Am Mittwoch, den 4. Dezember 1940, gegen 22 Uhr hielten die Hilfszollassistenten Vonbun und Breuss in der Nähe der Ortschaft Fellengatter bei Feldkirch zwei junge Männer an. Etwa 800 Meter von der Grenze des Deutschen Reiches zu Liechtenstein entfernt, versuchten die beiden sich gerade an einer Wegkreuzung zu orientieren. Auf Befragung erklärten die Burschen den Grenzbewachern, bloß eine Tour auf die Drei Schwestern, einem Berg im nördlichen Rätikon, unternehmen zu wollen. Doch Vonbun und Breuss glaubten ihnen nicht und nahmen sie wegen Verdachts auf unerlaubten Grenzübertritt fest, eskortierten sie in das Gefangenenhaus Feldkirch und stellten sie dem Grenzpolizeiposten Feldkirch, einer Außenstelle der Geheimen Staatspolizei Innsbruck, zur Verfügung. Die Festgenommenen hießen Herbert Kleiser und Karl Steffek, waren 18 Jahre alt und stammten aus dem mehr als 600 Kilometer entfernten Wiener Arbeiterbezirk Favoriten. Kleiser hatte dort zuletzt als Kanzleikraft gearbeitet, Steffek hatte sich seinen Lebensunterhalt als Hilfsarbeiter in einer Kupferschmiede und in einer Keramikfabrik verdient, bevor er 1940 in eine Maturaschule eingetreten war.
Bereits am Tag nach der Festnahme vernahm sie ein Gestapobeamter. Sehr rasch gaben sie zu, „dass sie sich auf Umwegen nach Liechtenstein, bzw. nach der Schweiz begeben wollten, da sie für die Ableistung der Arbeitsdienst- sowie der Wehrpflicht kein Interesse hätten.“ Das Protokoll des Verhörs befindet sich in einem Akt des Sondergerichts Feldkirch, der im Vorarlberger Landesarchiv verwahrt wird. Die Gestapo zeigte die beiden am 6. Dezember „wegen versuchten unerlaubten Grenzübertritts und vorsätzlicher Entziehung von der Arbeitsdienst- bzw. Wehrpflicht“ bei der Staatsanwaltschaft Feldkirch an. Der Ermittlungsrichter führte eine weitere Vernehmung durch und verfasste darauf basierend die Anklageschrift. Beiden wurde das Verbrechen der „Wehrkraftzersetzung“ nach § 5 der 1939 erlassenen Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO) vorgeworfen, genauer: Wehrdienstentziehung nach Absatz 1, Zahl 3 dieses Paragrafen, der eines der radikalsten Instrumente der NS-Justiz zur Bekämpfung jeder „Störung oder Beeinträchtigung der totalen völkischen Einsatzbereitschaft zur Erringung des Endsieges in diesem Kriege“ wurde, wie es die Reichskriegsanwaltschaft 1939 formulierte. Als Strafmaß war die Todesstrafe vorgesehen. Auch auf Zivilisten wie Herbert Kleiser und Karl Steffek zielte die KSSVO. Überall im Deutschen Reich wurden zur Ahndung so genannte Sondergerichte eingeführt, die Prozesse rasch durchführen und drakonische Strafen aussprechen sollten. Die Rechte der Angeklagten waren stark eingeschränkt.
Einen Monat nach der Festnahme standen Kleiser und Steffek vor dem Sondergericht Feldkirch. Nach nur 30 Minuten Verhandlung – einen Verteidiger gab es nicht – fällte der Richter, Landgerichtspräsident Heinrich Eccher, das Urteil. Die beiden Unbescholtenen erhielten wegen des Verbrechens der Zersetzung der Wehrkraft und des Vergehens gegen die Passstrafenverordnung jeweils eine Strafe von acht Jahren Zuchthaus. Eccher begründete das Urteil unter anderem mit dem Kalkül der Angeklagten, „[…] dass sie ihren Plan wiederholt besprochen und verabredet hatten, Kleiser besaß auch eine Landkarte von Vorarlberg und beide hofften, in der Annahme, dass die Grenze nicht allzu stark bewacht sei, ohne Schwierigkeiten in das Ausland zu gelangen.“ Der Ankläger Anton Heim hatte sogar eine Strafe von zehn Jahren Zuchthaus verlangt. Eccher begründete das mildere Urteil so: „[…] ein sittlicher Ernst, eine Charakterfestigkeit, eine jugendliche Begeisterung für die Heldentaten der Wehrmacht, für das neue Reich traten bei den Angeklagten nicht in Erscheinung. Zum Teil mag dies darauf zurückzuführen sein, dass die Angeklagten zur Zeit des Umbruches der Schule bereits entwachsen waren und sich keiner NS-Gliederung und Organisation angeschlossen hatten und in Wien lebten, wo bis zum Umbruch in den Kreisen der Arbeiter und kleinen Angestellten der Hass gegen den Nationalsozialismus und gegen Großdeutschland gepflegt wurde.“

Herbert Kleiser hatte erst wenige Tage vor der Flucht in Wien die Musterung zur Wehrmacht absolviert, Karl Steffek hatte die Vorladung dazu gerade erst erhalten. Tatsächlich waren beide politische Gegner des Nationalsozialismus, wie aus den Akten der Opferfürsorge von 1949 bzw. 1953 (verwahrt im Wiener Stadt- und Landesarchiv) hervorgeht. Karl Steffek war Mitglied des illegalen Kommunistischen Jugendverbandes. Herbert Kleiser war von seiner Arbeitgeberin Käte Mandl, die das „Arische Inkassobüro“ betrieb, im März 1939 fristlos entlassen worden, mit der Begründung, er sei ein „überzeugter Kommunist“. Mandl hatte das Inkassobüro eines Wiener Juden übernommen, der von den Nazis vertrieben worden war. Beide Burschen lehnten es ab, für die deutsche Wehrmacht zu kämpfen. Das Studium einer Landkarte Vorarlbergs hatte sie überzeugt, dort einen Weg über die Berge nach Liechtenstein und weiter in die Schweiz zu finden, um dem Kriegsdienst in der Wehrmacht zu entgehen.
Die Bestimmungen zum Strafvollzug sahen vor, dass die Strafzeit erst nach Kriegsende zu zählen begann und nach Verbüßung der Zuchthausstrafe die Rücküberstellung an die Gestapo Feldkirch erfolgten sollte. Für die Zeit bis Kriegsende galten Steffek und Kleiser nun als wehrunwürdige Strafgefangene. Am 17. Jänner 1941 wurden die beiden vom Gefangenenhaus Feldkirch mit einem Sammeltransport in das Strafgefängnis Lingen in Norddeutschland und von dort in das Straflager Walchum im Emsland deportiert, von wo sie nach einigen Monaten für mehr als drei Jahre in das Strafgefangenenlager Rodgau-Dieburg in Hessen kamen. Dort wurden sie zu schwerer Zwangsarbeit bei Regulierungsarbeiten herangezogen. Ziel war die maximale Ausbeutung ihrer Arbeitskraft, beide waren als politische Häftlinge kategorisiert. Karl Steffek wies die Gestapo Frankfurt 1944 außerdem für einige Zeit in das KZ Buchenwald ein.
Im September 1944, als die Wehrmacht an allen Kriegsfronten schwere Verluste erlitten hatte und neues „Menschenmaterial“ für die Kriegsführung benötigte, wurden die beiden wie viele andere politische Häftlinge begnadigt und der Wehrmacht zur Verfügung gestellt. Beide überlebten den aufgezwungenen Kriegsdienst im Bewährungsbataillon 999, vermutlich an der Westfront.
Nach dem Zusammenbruch der Wehrmacht und der Befreiung vom Nationalsozialismus am 8. Mai 1945 lösten die Alliierten die NS-Justiz auf. Das Aufhebungs- und Einstellungsgesetz der Republik Österreich vom 3. Juli 1945 bildete die Grundlage für den Beschluss des Landesgerichts Feldkirch vom 12. Februar 1946, dass die Verurteilung wegen Wehrkraftzersetzung nach dem § 5 der KSSVO als „nicht erfolgt“ und die Verurteilung nach der Passstrafenverordnung als „getilgt“ galt. Damit waren die beiden wieder unbescholtene Bürger.
Auf Entschädigung für die Zwangsarbeit während der Haft mussten sie einige Jahre warten. Das Amt der Wiener Landesregierung anerkannte Karl Steffek im Jahr 1949 und Herbert Kleiser im Jahr 1953 schließlich als „Opfer des Kampfes um ein freies demokratisches Österreich“ und sprach ihnen eine Entschädigung für die erlittene Haft zu.
Der Richter Heinrich Eccher, der sie verurteilt hatte, war seit 1933 Mitglied der NSDAP gewesen. In seiner Funktion als Präsident des Landgerichts Feldkirch und Vorsitzender des Sondergerichts Feldkirch fällte er mindestens zehn Todesurteile, sechs davon wegen geringfügiger Eigentumsdelikte, nachdem er die Angeklagten als „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ im Sinne der NS-Justiz identifiziert hatte. Er wurde im Mai 1945 seines Postens enthoben, war etwa ein Jahr in Haft, bevor er 1947 als Richter in den Ruhestand versetzt wurde. Im selben Jahr erhielt er die Zulassung als Notar und als Verteidiger in Strafsachen, 1950 durfte er wieder als Rechtsanwalt tätig werden.
Text: Peter Pirker