"Im Grunde lieber locker"
Hans Blumenberg alias Axel Colly: Frühe Feuilletons (1952-1955). Hrsg. von Alexander Schmitz und Bernd Stiegler. In: Neue Rundschau. Frankfurt/Main: S. Fischer, Jg. 129 (2018), Nr. 4. ISBN: 78-3-10-809116-3. Preis [A]: 15,50 €
Aus dem Nachlass des Philosophen Hans Blumenberg schält sich der Feuilletonist Hans Blumenberg erst allmählich heraus. Bereits in den 2017 erschienenen Schriften zur Literatur waren Feuilletontexte und Literaturkritiken enthalten. Sie verweisen auf eine Lebensphase, in der Blumenberg noch Privatdozent und ambitioniert als nebenberuflicher Feuilletonautor aktiv war. 1950, mit Dreißig, schloss Blumenberg seine Habilitation ab, 1958 trat er seine erste (außerordentliche) Professur in Hamburg an. Bis dahin schrieb er rege Artikel für die Düsseldorfer Nachrichten, die Bremer Nachrichten und die Süddeutsche Zeitung sowie die Zeitschrift Hochland.
Für die Neue Rundschau haben die beiden Konstanzer Literaturwissenschaftler Alexander Schmitz und Bernd Stiegler, die schon Blumenbergs Schriften zur Literatur und Schriften zur Technik herausgegeben haben, Hintergründe zu Hans Blumenberg als Feuilletonist zusammengetragen. Die Neue Rundschau druckt auch 27 seiner Frühen Feuilletons. Wie viele Feuilleton-Artikel von Blumenberg insgesamt identifiziert und registriert sind, führen die Herausgeber leider nicht aus. Die Möglichkeit zur Mehrfachverwertung aller seiner Artikel hatte sich der Privatdozent jedenfalls ausbedungen, denn das Zeilenhonorar der Düsseldorfer Nachrichten fiel mit 40 Pfennig spärlich aus.
Der Draht ins Feuilleton
Basierend auf Blumenbergs unpubliziertem Briefwechsel mit Alfons Neukirchen, einem leitenden Feuilletonredakteur der Düsseldorfer Nachrichten, legen Schmitz und Stiegler erstmals die genaueren Umstände dar, unter denen Blumenberg im kulturjournalistischen Feld tätig wurde.[1] Demnach war er seit mindestens 1951 mit Neukirchen befreundet. Dieser wiederum war seit August 1952 bei den Düsseldorfer Nachrichten beschäftigt. Gleich am zweiten Tag nach Eintritt in die Feuilletonredaktion lud er Blumenberg zur Mitarbeit ein.
Die Zusammenarbeit hatte von 1953 bis 1955 Bestand und deckt sich mit der Phase, in der Neukirchen die faktische Möglichkeit hatte, Blumenberg als Autor zu beschäftigen. Das sollte sich bald ändern und dürfte zum bitteren Ende der Zusammenarbeit beigetragen haben.[2] Als Neukirchen Ende 1956 einen Essay anfragt, reagiert Blumenberg ablehnend, erwähnt zwei frühere Manuskripte, die „sang- und klanglos unter den Tisch fielen, ohne daß mir auch nur eine ausgleichende Regelung vorgeschlagen worden wäre“. Das Ende der Zusammenarbeit mit den Düsseldorfer Nachrichten läutet das generelle Ende von Blumenbergs Autorschaft fürs Feuilleton ein. Gegenüber Neukirchen gibt er an, sich stärker auf die akademische Karriere konzentrieren zu müssen und „Bücher zu schreiben – nicht nur Einleitungen zu fremden und nicht nur Aufsätze mit dem Inhalt von Büchern“. Schmitz und Stiegler konstatieren: „Es sollte Jahre, ja Jahrzehnte dauern, bis er im Feuilleton der NZZ und FAZ wieder das Wort ergriff […]“ (S. 18).
In den 1950ern hat Blumenberg mit Neukirchen über sein Selbstverständnis als Feuilletonist korrespondiert. Offenbar schwebte beiden eine „Reform des Feuilletonstils“ vor; dienlich dafür erschienen Blumenberg intime Gattungen wie der Brief oder das Tagebuch. Zwar kamen beide Formate nicht ins Spiel, wohl aber kam Blumenberg zu einer (unregelmäßigen) Kolumne, die Merkmale beider Gattungen enthielt.
Schmitz und Stiegler konstatieren eine „Aufspaltung des Feuilleton-Autors Blumenberg in drei Gestalten, Haltungen und Stile“ (S. 17): Erstens größere Artikel, bei denen Hans Blumenberg unter seinem Klarnamen – teilweise auch als Dr. Hans Blumenberg – firmiert. Häufig handelt es sich um bestellte Essays zu Jubiläen wie dem 70. Geburtstag von Karl Jaspers, dem 50. Todestag von Jules Vernes, dem 1600. Geburtstag des Kirchenvaters Augustinus. Die zweite Kategorie umfasst Kurzrezensionen, die mit dem Autorenkürzel „Bb“ signiert sind, sie enthalten im Wesentlichen Buchbesprechungen. Die dritte Kategorie ist die markanteste Textsorte und bestückt sich aus den Artikeln, die Blumenberg als Axel Colly veröffentlicht hat. Dieses journalistische Pseudonym wählt der Ordinarius-Aspirant als gezielte Möglichkeit, um Dinge „einspaltig“ und „im Grunde lieber locker“ zu behandeln. In der Korrespondenz mit Neukirchen ist einmal vom „Scherzo-Ton“ die Rede.
Das Alter Ego Axel Colly
Als Axel Colly schrieb Blumenberg über die Themen, bei denen er sich von der Rolle, als Philosoph schreiben zu müssen und als solcher gelesen zu werden, gezielt entlastet wissen wollte. Er selbst sprach von Texten, bei denen ihm „das Auslassen nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten“ schien. Collys Themenspektrum reicht von Sprachglossen bis hin zu Zeitgeist-Kommentaren, etwa über den sogenannten Finismus: „Mich hat eigentlich nur der Name interessiert. Der Mensch stirbt aus – nicht physisch-biologisch – beileibe nicht. […] Nicht an der Atombombe […] oder am Aufgeriebenwerden zwischen Ost und West, sondern ganz einfach daran, daß ihm nichts mehr einfällt. Der Finismus selbst ist der endgültig letzte Einfall der Menschheit.“
Ob es sich bei den „Collys“ durchweg um kulturkritische „Glossen“ handelt, wie die Herausgeber behaupten, ohne den Begriff je medienwissenschaftlich zu reflektieren, wäre zu diskutieren. Generisch könnte man die Collys – wie Friedrich Balke im Merkur – auch als Kleine Form (im Sinne der Feuilletongattung) charakterisieren. Oder aber – nicht nur von heute her – als Kolumne. Eine 1960 erschienene Notiz des Nachrichtenmagazins Der Spiegel über Willy Haas und sein Pseudonym Caliban zeigt, dass regelmäßige, subjektiv gefärbte Artikelreihen auch schon zeitgenössisch als „Kolumnen“ begriffen wurden.
Die Frage, mit welchem Zeitungsgenre Hans Blumenberg alias Axel Colly spricht, ist für eine Feuilletonforschung, die sich auch um Gattungstraditionen und Textsortenwissen (kurzum: „Schreibformate“) kümmert, keinesfalls unerheblich. Einige der abgedruckten Collys weisen nach heutigen Maßstäben einen dezidierten Kolumnen-Charakter auf. Sie nehmen ihren Ausgangspunkt in manchmal sehr banalen Alltagsvorkommnissen, um in luzide Zeitgeist-Analysen zu münden – ein Glanzstück ist Collys Kolumne über das neue Gewerbe der Meinungsforschung und Meinungspflege. „Ein schönes neues Wort […] soll mehr und mehr das ersetzen, was man mit unschöner Direktheit ‚Propaganda’ genannt hat.“ Ohne dass Colly auf damalige Karrieren wie die von Elisabeth Noelle-Neumann und ihrer „Gesellschaft zum Studium der öffentlichen Meinung mit beschränkter Haftung“ überhaupt zu sprechen kommen muss, dürfte jedem damaligen Zeitgenossen der Kontext klar gewesen sein. Feuilleton– und das zeigt wieder einmal den Wert seiner Archivierung und Auswertung – ist wie kaum ein zweites Medium geeignet, den diskursiven Zeitgeist vergangener Epochen zu erfassen.
Auch Blumenbergs Selbstverständnis als Axel Colly, soweit es sich im Briefwechsel mit Neukirchen artikuliert, ist ein typisches Kolumnen-Ich, insofern es sich vom Publikum erwartet weiß: „Für diesen Stil muß der Leser ein gewisses Vertrauen auf die Regelmäßigkeit seines Autors haben.“ Und schließlich nimmt sich Colly als Kolumnist die Freiheit, selbstreferenziell zu werden und auf Reaktionen zu früheren Kolumnen zu reagieren.
Mit Bourdieus Theorie des literarischen Feldes gelesen, handelt es sich bei Axel Colly um eine strategische Positionierung. Blumenberg wollte sich im Feuilleton einen (alternativen) Namen machen in einer Phase, in der seine akademische Karriere als nachmaliger Professor noch nicht endgültig gesichert schien. In dieser Zeit scheint der Philosoph zumindest zeitweise feuilletonistisches Herzblut entwickelt zu haben.
Bei einigen sprachkritischen Kolumnen tritt der spätere Philosoph der „Lesbarkeit der Welt“, der den anthropologischen Bedarf nach sowie den Effekt von Metaphern zu einem Schwerpunkt seines Denkens machte, bereits hervor. Collys Kritik an der rhetorischen Mode, allem und jedem eine Problematik zu bescheinigen, könnte heute eine lupenreine Kritik der Achtsamkeit sein. Und „die totale Revision aller Dinge, die Umstülpung des Gegebenen, die permanente Revolution“, die von Managern heute gerne mit dem Schlagwort der Disruption belegt wird, hat Axel Colly schon zu Silvester 1954 als „kopernikanischen Handstreich“ entlarvt: „mancher meint, […] mit einem ‚Alles wird anders!’ seine Freiheit bis zum äußersten zu gebrauchen. Aber nicht nur im Zuwenig von Freiheit, sondern auch in ihrem Zuviel ist die Falle der Unfreiheit verborgen.“
Um zu einem abschließenden Urteil über Hans Blumenberg als Feuilletonautor und seiner Wirkkraft im Medium Zeitung zu gelangen, müsste man allerdings auch die medialen Originalkontexte miteinbeziehen. Man mag den Konstanzer Forschern das rein textliche Interesse an Blumenberg nicht zum Vorwurf machen, insoweit sie als Literaturwissenschaftler agieren. Dennoch wird man von Blumenbergs „Ideen zu einer Neugestaltung des Feuilletons“ nur schwerlich reden können, ohne dieses Feuilleton je gesichtet, veranschaulicht und aus seiner Zeit heraus verstehbar gemacht zu haben, bis hinein ins Layout. Wenn Blumenberg mit Neukirchen über Artikelvorspänne diskutiert und ironisch kommentiert („Ich erkenne die Notwendigkeit von Unterüberschriften für die Weltordnung hiermit an“), geht es um literaturwissenschaftlich scheinbar marginale, feuilletonwissenschaftlich jedoch grundlegende Fragen.
Marc Reichwein, 15.04.2019
Anmerkungen:
[1] Blumenbergs Briefwechsel mit Neukirchen ist „nicht nur der umfangreichste, sondern auch der persönlichste des gesamten Blumenberg-Nachlasses“ im DLA Marbach „und eine wichtige Informationsquelle für Blumenbergs frühe Jahre“, so Alexander Schmitz und Bernd Stiegler: Hans Blumenberg als Feuilletonist. In: Neue Rundschau 129/4, S. 9-22, hier 10.
[2] Alfons Neukirchen wird im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek als Feuilletonchef der Düsseldorfer Nachrichten geführt. Laut Schmitz/Stiegler (S. 18) wurde Neukirchen jedoch „nicht Leiter des Feuilletons, wie er erhofft hatte“, sondern verlor in einem Machtkampf innerhalb der Düsseldorfer Nachrichten an Einfluss, den er als verantwortlicher Redakteur für die Bereiche Musik und Bildende Kunst sowie die Wochenendseite mit dem Titel „Geistiges Leben“ während der ersten Jahre innegehabt hatte. Wie so häufig im Redaktionsalltag sind schwindende oder wechselnde Zuständigkeiten innerhalb der Redaktionsstruktur also ein zentraler Grund für das Erlöschen von freier Feuilleton-Autorschaft.