„Ich bin kein Kanonenfutter“. Diesen Satz seines Vaters Albert prägte sich Karl Polanc aus Tosters bei Feldkirch ein. Oft habe er ihm die Geschichte seiner Desertion in die Schweiz und jene der ebenso illegalen Rückkehr nach Vorarlberg noch vor Kriegsende erzählt. Nicht alle Deserteure schwiegen gegenüber ihren Familienangehörigen und Nachkommen über ihr Verhalten und ihre Entscheidungen, wenn die Sprache auf den Zweiten Weltkrieg kam. Albert Polanc erklärte seinem Sohn genau, warum und wie er sich dem Kriegsdienst entzogen hatte. Er zeigte ihm sogar die Stellen seiner Fluchten, Richtung Schweiz am Alten Rhein in Hohenems im Oktober 1944, dort wo sich heute das Freischwimmbad Rheinauen befindet und retour aus dem Internierungslager in Luzern über den Rhein bei Buchs und weiter über den Sarojasattel ins Saminatal nach Frastanz.
Das Schweizer Bundesarchiv verwahrt in einem Dossier zu Albert Polanc dessen Soldbuch, wodurch sich die Wehrmachtskarriere und die Desertion in Grundzügen nachvollziehen lassen. Albert Polanc kam im April 1913 zur Welt, als erster Sohn des aus Lees in Krain (heute Lesce, Slowenien) zugewanderten slowenischsprachigen Sargschreiners Bartholomäus Polanc, der die wohlhabende Josefa Marxer aus Nendeln in Liechtenstein geheiratet hatte. Das katholisch-konservative Ehepaar lebte in der Vorstadt 13 in Feldkirch; es gab bereits die zwei Jahre ältere Tochter Hilda, vier Jahr später folgte noch ein weiterer Sohn, Karl. Albert arbeitete nach der Volksschule als Hauswart und Kellner unter anderem in der Schweiz und in Frankreich, war sportlich und ein ausgezeichneter Skifahrer. Nach dem Angriff Deutschlands auf Polen wurden Albert und Karl zur Wehrmacht eingezogen. Dem Soldbuch zufolge kam Albert zum Gebirgsjäger-Ersatz-Regiment 136 nach Landeck. Karl fiel als einer der ersten Feldkircher Soldaten bereits 1941, ein Ereignis, das bei Albert tiefe Spuren hinterließ. In dieser Zeit, nach dem Tod seines Bruders, habe sich in ihm „ein unglaublicher Hass gegen das Nazi Regime“ gebildet, berichtete dessen Sohn Karl, der den Namen seines gefallenen Onkels trägt.

Die Kriegseinsätze von Albert Polanc lassen sich nur rudimentär rekonstruieren. Er diente zunächst als Gefreiter im Infanterie-Regiment 499, das nach dem Überfall auf Jugoslawien von Bludenz nach Laak an der Zajer (Škofja Loka) im slowenischen Oberkrain verlegt wurde. Als die Wehrmacht am 22. Juni 1941 von Polen aus die Sowjetunion angriff, befand er sich in einer Einheit der 268. Infanterie-Division, die in Polen stationiert war. Am ersten Tag des Angriffs erlitt er eine schwere Verletzung am Unterschenkel und kam bis Ende August in verschiedene Lazarette in Polen und Deutschland, schließlich zu einem Genesungsurlaub nach Hause. Einträge im Soldbuch verweisen darauf, dass er ab 1942 wieder in Slowenien beim Jäger-Ersatz-Bataillon 499 eingesetzt wurde, zur Bekämpfung der Partisanen. Davon erzählte er später seinem Sohn: „Der Partisanenkrieg war grausam, vor dem hat er Angst gehabt. Immer wieder Überfälle und Schießereien, also vor den jugoslawischen Partisanen hat er Angst gehabt, weil er wusste, dass die Slowenen, Jugoslawen, Bosnier relativ kaltschnäuzig sind, gerade im Krieg. Von dem hat er mir viel erzählt.“ 1943/44 erlitt Albert Polanc jedenfalls eine oder mehrere weitere Verwundungen oder Erkrankungen, das belegen Einträge von Lazarettaufenthalten u. a. in Feldkirch, ein Aufenthalt in häuslicher Pflege und ein Genesungsurlaub im Juni 1944, von dem er noch einmal zum Genesenden-Auffangstab nach Graz einrückte. Im Oktober 1944 gelang es ihm, einen einwöchigen Sonderurlaub nach Feldkirch zu erwirken, sehr wahrscheinlich vor einer anstehenden Abstellung zu seiner Feldeinheit in Jugoslawien. Diesen Sonderurlaub nutzte er für die Flucht in die Schweiz.

Karl Polanc erinnert sich an Erzählungen seines Vaters, wonach er gemeinsam mit einem Freund aus Feldkirch, der sich ebenfalls auf Heimaturlaub befand, eine geeignete Stelle am Alten Rhein in Hohenems an der Grenze zu Diepoldsau auskundschaftete. Die beiden kalkulierten den Ablauf der Kontrollgänge der Grenzwächter am Rheindamm zwischen dem Zollhaus Hohenems und dem südlichen Ende des Altarms. Als die beiden Patrouillen weit voneinander entfernt waren, stiegen sie ins Wasser. Dennoch wurden sie bemerkt und die Grenzwächter eröffneten das Feuer: „Mein Vater war ein guter Schwimmer, er erzählte mir dass er dem Kugelhagel nur durch Tauchen mit Gepäck auf dem Rücken entgangen ist. Auf der anderen Seite in der Schweiz sind beide komplett nass in ein Gasthaus eingetreten. Dort seien sie gut behandelt worden. Dann kam die Fremdenpolizei und beide wurden in einem Lager in der Nähe von Luzern interniert.“

Die Schweizer Polizei- und Militärbehörden internierten Deserteure ab dem Jahr 1942 in Arbeitslager, die Haftanstalten angeschlossen waren. Sie betrachteten die Flüchtlinge mit Misstrauen und zum Teil als Gefahr für die innere Sicherheit. Jedenfalls entstand bei vielen Deserteuren, die sich in der Schweiz ein freies Leben erhofften, schwere Enttäuschung über die Internierung und den Lagerzwang. Wo Albert Polanc interniert wurde, geht aus seinem Schweizer Dossier nicht hervor. Aber in der Literatur findet sich ein Hinweis auf die Haftanstalt Sedel bei Luzern, wo auch Deserteure angehalten wurden.
Karl Polanc berichtet, dass seinem Vater „das Lagerleben irgendwann zu viel wurde und er zurück nach Feldkirch flüchten wollte“. Gemeinsam mit einem anderen Deserteur aus Fellengatter schlug er sich nach Buchs an der Grenze zu Liechtenstein durch, um den Rhein zu überschwimmen. „Mein Vater hat mir die Stelle gezeigt, wo sie um die Mittagszeit über den Rhein geschwommen sind. Offensichtlich wurden sie weit abgetrieben. Wieder mit Gepäck auf dem Rücken schwamm mein Vater voraus und erreichte auch das Ufer. Sein Freund jedoch konnte nicht mehr. Mein Vater steckte dem ertrinkenden Freund ein langes Treibholz zu, das zwischen den Steinen war. Sie schafften es.“

Flugbild von der Fluchtroute von Schaan über den Sarojasattel in das Saminatal mit Beschriftung von Karl Polanc (Credit: © Karl Polanc)
Anlaufstation auf der anderen Seite des Ufers war eine Verwandte in Schaan, bei der sie die Nacht abwarteten. Im Dunklen stiegen sie auf den Sarojasattel und überquerten dort nach Beobachtung der Patrouillen die Grenze zum Deutschen Reich, um in das Saminatal nach Frastanz abzusteigen. „Auf halber Höhe wurden sie wieder von Grenzwachbeamten entdeckt. Die Flucht muss dann wirklich abenteuerlich gewesen sein. Ich erinnere mich gut wie mein Vater erzählte: ‚Im dunklen Wald rannten wir abwärts, einmal waren wir vorne, einmal der Rucksack.‘ Die Grenzer schossen einfach in Richtung der abwärts Stürmenden. Sie entkamen und versteckten sich bei einem Bauern in Mariagrün, den sie kannten, im Heu. Nach Tagen des Wartens schlich mein Vater in der Nacht nach Feldkirch in die Vorstadt 13 und machte sich unter dem Fenster der Schwester mit Zizibe-Pfiffen, so ruft eine Meise, bemerkbar. Die Freude des Wiedersehens sei groß gewesen.“ Wie in vielen anderen Fällen von versteckten Deserteuren sorgten seine Mutter Josefa und seine Schwester Hilda in den folgenden Wochen bis zum Kriegsende für die Verpflegung. Karl Polanc: „Sie machten dann oft unauffällige Spaziergänge nach Mariagrün und deponierten Essen an abgemachten Punkten. Diese Situation stand er dann bis Kriegsende durch. Im Jahr 1952 heiratete er und als ich dann am 11. Mai 1956 zur Welt kam, war klar, dass ich den Namen Karl erhalte, wie sein Bruder, der für diesen Wahnsinn das Leben lassen musste. Ja – früher hat es schon auch ‚coole‘ Erscheinungen gegeben, nicht nur heute.“


Nach 1945 arbeitete Albert Polanc zunächst als Skilehrer und Hauswart in Zürs am Arlberg, dann als Maler bei einer Firma in Schaan in Liechtenstein, in den 1960er-Jahren betrieb er Tankstellen, zuerst in Nenzing, dann in Tisis. Zuletzt war er als Gerichtsvollzieher beim Landesgericht Feldkirch beschäftigt. Karl Polanc beschreibt seine Eltern als fleißig, ausdauernd und sparsam – den Bau des Einfamilienhauses, in dem er heute lebt, hätten sie über Jahre hinweg aus Ersparnissen finanziert, sein Vater habe es vom Aushub bis zum Dach mit seinen eigenen Händen errichtet. Abseits der Arbeit zeichnet er das Bild von einem abgebrühten Draufgänger, der im Rhein und in der Ill paddelte, Bergtouren unternahm und rasant Ski fuhr, daraus aber kein Aufheben machte. Psychisch belastet hätten ihn die Erlebnisse auf der Flucht im späteren Leben nicht. An Parteipolitik sei er nicht interessiert gewesen, wenngleich er das Zeitgeschehen aufmerksam und täglich verfolgte.
Manchmal fliegt Karl Polanc mit dem Drachenflieger die Fluchtrouten seines Vaters ab, er gleitet über dem Alten Rhein bei Hohenems und den Sarojasattel bei den Drei Schwestern. Welche Bedeutung diese Landschaften für ihn haben, ist aus seinen Erzählungen und Berichten zu spüren.
Text: Peter Pirker