haben wir ihn so bearbeitet, und so bearbeitet, und immer, wir haben ihn nur ferngehalten, nur mit dem Argument: wenn du zur SS gehst und wenn der Krieg aus ist, dann hast du keine Ruhe. Du kannst nicht heim. Da fragt niemand, warum bist du bei der SS und so. Gut, wir haben ihn überredet. Und er ist auch in die Berge gegangen.“

 

Hildegard Frischmann im Interview mit Peter Pirker und Edith Hessenberger, September 2020.  (Credit: © Edith Hessenberger)

 

Hildegard Frischmann schilderte die Überzeugungsarbeit von Berta Maurer (geb. Mair, Ehefrau von Otto Maurer) bei ihrer Mutter Johanna Auderer, ihren Mann Alfons nicht mehr einrücken zu lassen: „Wie ist der Vater überhaupt darauf gekommen, sich da oben zu verstecken? Da war jetzt wieder die Berta, die Schwester von Georg wichtig. Die Frauen haben untereinander sehr gut kommuniziert. Sie hat zur Mama gesagt: Lass ihn ja nicht mehr gehen. Der Georg wartet schon lange auf ihn. Und der Georg sagt, er soll zu ihm kommen. Er soll hinaufgehen. Er soll auf keinen Fall mehr in den Krieg gehen. Und dann war es für ihn sowieso klar. Dann ist er nicht mehr gegangen.“

Georg Mair und die ihm folgenden Flüchtlinge bauten zwei Hütten aus Rundholz im Gebiet des Alpmöserschrofen hoch über der Ortschaft. Eine der Hütten befand sich in äußerst unzugänglichem Gelände in einer Felsnische. Der Zustieg von oben funktionierte nur über eine Leiter, talwärts seilten sich die Deserteure ab. Wasser bezogen sie von einem in der Nähe der Hütte abfließenden Bach.

Die Lebensmittel für die Deserteure zweigten die Frauen hauptsächlich aus den Erträgen der Landwirtschaft ab. Die damals vierjährige Hildegard Frischmann bekam später von ihrer Mutter erzählt: „Wie haben sich die Männer da oben am Berg versorgt? Da waren die Frauen maßgeblich, durch die Bank die Frauen. Die haben die Lebensmittel hergerichtet, Brot, Eier, Butter, Schmalz, Kartoffel. Und regelmäßig ist immer einer von der Gehsteigalm heruntergegangen in den Ortsteil Burgstein. Da ist das Elternhaus von meinem Vater und dort hat er einen Anteil am Stadel gehabt. In dem Stadel haben die Frauen die Waren versteckt und in der Nacht die Männer sie abgeholt. Da ist immer abwechselnd einer heruntergegangen. Das ist eine knappe Gehstunde, für die jungen Männer ist das nicht weit gewesen.“ Ein anderer Übergabeort von Lebensmitteln war nach Auskunft von Alois Mair – ebenfalls nachts – der Friedhof.

 

Lage des Verstecks in einer Felsnische in den Alpmöserschrofen, Abstieg über Leiter, Fluchtweg ins Tal per Seil und Zugang zum Bach nach Auskunft von Alois Mair.  (Credit: © Markus Jenewein)

 

Die langfristige Versorgung der untergetauchten Männer brachte die Haushalte an die Grenzen der Subsistenz, zumal den Bauern kriegswirtschaftliche Abgabepflichten auferlegt waren. Elisabeth Mair, die den Haushalt ihrer Familie anstelle ihrer kranken und im Jänner 1944 verstorbenen Mutter führte, entschloss sich daher, die Abgabe von Lebensmitteln an den NS-Staat drastisch zu reduzieren: „Und ich habe, wie meine Mutter gestorben ist, habe ich den festen Vorsatz gefasst, von mir kriegen sie kein Gramm Butter mehr und kein Ei. Weil ich mir gedacht habe, meine Mutter, die hat nämlich aus Furcht […] geliefert, mehr wie gut war. Aber ich habe mir gedacht, nein. [Ich] musste mich auch verantworten, nach Imst gehen einmal, warum ich nichts mehr liefere. Und einmal wieder nach Umhausen, warum wir keine Eier mehr liefern. Und ich habe immer gesagt: Ich liefere schon, aber wir haben es im Moment nicht. Wir haben es nicht. Ich habe gesagt: Ihr habt uns die Kartoffeln aus dem Keller, ihr habt uns das Heu vom Tenn, wir müssen mit Stroh die Kühe füttern. Habe ich gesagt: Ich habe es im Moment nicht.“ Die so eingesparten Lebensmittel setzte sie für einen schwarzen Tauschhandel ein, den sie mit der Ehefrau des Bäckers Johann Mühlpointner in Ötz begann: „Und da habe ich in Oetz, die Frau Mühlpointner, […] Gott hab sie selig, die hat mir viel Brot gegeben und Butter, heimlich vor ihrem Mann. Weil der, der war ein bisschen, hat sich gefürchtet, wenn einmal etwas herauskommt. Aber zu ihr konnte ich immer kommen. Und da haben wir halt getauscht.“

Den Fleischbedarf für die Flüchtigen deckten die Familien mit gelegentlichem Schwarzschlachten und zwei der Deserteure, Georg Mair und Johann Maurer, passionierte Jäger, gingen regelmäßig wildern. Sie wichen dafür in das benachbarte Pitztal aus, um Konfrontationen mit dem lokalen Berufsjäger zu vermeiden. Das Fleisch kühlten sie in einem hölzernen, mit Wildhäuten ausgekleideten Tragekorb, den sie in einen Bach nahe am Versteck legten.

Auch für die Geschichte der Deserteure in Tumpen ist evident, dass sich lokale Gendarmen mit genauen Nachforschungen zurückhielten und die Deserteure tolerierten. Georg Mair berichtete, dass sie zwar mehrfach Almhütten kontrolliert, aber keine weiteren Maßnahmen ergriffen hätten. Seine Schwester Elisabeth überlieferte häufige Besuche von Gendarmen der nächstgelegenen Gendarmerieposten Umhausen und Ötz, die sie stets mit einer guten Jause bewirtet habe. Sie beschrieb sie als christlichsozial eingestellte Männer, die nie nach den Deserteuren gefragt hätten. Als stillschweigende Verbündete bezeichnete sie den Kommandanten des Gendarmeriepostens Ötz, Josef Viertler, und den Kommandanten des Gendarmeriepostens Umhausen, Johann Köll. Dass die Tumpener Deserteure sich in der Gegend versteckten, war den beiden bekannt. Bei zwei der Deserteure handelte es sich um Fritz und Adolf Josef Geiger, die Söhne des Sprengelarztes von Ötz, Adolf Geiger. Als Fritz Geiger, der während des Krieges ein Medizinstudium beendet hatte, im März 1945 von seinem Einsatzort als Truppenarzt der Luftwaffe in Wiener Neustadt die Frontabstellung drohte, flüchtete er ins Ötztal und schloss sich der Deserteursgruppe in Tumpen an. Unmittelbar nach Kriegsende, im Juli 1945, bewarb er sich bei der BH Imst um eine Stelle als Sprengelarzt im Ötztal. Josef Viertler, weiterhin Postenkommandant von Umhausen bestätigte der Sicherheitsdirektion Tirol auf Anfrage, dass es sich bei Geiger um einen Gegner der NSDAP handelte und führte an: „Der Gesuchsteller war etwa 4 Wochen fahnenflüchtig. Sein Aufenthaltsort war mir bekannt.“

 

Schreiben des Kommandanten des Gendarmeriepostens Umhausen Josef Viertler an die Tiroler Sicherheitsdirektion, 13. September 1945.  (Credit: © Tiroler Landesarchiv)

 

Ganz ähnlich positiv äußerte sich der Postenkommandant von Umhausen im Jahr 1946, Matthias Proll, über Elisabeth Mayr, als sie sich bei der BH Imst um einen Posten als Handarbeitslehrerin bewarb: „Sowohl sie als auch ihre Angehörigen waren als Gegner der NSDAP allgemein bekannt. Vor dem Zusammenbruch stand sie mit den Fahnenflüchtigen aus Tumpen in Verbindung und hat sie den Fahnenflüchtigen auch Lebensmittel überbracht, da ihr Bruder selbst bei diesen war.“

 

Unabhängig von der lokalen Gendarmerie kam es zu mindestens zwei Hausdurchsuchungen bei den Familien der Deserteure, die nach der Überlieferung der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen entweder von Soldaten, vermutlich einer in Umhausen stationierten SS-Einheit, durchgeführt wurden. Elisabeth Mair schilderte eine größere Suchaktion Anfang Februar 1945. Ihr sei von Viertler und Köll angedeutet worden, dass möglicherweise eine Razzia bevorstehe, da beide gleichzeitig zu einer Schulung nach Kühtai abgezogen wurden. Doch die Hausdurchsuchungen in Tumpen blieben trotz massiver Einschüchterung und Gewaltandrohung ergebnislos.

Das Versteck der Deserteur in den Schrofen oberhalb des Dorfes war so eingerichtet, dass direkte Sicht ins Dorf bestand. Georg Mair verständigte sich mit einem Freund im Dorf per Morsezeichen. Außerdem beobachtete er mit dem Fernglas, welche Wäsche seine Schwester im Garten aufhing. Rote Wäsche bedeutete Gefahr. Wiewohl auch die Deserteure in Tumpen bewaffnet waren und Georg Mair bei einem unvermuteten Zusammentreffen mit einem Förster die Waffe auf ihn richtete bis dieser floh, kam es auch in Tumpen zu keinen Schussgefechten. Offen traten die Deserteure erst kurz vor der Besetzung des Ötztals durch amerikanische Truppen auf. Dazu berichtete Georg Mair zwei Ereignisse: „Andererseits hat die SS noch in den letzten Tagen nach mir gefahndet, weil bei unserem Haus schon die rot-weiß-rote Fahne gehißt war. Sie wollten meinen Vater mitnehmen. Da haben sie dann aber unsere Gewehre auf sich gerichtet gesehen und sind wieder abgehaut.“

Bei Kriegsende bildete die Deserteursgruppe wohl den Kern einer nach Angaben der Gendarmerie Umhausen 80 Mann starken „Österreichischen Widerstandsbewegung“. Aufgestellt wurde sie vom Kommandanten des Postens am 3. Mai 1945, kurz nachdem der Radiosender Innsbruck die „Kapitulation der Süd-Armee“ gemeldet hatte. Sie übernahm die Sicherung des Ortes, sammelte die Waffen von Angehörigen der Wehrmacht und der Luftwaffe ein und nahm acht Offiziere und Soldaten der Waffen-SS fest. Eine größere Zahl von SS-Männern hatte zuvor die Flucht ergriffen. Georg Mair berichtete dazu: „So habe ich beim Kriegsende 32 SS-Männer, die sich im Gasthaus ‚Acherkogel‘ aufhielten, damit eingeschüchtert, daß ich behauptete, das Haus sei von Partisanen umstellt. Ich habe gesagt: ‚Beim ersten Schuss wird alles niedergemacht!‘ Darauf haben sich alle ergeben, und wir haben einen ganzen Handwagen voll Waffen beschlagnahmt. Mich haben sie den ‚bartigen Partisanen‘ genannt.“

Abgesehen von dieser Einschüchterung bezeichneten sich die Deserteure von Tumpen und aus anderen Ortsteilen der Gemeinde Umhausen selbst nicht als „Partisanen“. Um die Zeit ihrer Flucht aus dem Krieg zu benennen, verwendeten sie die Wendung, sie seien „im Versteck“ oder „am Berg“ gewesen. Über Kontakte zu Deserteurs- oder Widerstandsgruppen außerhalb von Umhausen, gar nach Innsbruck, verfügten sie bis Ende April 1945 nicht. Keiner der Deserteure von Tumpen – es gab noch weitere kleinere Gruppen, die sich in den Bergen versteckten – wurde festgenommen. Die gemeinsame Zeit im Untergrund schweißte die Flüchtlinge zusammen. In der Nachkriegszeit ließen sie nichts über ihre Entscheidung, der Wehrmacht den Rücken zu kehren, kommen. „Bei uns im Dorf hat es einige Nazis gegeben, die waren fanatisch, aber es hat sich nach dem Krieg keiner von denen getraut, etwas zu mir zu sagen. Die haben genau gewußt, ich hätte das nicht hingenommen“, so Alois Mair 1994. Er selbst habe niemanden verdammt.

Auf die Frage, ob die Geschichte der Deserteure und ihrer Helferinnen veröffentlicht werden soll, sagte die heute 83-jährige Elisabeth Frischmann, die viele Jahre als Volksschullehrerin und Chronistin in ihrer Heimatgemeinde tätig gewesen ist: „Ja unbedingt. Es ist wichtig zu wissen, dass es Menschen gegeben hat, die sich gegen die Nationalsozialisten gewehrt und sich behauptet haben.“ Der Rettungswiderstand von Frauen wie Johanna Auderer, Berta Maurer und Elisabeth Mair (verh. Sam) ist ein Kapitel der Tiroler Zeitgeschichte, das erst geschrieben wird.

Text: Peter Pirker

 

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