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Die graue Eminenz des österreichischen Theaters

Dagmar Heißlers Monographie zu Ernst Lothar. Von Maria Piok

 

Dagmar Heißler: Ernst Lothar. Schriftsteller, Kritiker, Theaterschaffender. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2016 (Literaturgeschichte in Studien und Quellen, Bd. 25).480 S. ISBN 978-3-205-20145-8. Preis [A]: 60,00 €

 

Ernst Lothar – 1890 in Brünn als Sohn einer jüdischen Advokatenfamilie geboren, die bald nach der Jahrhundertwende nach Wien übersiedelt – avanciert nach ersten schriftstellerischen Anfängen rasch zu einem namhaften Literaturkritiker und Kulturfunktionär; in den 1930er Jahren wird er Gastregisseur am Wiener Burgtheater, dann auf Veranlassung von Max Reinhardt Leiter des Theaters in der Josefstadt. Damit beginnt eine lange Karriere als Theatermann, bei der Lothar als Stückbearbeiter, Regisseur und Bühnendirektor die österreichische Theaterlandschaft maßgeblich beeinflusst. 1938 zur Emigration gezwungen, behauptet er in den USA seine Existenz als freier Schriftsteller und Dozent, um nach dem Krieg als (durchaus wirkungsmächtiger) amerikanischer Kulturoffizier zurückzukehren. Als Lothar 1962 – nach jahrelanger Tätigkeit als Regisseur bei den Salzburger Festspielen und als Oberspielleiter des Burgtheaters – in den Ruhestand tritt, verlässt er als ebenso gerügte wie viel gerühmte Persönlichkeit die Bühne.

Die Nachwelt jedoch bekundet nur mehr wenig Interesse an Ernst Lothar: Dagmar Heißlers umfassende, auf ihrer Dissertation beruhende Monographie ist die erste ausführliche Auseinandersetzung mit seinem „Leben, Wirken und Werk“ (S. 9) – einem Werk, dass mittlerweile so sehr der Vergessenheit anheimgefallen ist, dass sich die Autorin dazu genötigt fühlt, detaillierte Inhaltsangaben zu liefern; diese sind uninteressant genug, um LeserInnen von jedweder Lothar-Lektüre abzuhalten. Heißler verhehlt nicht, dass Lothars schriftstellerische Arbeiten an moralisch-belehrender Eindeutigkeit und Melodramatik kranken; auch die stärker wahrgenommenen Exilromane will sie „nicht nur unter primär literarischen Aspekten, sondern zum Teil auch als politisch motivierte Arbeiten und Österreichwerbung“ (S. 381) verstanden wissen. Das schriftstellerische Werk Lothars wird also weniger unter literarästhetischen Gesichtspunkten denn als Ausdruck persönlicher bzw. zeitpolitischer Umstände betrachtet, die auch die – sehr genau nachgezeichnete – Werkgenese und Rezeption prägen.

Gesellschaftliche und politische Hintergründe stehen auch bei Heißlers Beschäftigung mit Lothars Biographie im Vordergrund: Obschon die Arbeit zu einem guten Teil auf der Auswertung unveröffentlichter Briefe aus dem Nachlass basiert, verzichtet die Autorin auf allzu Persönliches (selbst dann, wenn sie sich – wie bei der Schilderung der Exiljahre – hauptsächlich auf die Korrespondenz Lothars mit seiner zweiten Ehefrau, der Schauspielerin Adrienne Gessner, stützt). Zu Recht erkennt sie den Wert ihrer Untersuchung in der Beschreibung von Künstlernetzwerken, Mechanismen des Theaterbetriebs sowie den Wechselbeziehungen von soziopolitischen Ereignissen und kulturellem Leben. Somit ist das Buch vor allem als Bericht über wesentliche Tendenzen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lesenswert: Lothars anfängliche Begeisterung für den Ersten Weltkrieg, Verfolgung und Vertreibung durch die Nationalsozialisten, Exilerfahrungen, die ihn in einem Anflug von Heimweh und Patriotismus dazu verleiten, Österreich als Hitlers erstes Opfer zu stilisieren; seine Rückkehr in ein zerstörtes Wien, in dem er bei der Entnazifizierung als „Rache-Lothar“ (S. 247) auftritt und wider das Vergessen anschreibt; der ihn ereilende Vorwurf, in einem besonderen Nahverhältnis zum Kommunismus zu stehen – dies alles spiegelt Erfahrungen einer Generation wider, die Heißler über die Biographie Lothars verstehbar zu machen versucht. Viel Platz räumt sie darüber hinaus den Fehden um wichtige Posten ein – insbesondere um das Amt des Burgtheaterdirektors, das Lothar immer wieder vergeblich anstrebt –, um einen Einblick in das (Nicht-)Funktionieren des österreichischen Kulturbetriebs zu gewähren.

Methodische Zugänge erläutert Heißler nur sehr knapp, theoretische Werke, die sie ihrer Analyse zugrunde legt, werden nur am Rande angeführt (immerhin fehlt der Name Bernhard Fetz nicht in den Literaturangaben) – mehr ist jedoch auch nicht unbedingt notwendig, da Heißlers Herangehensweise relativ simpel ist: Sie nähert sich ihrem Gegenstand in erster Linie als akribische Sammlerin von Daten und Fakten, die sie, Lothars Lebensgeschichte weitgehend chronologisch verfolgend, im Detail und meist ohne Wertung auflistet. Lohnend ist dabei vor allem der Blick in die Fußnoten – nicht nur, weil sie Auskunft über Heißlers sorgfältige Recherche geben, die nicht zuletzt Theaterkritiken zu allen Inszenierungen Lothars erschließt, sondern vor allem auch, weil sie interessante Zusatzinformationen bergen; außerdem erfährt man hier bei mancher Formulierung, über die man stolpert, dass sie von Lothar selbst stammt.

Der Versuchung, Lothars Selbstaussagen, insbesondere aus seiner Autobiographie Das Wunder des Überlebens, blind Glauben zu schenken, widersteht Heißler aber konsequent; dank ihrer intensiven Auseinandersetzung mit den Quellen gelingt es ihr auch mehrmals, seine Äußerungen zu widerlegen (etwa die nicht unwesentliche Behauptung Lothars, er habe das Wort ,KZ‘ erstmals nach seiner Rückkehr aus dem Exil gehört, obgleich er es, wie Heißler nachweist, bereits in einem Brief von 1942 verwendet). Zum Schluss wird schließlich auch nachgereicht, was man bislang bei der Lektüre vermisst hat: Neben einer ausführlichen Bibliographie der Werke Lothars und einem Verzeichnis aller Inszenierungen – über die man längst den Überblick verloren hat – findet sich am Ende ein Fazit, das die im Hauptteil aneinandergereihten Fakten zusammenführt. Übt sich Heißler bis hier sehr stark in wissenschaftlicher Zurückhaltung, wagt sie nun doch einen kritischeren Blick auf Werk und Wirken Ernst Lothars. Wichtig ist dabei vor allem die Beobachtung, dass Lothars Stückauswahl für seine Inszenierungen keinesfalls völlig beliebig war, sondern vielmehr durch ein „prononciertes Österreichbewusstsein in einem gewissen Maße dem kulturellen Selbstverständnis des austrofaschistischen Ständestaates und auch dem der jungen Zweiten Republik“ (S. 376) entsprach. Dass Dagmar Heißler gerade mit solchen Erkenntnissen weitere kritische Forschungsarbeiten zur österreichischen Theaterszene des 20. Jahrhunderts anregt, bleibt zu hoffen.

Maria Piok, 15.05.2017