Seitdem die Blitzkrieg-Strategie der Wehrmacht im Herbst 1941 vor Moskau gescheitert war, drängte die von den USA massiv mit Kriegsmaterial unterstützte Rote Armee die deutschen Verbände stetig zurück, während Partisanengruppen in Russland, Weißrussland und der Ukraine die deutschen Nachschublinien im Rücken der Frontverbände unnachgiebig attackierten. Anfang Juli 1943 versuchte die Heeresgruppe Mitte in Orel eine große Gegenoffensive in Richtung der Stadt Kursk, um den Vormarsch der Roten Armee zum Stillstand zu bringen. Doch das Unternehmen „Zitadelle“ scheiterte nach zwei Wochen und die Rote Armee antwortete sogleich mit einer Offensive, der die deutschen Truppen nur mehr wenig entgegensetzen konnten.
Das Desaster der Kriegsführung Hitlers in Osteuropa im Frühjahr und Sommer 1943 spürte Georg Mair an seinem eigenen Leib – und er versuchte sein Leben zu retten. Georg Mair, Steinmetz, Bauer und Jäger, zu diesem Zeitpunkt 29 Jahre alt, seit November 1941 zunächst in Slowenien und ab August 1942 durchgehend an der Ostfront im Kriegseinsatz, hatte dort nach wenigen Wochen eine Granatsplitterverletzung und im März 1943 Durchschüsse an Oberarm und Oberschenkel erlitten. Kaum genesen wurde er wieder an die Front geschickt. Georg Mair stammte aus einer katholischen Bauernfamilie mit einem kleinen Besitz und war ein erfahrener Soldat. Er wollte am Irrsinn der deutschen Kriegsführung, wie er in einem Interview im Jahr 1994 berichtete, nicht mehr länger teilhaben: „Es war am 2. August 1943, da bin ich nach Rußland zurückgeschickt worden. Nach drei Tagen bin ich abgehaut. Ein jeder hätte das nicht gewagt, aber es war sowieso egal. Damals waren wir in schwere Kämpfe verwickelt. Was an Soldaten als Ersatz gekommen ist, die hat man gar nicht mehr kennengelernt, so schnell sind sie gefallen, waren tot oder verwundet.“
Mair überlegte sich eine List, um dem Fronteinsatz unversehrt zu entkommen: „Ich habe mich einen Kameraden anvertraut. Wir haben ausgemacht, daß er zweimal schießen soll, damit er melden kann, ich sei gefallen. Mir war es egal, ob ich dann gefaßt werde, denn tot war ich jedenfalls: durch den Krieg oder durch die Nazis.“ Georg Mair machte sich entlang von Schienen zu Fuß auf den Weg Richtung Westen, besorgte sich im Hinterland der Front – wieder mit List – einen Urlaubsschein, sodass er große Strecken mit dem Zug fahren konnte. Nach acht Tagen traf er in Innsbruck ein. In Silz sprang er aus dem Zug und legte die letzten Kilometer zu Fuß zurück: „Bei Vollmond bin ich […] nach Tumpen. Den Acherkogel im Mondschein hätte ich umarmen können. Hier war alles so ruhig, und dort [an der Front] war so viel Unruhe.“

Zu Hause weihte Georg Mair seine Eltern und seine Schwestern Elisabeth und Berta in seine Entscheidung ein. Sie bestärkten ihn, sich dem vorgezeichneten Tod auf dem Schlachtfeld zu entziehen. Den zweiten älteren Sohn hatte die Familie bereits verloren: Georgs Bruder war zum Grenzschutz eingezogen und während des Dienstes am Timmelsjoch von einer Lawine verschüttet worden. Die jüngste, damals noch zu Hause lebende und ledige Schwester Elisabeth schilderte die Denkweise ihrer Familie 1983 in einem Interview: „Mein Vater war ein arger Patriot. Und das ist auch auf uns Junge übergegangen. Und dann haben die Buben einrücken müssen. Und man ist bei uns halt einfach dagegen gewesen, mit Haut und Haaren, weil man das nicht wollte. Und dann ist eben der Bruder verunglückt und wir haben den Entschluss gefasst, ich und der Vater, also wenn […] der zweite Bruder heimkommt, der geht nicht mehr. […] Und ja, das war bei uns selbstverständlich, dass er einfach nicht mehr geht. […] Und dann hat man halt in der Zeit, wo er da war, ein bisschen ausgekundschaftet am Berg, wo kann man sich ansässig machen […]. Man muss zum Haus sehen, man muss wissen, was unten geschieht […]. Und der Vater und der Bruder zusammen, die haben einen Platz ausgeklügelt.“

Zur Verschleierung der Flucht inszenierte die Familie am Ende des vorgetäuschten Urlaubs den Abschied. Gemeinsam mit seiner Schwester Elisabeth fuhr Alois Mair mit dem Fahrrad Richtung Ötztal Bahnhof. Doch unterwegs schlugen sie sich in einen Jungwald und Elisabeth kehrte abends alleine mit den beiden Fahrrädern zurück. Monatelang bemerkten die Fronttruppen das Fehlen Georg Mairs nicht, denn seine Einheit existierte nicht mehr. Erst im März 1944 stellte die Wehrmacht Nachforschungen an. Aus Tumpen kam die Nachricht, dass Georg Mair gefallen sei. Am 11. April 1944 schrieb der Bürgermeister von Umhausen an das Wehrmeldeamt Landeck, „dass Mair im September 1943 zu Hause in Urlaub war, zu rechter Zeit von Umhausen-Tumpen fort und bei der Einheit nicht eingetroffen“ sei. Und weiter: „Was mit Mair ist, ob irgend am Transport zugrunde gegangen oder sonst etwas weiss niemand. Ist seit der Zeit verschollen.“

Georg Mair desertierte – und blieb nicht allein. Seine Familie stand bedingungslos hinter ihm. Außerdem desertierte zu dieser Zeit sein Schwager Otto Maurer, 39 Jahre alt, ebenfalls Bauer in Tumpen. Die beiden können als Avantgardisten bezeichnet werden, denn ihrem Beispiel folgten bis Kriegsende etwa ein Dutzend weitere Männer – Cousins, andere Verwandte und Bekannte aus der Umgebung –, die den Kriegsdienst früher oder später verweigerten. Sie bildeten eine der größten Deserteursgruppen in den Alpengauen und Südtirol. Alle überlebten und auch von ihren Helferinnen und Helfern oder Angehörigen wurde niemand festgenommen.
Text: Peter Pirker