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Ungeheuerliche Neuigkeiten

Frank Schirrmachers gesammelte Texte aus den Jahren 1990 bis 2014. Von Stefan Neuhaus


Frank Schirrmacher: Ungeheuerliche Neuigkeiten. Texte aus den Jahren 1990 bis 2014. Hrsg. und mit einem Vorwort von Jakob Augstein. 1. Aufl. München: Blessing 2014. 335 S. ISBN: 978-3-89667-556-9. Preis [A]: 17,50 €


Am 12.6.2014 starb der Feuilleton-Chef und Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, im Alter von nur 54 Jahren an einem Herzinfarkt. Schirrmacher war einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, weil er in gesellschaftlich relevante Debatten immer wieder eingriff, vor allem mit ‚seiner‘ Zeitung FAZ als Plattform. Eine Sammlung seiner journalistischen Texte hat nun Jakob Augstein herausgegeben. Viele davon sind jenen, die spätestens seit den 1990er Jahren das deutschsprachige Feuilleton interessiert verfolgen, nicht neu, doch ermöglicht die Zusammenstellung erstmals einen fundierteren Eindruck von Schirrmachers Stil und möglicherweise auch von seiner Bedeutung vor allem für die Debattenkultur in den ersten zwei Jahrzehnten des wiedervereinigten Deutschland.

Der Herausgeber der Sammlung, Jakob Augstein, ist ebenfalls alles andere als ein Unbekannter. Der Herausgeber der Wochenzeitung Der Freitag ist bekanntlich der Adoptivsohn des Spiegel-Gründers Rudolf Augstein und der leibliche Sohn des Schriftstellers Martin Walser. Der erste von vielen verblüffenden Momenten der Lektüre ist, dass Augstein der Textauswahl ein Vorwort vorangestellt hat, das Schirrmacher auf ein Podest stellt. Ob gerade Schirrmacher als Idol für Journalisten taugt, hat Augstein früher eher bezweifelt, so schrieb er in der Wochenzeitung Die Zeit über Schirrmachers Buch Der Methusalem-Komplex: „Der Umschlag kommt mit großkalibriger Wucht daher, mehr Magnum als Minimum. Der Dirty Harry des Feuilletons kehrt zurück.“[1] Dieses „Porträt“ drückt allerdings bereits die Bewunderung für Schirrmachers ebenso selbstverständlichen wie virtuosen Umgang mit seiner publizistischen Macht aus, so dass es sich wohl eher um eine Neuakzentuierung handelt, wenn es nun im Vorwort heißt: „Bei Schirrmacher fielen eine echte Sorge und eine tiefe Neigung günstig zusammen. Er sah die Welt bedroht und lebte selber im Genuss der Bedrohung“ (S. 11). Auch sonst offenbart das Vorwort, darin gleicht es den versammelten Feuilletons, eher unfreiwillig ein krudes Halbwissen, etwa wenn festgestellt wird, Schirrmacher habe die „entgrenzte[n] Ideologie des Finanzkapitalismus […] freimütig als ‚Neoliberalismus‘“ bezeichnet (S. 12). Neoliberalismus ist üblicherweise kein pejorativ gebrauchter Begriff, es ist nichts „freimütig“ daran, ihn zu verwenden. Dann offenbart der Text, wohl eher unfreiwillig, eine zentrale Motivation: „Angst kommt gut an. Andere Menschen haben auch Angst. Und wenn der Intellektuelle Schirrmacher über die alternde Gesellschaft schrieb und über den Verlust sozialer Bindungen, über die Risiken der Digitalisierung und die Verwüstungen des internationalen Kapitalismus – dann folgten ihm auch solche Leser, die niemals das Feuilleton der FAZ in die Finger genommen hätten“ (S. 12). Niklas Luhmann hat in seiner nüchternen Art einmal festgestellt: „Insofern dienen die Massenmedien der Erzeugung und Verarbeitung von Irritation.“[2] Dass sie auch Angst erzeugen, um LeserInnen zu gewinnen, und dass Schirrmacher ein solches Erzeugen von Angst offenbar meisterhaft beherrschte, wird in Augsteins Vorwort in einer naiven Art offen an- und ausgesprochen. Nicht weniger naiv erscheinen Stilisierungen wie die folgende: „Frank Schirrmacher steht am Steuer des alten, schnellen Bootes, er braust über Havel und Jungfernsee […]. Er ist der bedeutendste Journalist des Landes. Sein weißes Hemd flattert im Wind“ (S. 9).

Der Band ist lose thematisch gegliedert, so dass sich der Durchlauf durch die Periode von 1990-2014 siebenmal wiederholt: „Der Mann im Mond“ (zu technischen Entwicklungen), „Der Methusalem-Komplex“ (zur demographischen Entwicklung), „Die Unordnung des Geldes“ (zu Finanzkrisen), „Die Deutschen und ihre Kriege“, „Erste, zweite und dritte Kultur“ (zu politischen Fragen im engeren Sinn), „Grass, Walser, Reich-Ranicki“, „Kritik und Literatur“. Die Texte lassen in der Summe erkennen, dass ihr Autor in der Lage war, aktuelle Entwicklungen nicht nur seismographisch zu erfassen, sondern auch die Erschütterung zu verstärken und ein Beben im Blätterwald zu erzeugen. Schirrmacher zeigt sich als glänzender Stilist, im Wortsinn – er schreibt flüssig und gut lesbar, gibt sich über aktuelle Debatten informiert, aus denen er zentrale Informationen für seine Argumentation entnimmt, und bündelt seine Quellen zu Themen, deren Relevanz er mit allen sprachlichen Mitteln ausstellt. Seine besondere Technik lässt sich wohl vor allem auf zwei Begriffe bringen: Superlativierung und Dichotomisierung. So heißt es 1996 in einem Artikel über Gottfried Benn und Bertolt Brecht: „Nie wieder hat es eine Generation gegeben, die so wie diese an die Totalität der Kunst und die Veränderbarkeit der Wirklichkeit glaubte“ (S. 285); über Autoren des Sturm & Drang, der Romantik und des Expressionismus, um nur drei Beispiele zu nennen, dürfte sich auch eine solche Aussage treffen lassen. 2014 wird über die neuere Informationstechnologie befunden, wer sich mit ihr verbünde, werde „auf die dunkle Seite der Macht wechseln“ (S. 155). Die eigene Position wird dabei stets als die allgemein gültige und zukunftsweisende markiert, etwa in einem Artikel vom 19.4.2010: „Plötzlich sind wir alle Zuschauer“, in dem eine digitale Panne im Flugverkehr zum Symptom für die drohenden Gefahren der Digitalisierung stilisiert wird. Allerdings inszeniert sich Schirrmacher nicht als Gegner der neuen Entwicklungen, sondern als Warner vor Fehlentwicklungen: „Nur Gestrige können glauben, dass in der Skepsis gegenüber dieser neuen Macht die Sehnsucht nach vorindustriellen Zeiten steckt“ (S. 32). Doch hat er am Anfang des Artikels mit seinem Porträt der Lufthansa-Kapitäne und dem Satz „Sie wollen nur fliegen“ (S. 29) genau diese Skepsis evoziert.

Auch sonst wagt Schirrmacher gern Blicke in die Zukunft, die nicht selten dystopisch düster ausfallen. Wenn es um die demographische Entwicklung geht, ist für ihn der Jahrtausendwechsel eine Zäsur ohnegleichen: „Silvester 1999 macht alle bis dahin geborenen Bewohner Alteuropas zu einer Schicksalsgemeinschaft“ (S. 52). Von nun an gibt es die, die vor der neuen Zeitrechnung geboren wurden, und die Jüngeren, die künftigen Beherrscher der Welt, vor denen man sich besser in Acht nehmen sollte: „Einem moralisch höchst anfechtbaren Jahrhundert entstammend, werden wir diese Macht zu spüren bekommen“ (S. 53). Dass viele der Jüngeren bei weitem nicht die beruflichen und finanziellen Möglichkeiten mehr haben, die vielen der Älteren zur Verfügung standen und stehen, scheint hier weniger zu interessieren, doch schon der nächste, im Band abgedruckte Aufsatz – Schirrmachers Dankesrede zur Verleihung des Börne-Preises – mahnt „Solidarität mit dem jungen Deutschland“ an (S. 55). Auch wenn sich Schirrmacher in den Finanzkrisen der letzten Jahrzehnte zu Wort meldet, werden zu der Zeit populäre Positionen mit einem Gestus des nicht nur Besserwissens, sondern des Ambestenwissens als eigene, auf Recherche basierende Erkenntnisse präsentiert. „Das komplette Drama der Selbstdesillusionierung des bürgerlichen Denkens spielt sich gerade in England ab“, heißt es auf einem der früheren Höhepunkt der Finanz- und Griechenlandkrise 2011, denn es zeige sich, dass das „politische System“ wohl doch vor allem „den Reichen“ diene (S. 82).

Immer wieder schreibt Schirrmacher über Literatur und auch hier glänzt er durch Formulierungen, die nicht durch Goldwert gedeckt sind. 2008 wird Jonathan Littells Roman Die Wohlgesinnten gelobt, als einen wesentlichen Grund nennt Schirrmacher, dass die Wahl der Täterperspektive neu sei (S. 127), so als hätte es Edgar Hilsenraths 1971 erschienenen Roman Der Nazi und der Friseur nicht gegeben, den Littell vielleicht sogar im Vornamen seines Protagonisten (Max) zitiert. Den Artikel „Abschied von der Literatur der Bundesrepublik“ vom 2.10.1990 (also unmittelbar vor dem oder zu dem Datum, das künftig als ‚Tag der Deutschen Einheit‘ gefeiert wird, vgl. S. 271ff.) schließt Schirrmacher mit den Worten: „Mit der Literatur Thomas Bernhards oder Paul Celans – um die zwei bedeutendsten deutschsprachigen Autoren der Nachkriegszeit wenigstens zu erwähnen – lassen sich keine Gesellschaften aufbauen und kein Staat machen. Das Ich, das in ihnen spricht, kann man nicht annehmen. Sie sind nichts als sie selber“ (S. 281). Wie Schirrmacher hier zu seinem Befund kommt, es handele sich um die „bedeutensten deutschsprachigen Autoren der Nachkriegszeit“, bleibt sein Geheimnis, immerhin hat Heinrich Böll 1972 den Nobelpreis für Literatur erhalten und viele andere Namen wären zumindest in die engere Wahl zu nehmen, etwa Ingeborg Bachmann, Peter Handke oder Christa Wolf. Die Rezeption Thomas Bernhards nicht nur in Österreich spricht eine andere Sprache, ebenso die nachhaltige Bedeutung Paul Celans als einer der wichtigsten Lyriker des 20. Jahrhunderts, am bekanntesten ist die für die Auseinandersetzung mit dem Holocaust so wichtige Todesfuge.

An Günter Grass, dem wohl international bekanntesten lebenden deutschsprachigen Autor, misst sich Schirrmacher besonders gern. In dem genannten Artikel stellt Schirrmacher fest: „Es gehört zu den Legenden und Selbsttäuschungen, wenn Repräsentanten dieser Literatur, wie etwa Günter Grass, noch heute behaupten, daß sie sich gegen eine reaktionäre und nationalistische Öffentlichkeit hätten durchsetzen müssen“ (S. 274f.). Doch genau das war der Fall, etwa bei der verhinderten Verleihung des Bremer Literaturpreises im Jahr 1960 und den Besprechungen der Blechtrommel im Vorfeld. Günter Blöcker, einer der seinerzeit bekanntesten Literaturkritiker, nannte die Hauptfigur des Romans damals “eine allegorische Figur von schwer zu überbietender Scheußlichkeit”,[3] auch wenn er meinte, die Lektüre sei “ein peinliches Vergnügen”.[4] Marcel Reich-Ranicki warf Grass in der Zeit literarische Taschenspielertricks vor: “Die Sache wird erst bedenklich, wenn man virtuose Darbietungen dieser Art mit Kunst zu verwechseln beliebt.”[5] Grass könne, so Reich-Ranicki, “die Worte nicht halten”.[6] Und ‘Hans Müller-Eckhard’ urteilte in der Kölnischen Zeitung: “Der Mensch wird degradiert und beschmutzt, das Menschenbild geht unter.”[7]

Problematisch ist auch, dass Schirrmacher am Schluss seines Artikels über die Literatur der Bundesrepublik konstatiert: “Wenige Jahre liegen zwischen dem letzten Buch Fontanes und Kafkas ‘Urteil’. In diesen Jahren schiebt sich ein Kontinent zwischen die beiden Werke. Sie sind so unterschiedlich in ihren Begriffen, Voraussetzungen und Erkenntnissen, daß die zeitliche Nähe phantastisch erscheint. Mehr als das Doppelte dieser Zeitspanne, einunddreißig Jahre, liegen zwischen Günter Grass’ ‘Blechtrommel’ und dem jüngsten Roman von Bodo Kirchhoff. Sie sind jedoch in ihren Begriffen und Voraussetzungen so ähnlich, daß hier die zeitliche Ferne unwirklich und phantastisch erscheint. Und doch umfaßt die Linie von Fontane über Grass zu Bodo Kirchhoff noch immer keine hundert Jahre” (S. 280f.). Mit Verlaub – erstens wird hier geschummelt, Fontanes Der Stechlin erschien 1898 und Kafkas Die Verwandlung stammt aus dem Jahr 1912, das sind nicht ‘wenige Jahre’. Schon Fontanes Roman weist auf die Moderne voraus, der auktoriale Erzähler tritt weitgehend zurück und noch heute ist sich die Forschung nicht einig, ob es sich politisch eher um einen konservativen oder revolutionären Roman handelt, ganz zu schweigen von der Frage, weshalb der Protagonist die jüngere, als vergleichsweise blass und unwichtig angesehene Armgard und nicht ihre Schwester Melusine heiratet. Freilich ist Kafkas Erzählung rätselhafter, aber Kafkas Schreibweise gilt auch als sehr ungewöhnlich. Zweitens lassen sich Grass und Kirchhoff schwerlich vergleichen, abgesehen davon, dass die besondere erzählerische Leistung von Grass (etwa das unzuverlässige Erzählen, das bereits die ersten Sätze vorgeben) bei einem solchen pauschalen Urteil keine Rolle spielt.

Schirrmacher unterstellt Günter Grass 1997 gar, dass er mit seinem Roman Die Blechtrommel „strafunmündiges Bewußtsein“ in der Bundesrepublik gefördert habe (S. 172) – ganz im Gegensatz zu der Bedeutung, die der Roman für die kritische Aufarbeitung des Nationalsozialismus gehabt hat, so dass Grass auch 1999, vor allem für die Blechtrommel, mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde. Man darf annehmen, dass Schirrmacher diesen Artikel nach der Zuerkennung des Nobelpreises so nicht mehr geschrieben hätte. 2006 führt Schirrmacher sogar, wie um diese Vermutung zu bestätigen, ein Interview mit Günter Grass über dessen Autobiographie Beim Häuten der Zwiebel, ohne dass die Kritik an Grass‘ Offenbarung, als Siebzehnjähriger in der Waffen-SS gewesen zu sein (anders als sonst in der aufgeregten Debatte darüber), eine Rolle spielen würde (S. 210ff.). Doch 2012 nimmt Schirrmacher Grass‘ israelkritisches Zeitungs-Gedicht Was gesagt werden muss zum Anlass, dem Autor Antisemitismus zu unterstellen (S. 226). Hier ist nun plötzlich die Mitgliedschaft in der Waffen-SS ein Problem, denn auf sie wird mit dem Schluss-Satz angespielt und damit Grass ein persönliches Motiv unterstellt: „Die Debatte aber müsste darüber geführt werden, ob es gerechtfertigt ist, die ganze Welt zum Opfer Israels zu machen, nur damit ein fünfundachtzigjähriger Mann seinen Frieden mit der eigenen Biographie machen kann“ (S. 229).

Ebenso deutlich erkennbar wird Schirrmachers ‚Flexibilität‘ im Besetzen von durchaus gegensätzlichen, aber immer populären Meinungen in seiner Auseinandersetzung mit einem zweiten berühmten deutschsprachigen Autor, mit Martin Walser. Zunächst hält Schirrmacher, 1998, die Laudatio auf Walser, als dieser den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält (S. 190ff.). Darin stellt er Walser als Wegbereiter der kritischen Aufarbeitung des Holocaust heraus und erwähnt besonders den, in der Tat hierfür sehr wichtigen, Aufsatz Unser Auschwitz (vgl. bes. S. 199f.). Wenig später moderiert Schirrmacher ein Gespräch zwischen Walser und seinem vordersten Kritiker Ignaz Bubis, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland (S. 233ff.), und er schreibt ein Vorwort zu einer Dokumentation der Debatte (S. 230-232).[8] Doch als Walser, nicht zum ersten Mal, Schirrmachers Ziehvater Marcel Reich-Ranicki karikiert, schreibt Schirrmacher einen offenen Brief, der Walser deshalb Antisemitismus unterstellt (S. 205ff.).[9]

Es soll nicht der Eindruck entstehen, als setze sich Schirrmacher, trotz der erkennbaren Irrtümer und opportunistischen Züge, vorwiegend für das Falsche oder die Falschen ein. Ein Schlüsseltext für den zivilen Ungehorsam, den Schirrmacher immer wieder einmal praktiziert und dann auch propagiert, ist sein Artikel zu Thilo Sarrazin und zu einem Fall von Zensur. Sarrazin wird als Bauernfänger, als „Falle“ gesehen (S. 101ff.), ein Film, der über ihn gedreht werden sollte, wurde offenbar vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk verhindert: „Gestern nachmittag hat der RBB entschieden, dass Güner Balcis Film nicht gedreht wird. Kein Buch im klassischen Sinn, sondern ein Trojaner, der die Codes des öffentlichen Diskurses hackt. Zynisch lässt man eine Frau fallen, die ein Rollenmodell für aufstiegswillige Türkinnen ist“ (S. 105). Auch diese Seite hat der Journalist Schirrmacher und man wünscht sich, dass er sie öfter gezeigt hätte. Auch sonst ist die Lektüre des Bandes immer wieder interessant oder sogar spannend, etwa das erwähnte Gespräch zwischen Walser und Bubis, das zeigt, wie stur Walser auf seinem Recht beharrte, unabhängig von der möglichen Instrumentalisierung seiner Rede sagen zu dürfen, was er wollte, während Bubis durchaus versöhnlich gestimmt war, wodurch er zugab, Walser missverstanden zu haben. Die Gespräche, die Schirrmacher aufgezeichnet hat und von denen der Band einige versammelt, entbehren auf erfrischende Weise der klaren Grenzziehungen der Artikel.

Zu den vielen Ungereimtheiten, die durch den superlativistischen Stil der Texte Schirrmachers und auch des Vorworts eher auf- als zugedeckt werden, gehört die Merkwürdigkeit, dass der Band, als 1. Auflage, mit der Jahreszahl 2014 versehen ist, dass das Vorwort von Jakob Augstein aber mit „Mai 2015“ gezeichnet ist (S. 14). Die Versuchung ist groß, dieses Versehen symbolisch zu deuten: Schirrmacher und Augstein wähnten und wähnen sich ihrer Zeit voraus. Ob sie es wirklich waren oder sind und vor allem, was von Schirrmachers An- und Aufregungen wirklich bleibt, wird sich wohl erst im Laufe der Zeit erweisen. Ich wage die Prognose, dass es, anders als bei dem von Augstein zum Vergleich herangezogenen Egon Erwin Kisch (vgl. S. 10), allzuviel nicht sein wird. Wenn man Schirrmachers Texte an seinem eigenen Maßstab misst: „Journalismus und Kunst dienen nicht der Verschönerung des Lebens, sondern seiner Erkenntnis“ (S. 56), dann ist der hier ermittelte Erkenntnisgehalt, von den für sich selbst sprechenden Interviews einmal abgesehen, doch sehr fragwürdig.


Stefan Neuhaus, 23.10.2015
neuhaus@uni-koblenz.de



Anmerkungen:

[1] Jakob Augstein: Ein Mann ohne Komplex. In Kürze erscheint Frank Schirrmachers Buch Minimum. Der Bestseller-Erfolg scheint garantiert. Annäherung an einen Mann, der zu den Mächtigen dieses Landes zählt. Porträt. In: Die Zeit Nr. 10 v. 20. März 2006. URL: http://www.zeit.de/2006/10/Schirrmacher.

[2] Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien. 3. Aufl. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 46.

[3] Volker Neuhaus (Hg.):Günter Grass: Die Blechtrommel. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart: Reclam 1997, S. 126.

[4] Ebd., S. 127.

[5] Ebd., S. 147.

[6] Ebd., S. 148.

[7] Ebd., S. 141.

[8] Vgl. auch Frank Schirrmacher: Die Walser-Bubis-Debatte. Eine Dokumentation. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000.

[9] Zur Debatte vgl. auch Stefan Neuhaus: Martin Walsers Roman “Tod eines Kritikers” und seine Vorgeschichte(n). Oldenburg: bis-Verlag 2004 (Bibliotheksgesellschaft Oldenburg: Vorträge – Reden – Berichte 43).