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Das Internet, die Literatur, die Literaturkritik – allerlei Mythen und heilige Kühe

Über Kathrin Passigs Poetikvorlesung "Vielleicht ist das neu und erfreulich". Von Renate Giacomuzzi


Kathrin Passig: Vielleicht ist das neu und erfreulich. Technik. Literatur. Kitik. Graz: Droschl 2019. (Zur Kunst des Schreibens, Bd. 2). 120 S. ISBN: 978-3-99059-029-4. Preis [A]: 15,00 €

 

Im Mai 2018 hielt Kathrin Passig in der Reihe der „Grazer Vorlesungen zur Kunst des Schreibens“ drei Vorträge zum Thema Schreiben im Internet. Die Leitfrage der von Anne-Kathrin Reulecke und Klaus Kastberger betreuten Veranstaltungsreihe lautet: „Was eigentlich mache ich, wenn ich schreibe? In welchem Rahmen bewege ich mich und welche Möglichkeiten kommen einer Kunst des Schreibens heute zu?"[1] Nicht nur „Dichter und Romanciers“ sollen hier zu Wort kommen, sondern auch „Schreibende, die über das Leben und Schreiben anderer schreiben“ (ebd.). Den Beginn machte 2017 die Literaturkritikerin Daniela Strigl, deren Vorträge als erster Band unter dem Titel: Alles muss man selber machen. Biographie. Kritik. Essay 2018 beim Grazer Droschl-Verlag erschienen sind.[2]

Auch der Titel des zweiten Bandes weckt Neugier mit der für Buchtitel eher ungewöhnlichen Ausführlichkeit: Vielleicht ist das neu und erfreulich. Der darin deutlich mitschwingende Appell zur Zurückhaltung richtet sich sowohl gegen himmelhochjauchzendes Lob des Neuen wie krampfhaft rückwärtsgewandtes Anklammern am Alten – beides sind bekanntlich typische Reaktionen, wenn es irgendwie um das Thema Internet geht. Zum Internet im Allgemeinen und konkret zu den Veränderungen, die sich im Besonderen für Literatur und Literaturkritik durch das Medium Internet ergeben haben, wurde bereits viel gesprochen und geschrieben. Doch kaum jemand hat es in einem so erfreulich unaufgeregten, sympathischen Ton und bar jeglichen theoretischen Überbau-Ballasts getan wie Kathrin Passig. Der erste Teil des handlichen Bändchens geht auf die zahlreichen Tode und vorausgesagten Enden der Netzliteratur ein, die kaum geboren erstaunlich schnell und oft begraben wurde (Achtung aber: Totgeglaubte leben länger!)[3]. Dass es notgedrungen zu Problemen kommt, wenn man Literatur aus dem gewohnten medialen Umfeld herauslöst und in ein neues Medium einzubetten versucht, erklärt Passig allegorisch: Ein Eichhörnchen versucht vergeblich eine Eichel im Fell eines Hundes zu vergraben. Des Pudels Kern ist also ein Literaturbegriff, der in der vorhandenen Form nicht in das Internet passt. „Der Hund [= das Internet; Anm.d.Verf.] sieht geduldig zu“ (S. 5). Mit unverhohlener Verwunderung angesichts der Beharrlichkeit, mit der an einem Literaturverständnis festgehalten wird, das sich auch in vordigitalen Zeiten weitab der Realität des literarischen Feldes befand, führt Passig anschauliche Beispiele an, darunter Christian Benne, der aus Enttäuschung über das Resultat des 1996 von Die Zeit und IBM ausgeschriebenen „1. Internet-Literaturpreises“ in einem Artikel im Zeit-Magazin das Ende des gerade erst verkündeten neuen Genres mit Thesen begründete, die schon bald durch die technischen Entwicklung widerlegt wurden, z.B.: „Literatur im Internet ist eine Totgeburt. Sie scheitert schon […] als Idee, weil ihr Widersinn womöglich nur noch von Hörspielen aus dem Handy übertroffen wird“ (S. 8).[4] Diese Aussage hat Benne vermutlich schon häufig bereut, zumal kaum ein Text zum Entwicklungsverlauf deutschsprachiger Netzliteratur auf hämische Kommentare dazu verzichtet, so u.a. auch Beat Suter in seinem 2012 erschienenen Aufsatz: „Aus heutiger Sicht erscheinen diese Zeilen geradezu ironisch amüsant“.[5] Doch im Nachhinein ist man immer schlauer, und letzteres war Kathrin Passig tatsächlich immer auch schon im Vorhinein, indem sie ganz einfach vorschnelle Urteile über technische Neuigkeiten tunlichst vermied. Man muss weiters auch nicht Bourdieu lesen um zu verstehen, dass die von Schriftstellern gerne eingenommene Abwehrhaltung gegenüber allem, was nach Eigenwerbung und Kommerz aussieht, mit den Regeln des ‚autonomen Feldes’ zu tun hat. In diesem Bereich, der sich als Gegenpol zu kommerzieller Unterhaltungsliteratur versteht und definiert, ist der Verzicht auf ökonomischen Genüsse und Ergüsse Grundbedingung für den ‚richtigen’ Erfolg, denn: „Wirklich große Schriftsteller machen keine Eigenwerbung“ (S. 19) – so fasst Passig die ausführlich zitierte Haltung von Jonathan Franzen zusammen, der anlässlich der Verleihung des Frank-Schirrmacher-Preises 2017 detailliert erläuterte, warum das Netz ‚der Literatur aktiv im Weg stehe’ (vgl. S. 18). Genüsslich stellt Passig fest: „Es ist immer strategisch ungeschickt, zu behaupten, dass etwas grundsätzlich nicht geht, denn ein einziger ‚ernsthafter Schriftsteller’, der sich im öffentlichen Leben wenig zurückhaltend verhält, genügt dann zur Widerlegung“ (S. 20). Als Gegenbeispiele führt Passig u.a. Joyce Carol Oates und Margaret Atwood an, die vermutlich auch in den Augen von Jonathan Franzen die Merkmale ‚ernstzunehmender Literatur’ erfüllen, das Betreiben eines Twitter-Accounts aber im Gegensatz zu Franzen für offensichtlich unschädlich halten[6] (vgl. S. 21). Die Frage, warum aber Netzliteratur, d. h. unabdingbar an digitale Medien gebundene Hypertexte, so wenig Erfolg und Aufmerksamkeit im deutschsprachigen Raum erhielten, beantwortet Passig mit dem systembedingt ‚schmuddeligen’ Aussehen, das allem und gerade aus diesem Grunde leicht zu übersehenden, ‚Neuen’ anhafte („Jurys haben das Problem, dass das von Ihnen geförderte halbwegs respektabel aussehen muss. Das Neue tut das selten“, S. 38). Das zweite, noch überzeugendere Argument liefert der von Passig zitierte österreichische Netzkünstler Jörg Piringer, der zwar nicht verrät, wie er es selbst geschafft hat als einer der wenigen Netzautoren zu überleben, aber die Abkehr zahlreicher KollegInnen von diesem wenig einträglichen „Poesiegeschäft“ ganz einfach mit dem nachlassenden Interesse medialer und institutioneller Öffentlichkeit erklärt (vgl. S. 17).

Ebenso wie beim Thema Anfang und frühes Ende der Netzliteratur beschränkt sich Passig auch in den beiden nachfolgenden Kapiteln zum Zusammenhang von Technik und Literatur bzw. Mensch und Maschine auf wenige aussagekräftige Beispiele. Dank ihrer Achtsamkeit, immer in Bodennähe zu bleiben und nicht in die weiten Gefilde er Medien- und Literaturgeschichte abzudriften, gelingt es ihr, die wirkungsvollsten Mythen, die im Zusammenhang mit Literatur und Internet bestehen, zu entschleiern. Es ist dies einmal der Mythos, dass Kunst etwas zutiefst Menschliches sei, d. h. Maschinenkunst immer als solche erkennbar und von menschlich produzierter Kunst unterschieden werden könne. Doch ebenso empirisch widerlegbar ist die These von der ‚reinen’ computergenerierten Kunst, die es schlicht und einfach nicht gebe, weil „die Autorin“ nie weg, sondern „immer zu Hause ist“, d. h. „so gut wie immer ein Mensch im Spiel [ist], der künstlerische Entscheidungen trifft“ (S. 75). Passig kann hier aus eigener Erfahrung reichlich schöpfen, so aus dem von ihr anlässlich des Gomringer-MeToo-Konflikts generierten „Gomringador“, ein „Twitter-Bot“, der automatisch Twitter-Gedichte produziert, das Material dafür jedoch aus Listen gewinnt, die ihm die Autorin persönlich zugeführt hat. Die Qualität der Gedichte hing ganz deutlich von der Qualität des ‚Futters’ ab – bei zufällig gewählten Substantiven fielen die Texte deutlich weniger gut aus als bei vorgefertigten Listen mit inhaltlicher Kohärenz, z. B. gewählt aus Katalogen oder literarischen Texten (vgl. 78).  Umgekehrt wären bei dem seit 2011 laufendem Projekt Zufallsshirt immer wieder Fehler bei Käufern unbemerkt geblieben, was wiederum mit einem systembedingten Merkmal von Kunst- und Werbetexten zu tun habe, die per se immer mit Lücken arbeiten und es daher bei arbeitsgeteilten Mensch-Maschine-Produkten (GAN= Generativ adversarial network, vgl. S. 69 ff.) nicht mehr unterscheidbar sei, was Fehler und was geplante Lücke ist. Dass es sich bei Werbung ebenso wie bei Kunst um „offene Formate  handelt, die viele Interpretationen zulassen“ hätte ich nun nicht vermutet, da ich eher davon ausgehen würde, dass Werbetext minutiös geplant sind, um eine treffsichere Wirkung für ein konkretes Produkt zu erzielen, doch darum soll es hier nicht gehen. Nicht ganz nachvollziehbar erscheint mir auch die Schlussfolgerung, dass per se ‚offene Formate’, bei denen man einen „großen Teil der Deutung [...] selber beisteuern“ muss, „sich leichter als andere produzieren lassen“ (S. 75). Das Gegenbeispiel hierzu nennt Passig selbst, wenn sie auf die seit 2007 von verschiedenen Anbietern erfolgreich mit Computerprogrammen produzierten Sport- und Aktienberichte eingeht, bei denen es sich mit Sicherheit um lückenlos eindeutige Textbotschaften handelt, die sich offensichtlich ebenso einfach erzeugen lassen (vgl. S. 58).

Wie schwer es allerdings ist, sich als Mensch in eine Maschine zu verwandeln, auch wenn man das noch so gerne möchte, kann Passig ebenfalls aus einschlägiger persönlicher Erfahrung erklären. Ihr Bachmann-Projekt oder Experiment – wie auch immer man das nennt – war „aus zwei Wochen strategischem Handwerk“ entstanden, d. h. es war nicht als Ergebnis persönlicher Kreativität sondern als Umsetzung empirischer Beobachtung von Juryentscheidungen geplant gewesen. Umso ‚unangenehmer’ war ihr, dass „am Ende ein ziemlich persönlicher Text“ herauskam (S. 73).

Bei dem Thema „Kritik“, d. h. konkret Blogs und Vlogs, zu dem Passig auch den 2018 auf literaturkritik.at veröffentlichten Beitrag von Lothar Struck zitiert (so schließt sich der Link-Kreis), geht es Passig wiederum nicht um die Beurteilung irgendeiner Art von vorhandener oder nichtvorhandener Qualität, sondern um eine weitere Entmystifizierung bzw. Entblößung einer heiligen Kuh des Literaturbetriebs. Die ‚Kuh’, d. h. das von Passig gewählte Beispiel hierfür, ist der bloggende Literaturkritiker Stefan Mesch, der bei einem geschlossenen Vortrag zum Thema Book-Tubes und Literaturvideos im Münchner Goethe-Institut bei seinem Publikum auf wenig Zustimmung stieß, weil alles „zu sehr nach Konsum und Shopping“ klang (S. 85). „Das Buch ist keine Ware“ (vgl. S. 86) gehört eben zu den Fiktionen, die zwar nachweislich nicht aufrechtzuerhalten, aber ebenso nachweislich von erstaunlicher Langlebigkeit sind.

Last but not least geht es am Ende des Büchleins auch um die Frage: Buch oder Nicht-Buch, heißt E-Book.  Eigentlich hatte ich mir schon während des Lesens andauernd die Frage gestellt, warum ausgerechnet dieses Buch ein Buch geworden ist anstatt ein digitales Dingsda in welcher Form auch immer, jedenfalls eines, wo man die Links gleich anklicken und das betreffende Objekt auch gleich anschauen oder sogar lesen kann (z. B. den sehr vergnüglichen Hypertext von Passig[7], den sie selbst seinerzeit für den Pegasus-Preis verfasst, ab nie eingesandt hatte, vgl. S. 7). Die Antwort (abgesehen von prosaischen Gründen, die nichts mit Passig sondern mit Verlag und Veranstalter der Grazer Vortragsreihe zu tun haben) gibt die Autorin am Ende selbst: Nach einer Lesung von „digitaler konzeptueller Literatur“ (0x0a von Gregor Weichbrodt und Hannes Bajohr) habe sie beschlossen „noch am selben Abend, bei der nächsten Gelegenheit aus allen eigenen Projekten Papierbücher zu machen“ (S. 104). Der Grund dafür: die Werke von Weichbrodt und Bajohr stehen zwar als downloadbare PDFs zur Verfügung, doch dank der ebenfalls angebotenen gedruckten Papierbücher war es „an diesem Abend  so viel leichter zu erklären, was Hannes Bajohr und Gregor Weichbrodt machen und viel unübersehbarer, dass es sich um Richtige AutorenTM handelt, als wenn wir über irgendwas im Netz Veröffentlichtes geredet hätten.“ Also schließt Passig mit der rhetorischen Frage: „Warum nicht einfach die Sprache sprechen, die allgemein verstanden wird“ (S. 104). Luhmann würde antworten: Wegen der „unwahrscheinlichen Evidenz“ von Kunst und Literatur (Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/Main 1997, S. 191), heißt:  weil es ohnehin unwahrscheinlich ist, dass A+B sich verstehen und wir zwar eine Sprache haben, die diese Unwahrscheinlichkeit etwas verringert, doch Kunst und Literatur dafür nicht zuständig sind ... Und nun sind wir wieder bei dem Unverständlichen, in das Passig sich bemüht hat, etwas Klarheit zu bringen. Das ist durchaus erfreulich!

 

Renate Giacomuzzi, 09.08.2019


Anmerkungen:

[1] Grazer Vorlesungen zu Kunst des Schreibens, URL: https://germanistik.uni-graz.at/de/forschen/grazer-vorlesungen-zur-kunst-des-schreibens/ [Stand: 25.04.2019].

[2] Daniela Strigl: Alles muss man selber machen. Biographie. Kritik. Essay. Graz: Droschl 2018 (Zur Kunst des Schreibens, Bd. 1).

[3] Renate Giacomuzzi: „Totgeglaubte leben länger...“. Zu Friedrich W. Blocks "p0es1s. Rückblick auf die digitale Poesie" (Klagenfurt und Graz: Ritter 2015) in: literaturkritik.at, 27.7.2016, URL: https://www.uibk.ac.at/literaturkritik/rezensionen/-totgeglaubte-leben-laenger-...-.html [Stand: 25.04.2019].

[4] Christian Benne: „Lesen, nicht klicken“. In: Die Zeit,  1998, Nr. 37, S. 73.

[5] Beat Suter: Von Theo Lutz zur Netzliteratur. Die Entwicklung der deutschsprachigen elektronischen Literatur, Netzliteratur.net, URL: https://www.netzliteratur.net/suter/Geschichte_der_deutschsprachigen_Netzli-teratur.pdf, S.22 [Stand 24.04.2019].

[6] Siehe @JoyceCarolOates und @MargaretAtwood.

[7] Ali und Erwin gewinnen im Zeit-Internet-Literaturwettbewerb, URL: http://www.parkverbot.org/elroy/zeit.htm [Stand: 25.04.2019].