„Der entscheidende Augenblick rückt näher und näher. Der Zeiger geht auf sechs Uhr 45“, so beginnt Rudolf Bilgeri die Schilderung seiner Flucht zu den Partisan*innen in Athen. Sie glückte im September 1944.
Rudolf Bilger stammte aus Hohenems in Vorarlberg, er war 38 Jahre alt, Hauptschullehrer, Ehemann und Vater zweier Kinder. Mitte 1943 wurde er zur Wehrmacht eingezogen und zu Nachrichtendienststellen nach Griechenland geschickt. Zunächst war er in Saloniki stationiert, dann in Vyronas, einem Stadtteil von Athen. Als technischer Zeichner fertigte er Schaltpläne für das Kommunikationssystem der deutschen Verteidigungsanlagen an der Küste an. Bei seiner Einheit handelte es sich um eine kleine technische Truppe mit vier Offizieren, sieben Unteroffizieren und zwanzig Mannschaftssoldaten. Fotografien zeigen Bilgeri, wie er im Hafen von Saloniki und bei Besuchen der antiken Sehenswürdigkeiten in Athen posiert – er verhielt sich in dieser Hinsicht wie die meisten deutschen Soldaten auch. Doch Bilgeri war die deutsche Uniform „verhasst“, wie in seinem Tagebuch nachzulesen ist. Er wollte weder für Hitler töten, noch für ihn sterben. Genau das stand Bilgeri aber bevor, denn seine Einheit sollte sich bald auf den Rückzug nach Jugoslawien begeben, wo sie auf die Partisanenbewegung und die Rote Armee treffen würde.

Im August 1944 fasste er gemeinsam mit seinem Freund Toni Müller und einem weiteren Kameraden den Entschluss, der Wehrmacht den Rücken zu kehren und gut vorbereitet zu den Partisan*innen in Athen überzulaufen. Darin sahen sie die größte Chance, den Krieg zu überleben und zu ihren Familien zurückkehren zu können. Die drei Soldaten waren bereit, „Fahnenflucht“ zu begehen, ein Delikt, auf das in der Wehrmacht grundsätzlich die Todesstrafe stand, insbesondere wenn sie ins Ausland, zum Feind oder eben zu Partisan*innen führte.
Am 3. September 1944, einem Sonntag, verschwanden sie aus dem stattlichen Gebäude ihrer Dienststelle in Vyronas und vertrauten sich einer Partisanengruppe der ELAS an, wie der bewaffnete Arm der großen griechischen Volksbefreiungsbewegung EAM hieß. Sie brachten den Partisan*innen auch Waffen und Munition, die sie ihrer Einheit entwendet hatten. Am selben Tag entledigte sich Bilgeri der „verhaßten Uniform“ und schlüpfte in Zivilkleider, die ihm von der ELAS zur Verfügung gestellt wurden.
Die Deserteure bewerkstelligten ihre Verwandlung von Soldaten der Besatzungsmacht zu Schützlingen der Partisan*innen mit Hilfe der jungen griechischen Dolmetscherin Dina, die in Bilgeris Nachrichtendienststelle beschäftigt und zugleich eine der vielen jungen Aktivist*innen der ELAS war. Mit den Szenen der Vorbereitung und der Flucht beginnen die „Tagebuchblätter“, wie Rudolf Bilgeri seine Aufzeichnungen betitelte, die er während der Gefangenschaft bei der britischen Armee zwischen Dezember 1944 und Dezember 1946 in Ägypten verfasste. Er schuf damit eine außergewöhnliche Quelle über die Schlussphase der deutschen Herrschaft in Griechenland, die Tragik des Partisanenkampfes, über Kriegsgefangenschaft und Heimkehr.
Die Tagebuchblätter, in denen er sein widerständiges und waghalsiges Unternehmen sowie die Kriegsgefangenschaft in Ägypten schildert, lagen 75 Jahre im Schoß seiner Familie in Hohenems, solange sie lebte, verwahrt von seiner Ehefrau Ida (1912–2012), die in das Desertionsvorhaben eingeweiht war und die NS-Behörden in Vorarlberg über das Verschwinden Rudolfs zu täuschen versuchte. Im November 2019 begann am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck ein Forschungsprojekt, das sich mit der Geschichte der abtrünnigen Soldaten im Zweiten Weltkrieg aus Tirol und Vorarlberg befasste. Bereits die erste Durchsicht der Aufzeichnungen Bilgeris offenbarte, dass es sich um eine besondere historische Quelle handelte. Sie dokumentieren eine ungewöhnliche Kriegsbiografie – die Desertion eines katholischen Wehrmachtssoldaten zu den kommunistischen Stadtpartisan*innen in Athen.
Mit Einverständnis der Familie wurden die Tagebuchblätter zunächst im Rahmen einer Lehrveranstaltung am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck verwendet, um Studierende mit der Transkription, der äußeren und inneren Quellenkritik, also einer Überprüfung auf Authentizität, Kohärenz, Stimmigkeit von Zeit- und Ortsangaben und der Einschätzung der Bedeutung der Quelle und ihrer wissenschaftlichen Erkenntnischancen zu befassen. Diese Arbeit haben Lena Fohrer, Michael Ganahl, Eva Haslinger, Hannah Schrott und Sebastian Staudacher mit viel Engagement durchgeführt und damit einen wesentlichen Beitrag zu dieser Publikation geleistet.

Rudolf Bilgeri schildert im Tagebuch seine Verwandlung vom privilegierten Besatzungssoldaten zum Gejagten, der die Not der Bevölkerung teilt und von ihrer Hilfe abhängig ist. Seine Eindrücke und Erfahrungen waren ambivalent. Einerseits verstand er sich nun selbst als Partisan, andererseits blieb ihm die politische Orientierung der ELAS fremd und die Beteiligung der Frauen am bewaffneten Kampf löste gemischte Gefühle aus. Um weitere Perspektiven auf das Geschehen zu erhalten, ersuchten wir den griechischen Historiker Iason Chandrinos, die Situation der Bevölkerung von Athen während der deutschen Besatzungsherrschaft, an der viele Österreicher beteiligt waren, ebenso zu beleuchten wie den Widerstand der Partisan*innen. Reinhold Bilgeri steuerte Erinnerungen an seinen Vater Rudolf bei.
Text: Peter Pirker