Das Ende einer Lebensform?
Michael Angele: Der letzte Zeitungsleser. Berlin: Galiani 2016. 153 S. ISBN 978-3-86971-128-7. Preis [A]: 16,50 €
Bevor Kulturtechniken schwinden, fangen sie an, sich selbst zu thematisieren. Seit Ende der letzten Dekade gibt es eine regelrechte Flut von Diagnosen zum Ende der gedruckten Zeitung. Allein Lothar Müller von der Süddeutschen Zeitung veröffentlichte neben einem Buch (Weiße Magie) mehrere Merkur-Artikel zum Thema (vgl. Die Zukunft der Zeitung in Nr. 12/2013 und Deadline. Zur Geschichte der Aktualität in Nr. 4/2013).
Neben der Zukunft der gedruckten Zeitung ging es in vergleichbaren Publikationen auch um die Medienkrise als solche; so konnte man mit Stefan Schulz (Redaktionsschluss. Die Zeit nach der Zeitung) die Frage stellen, ob Facebook den Journalismus deinstitutionalisiere und mit Uwe Krüger (Mainstream. Warum wir den Medien nicht mehr trauen) diskutieren, ob wir den Redaktionen künftig überhaupt noch die Gatekeeper-Rolle zutrauen, die sie in der besten aller möglichen Massenmedien-Welten einmal innehatten.
Genau ein solches, von medienwissenschaftlichen Erwägungen geleitetes Sachbuch wollte Michael Angele, Journalist bei der Wochenzeitung Freitag, erkennbar nicht schreiben. Sein Genre ist vielmehr das eines Stimmungsbildes. Sein persönlich gefärbtes Memoir eines Zeitungslesers dient der Beschwörung einer Kulturtechnik aus Sicht ihres Anwenders, der sehr wohl weiß, dass er noch nicht Der letzte Zeitungsleser ist. Pointiert gesagt, verkauft uns Angele das Zeitungslesen wie ein Lebensgefühl aus dem Manufactum-Katalog (Slogan: Es gibt sie noch, die guten Dinge).
Nun sind, wie in einem klugen Zeitungsartikel zu lesen war, Apokalypse und Nostalgie die beiden vielleicht mächtigsten Verbündeten in der Vernichtung von Gegenwart. Vor diesem Hintergrund erscheint es stimmig, dass in der Debatte um die Zukunft von „Print“ neben den Untergangs-Szenarien die nostalgische Beschwörung floriert. Angele führt schriftstellerische Gewährsmänner für Zeitungssucht (Thomas Bernhard) und Zeitungsabfall (Peter Handke) ins Feld. Er gibt dem Zeitungs-Habitus von Claus Peymann Raum und stellt den HU-Emeritus „Professor Schütz“ als passionierten Zeitungsleser und -Sammler vor.
Weitere Ahnherren wären ebenso denkbar gewesen, etwa Cees Nooteboom mit seiner Theorie von der national verschiedenen Olfaktorik der Printerzeugnisse. „Die Frankfurter Allgemeine riecht anders als der Corriere della Sera. Am intensivsten riechen spanische Zeitungen.“ Das schrieb Noteboom in seiner Sammlung Die Insel, das Land schon 2002 – und vermutlich hat der Flaneur recht: So wie wir Milch, Käse oder Brot in länderspezifischen Erscheinungsformen antreffen, so tritt auch das Grundnahrungsmittel Zeitung in unterschiedlichen Phänotypen in unser Bewusstsein. Die Druckerschwärze kann landesüblich anders sein, aber genauso die Farbe und Materialität des Papiers.
Ethnografischen Dokumenationswert erlangt Angeles Essay, indem er an der Lebensform Zeitung vor allem das Sinnliche und Situative beschwört. Das können Orte sein, an denen man sein liebstes Blatt liest. Rituale, mit denen man es aus dem Briefkasten oder vom Kiosk holt. Umwege und Unkosten, mit denen man seine Anschaffung auch auf Auslandsreisen nicht scheut. Indem Angele allerlei Gepflogenheiten rund um den regelmäßigen Konsum seines alltäglichen Mediums thematisiert, stattet er den Vorgang Zeitungslesen mit symbolischem Kapital aus. Geschildert wird ein Lebensgefühl, dessen Distinktionsgewinn mit abnehmender Umblätterer-Praxis weiter zunehmen dürfte.
Angele bemerkt auch Kritisches. Er geißelt „die Verachtung für die älteren Leser“, obwohl die Branche konstitutiv von ihnen lebt: „Zwar werden die Zeitungsleser immer älter, aber in kompletter Verdrehung dieser Tatsache versuchen die meisten Zeitungsmacher, ihre Zeitungen immer jünger zu machen.“ Des Weiteren kritisiert Angele den „Trend zur totalen Verständlichkeit. Kein Rest an Fremdheit soll bleiben, es könnte die Leser abschrecken. Vor lauter Angst, den Leser, anzustrengen, vergisst man ihn anzuregen“, moniert Angele und warnt: „zu viele Verstehenshilfen sind der Tod des leidenschaftlichen Zeitungslesens“.
Nun würde keine Journalistenschule der Welt das Gebot der Verständlichkeit meiden wollen, aber Angeles Plädoyer für eine Lektüre, die sich der Anstrengung nicht von vornherein enzieht, zielt auf das Feuilleton als diskursiven Ort der Verhandlung von Mehrdeutigkeiten. Salopp gesagt, sind die kommunikativen Eigenschaften des Feuilletons nun mal nicht auf Barrierefreiheit, sondern auf Distinktion ausgelegt: Die Tatsache, dass man sich ein Blatt (zumal ein überregionales) erst durch langjährige Lektüre vertraut machen musste, ließ enge Leser-Blatt-Bindungen entstehen, die andere Medien in dieser Stabilität erst noch beweisen müssen.
Angele, das ist die Stärke seines Essays, diskutiert all diese Phänomen nicht aus; er tippt sie eher en passant als thesenwütig an – und bewahrt genau dadurch den galanten Grat zwischen Causerie und Reflexion, der sein Buch so überzeugend macht.
Keine Besprechung von Der letzte Zeitungsleser wäre vollständig, wenn sie nicht auch auf die Zeitungsmimikry der Buchgestaltung hingewiesen hätte: Von außen her betrachtet, simuliert der Schutzumschlag die Titelseite einer Zeitung. Entsprechend sehen wir einen Zeitungskopf, einen Aufmacherartikel und Themenanrisse. Der Aufmacherartikel, der den Buchumschlag ziert und den man gerade noch lesen kann ist ein 2010 im Freitag erschienener Artikel von Michael Angele, der vom Feuilleton-Consortium Der Umblätterer als einer der besten Feuilletonartikel des Jahres 2010 prämiert wurde. Indem dieser Artikel jetzt auf dem Buchumschlag von „Der letzte Zeitungsleser“ wiederauftaucht, machen Michael Angele und der Galiani-Verlag zum einen die Keimzelle dieses Buches deutlich. Zum anderen löst der Buchumschlag seine Funktion, Werbeplakat fürs Buch zu sein, kongenial ein, denn der Spaltensatz im Buchinnern ist der zweite buchgestalterische Clou. Das Buch läuft über rund 150 Seiten in Kolumnen-Form, es ist eine Kolumne in Endlosform.
Marc Reichwein, 03.11.2016