Die Rache des Kritikers
A. O. Scott: Kritik üben. Die Kunst des feinen Urteils. München: Carl Hanser Verlag 2017. ISBN 978-3-446-25467-1. Preis [A]: 22,70 €.
Alles begann mit einem Tweet. "#Avengers fans,NY Times critic AO Scott needs a new job! Let's help him find one! One he can ACTUALLY do!" twitterte Samuel L. Jackson am 3. Mai 2012 als Reaktion auf eine negative Besprechung von Joss Whedons Blockbuster The Avengers in der New York Times. Der Logik des Netzes folgend ergoss sich noch ein Shitstorm der Fans über denjenigen, der es gewagt hatte, sich kritisch über das Superheldenspektakel zu äußern. Interessanterweise ging es Jackson in erster Linie nicht darum, die Qualität des Filmes zu verteidigen, vielmehr befand er, dass intellektuelle Kritik dem hedonistischen Prinzip des Actionfilms prinzipiell widerspräche. Scott wiederum, das kann er in seiner Beschreibung des Vorfalls nicht verbergen, fühlte sich in seiner Kritikerehre verletzt. Jacksons poltrige Intervention gefährdete Scotts berufliche Stellung beruhigender Weise nicht, einen Effekt zeitigte sie aber trotzdem, nämlich jenen, dass Scott, seit 1999 Kritiker bei der New York Times, vorher Assistent bei der New York Review of Books, die kleine Privatfehde zum Anlass nahm, über das Wesen und den Zustand der Kritik nachzudenken und das Ergebnis in Buchform zu packen.
Scott beleuchtet Funktion und Stellung des Kritikers von verschiedenen Seiten und auch die zwangsläufig auftauchenden Fragen rund um die Kritik, angefangen von jener nach ihrem Wesen, werden behandelt. Neu ist davon nichts. Das muss es allerdings auch nicht sein, Scotts Buch versteht sich weder als Einführung noch als wissenschaftliche Abhandlung, es ist vielmehr ein in gebührender Leidenschaft bis überzogener Pathetik vorgetragenes Plädoyer für die Kritik als „spätgeborene[n] Zwilling der Kunst“ (S. 29):
„Ich behaupte hier, dass Kritik nicht nur die Lebenskraft der Kunst nicht zerstört, sondern dass sie es ist, die ihren Lebenssaft liefert; dass Kritik, wenn man sie recht versteht, keine Feindin ist, gegen die man die Kunst verteidigen muss, sondern vielmehr ein anderer Name der richtige Name für die Verteidigung der Kunst selbst“ (ebd.).
Hier deutet sich auch schon an, was das Problem mit Scotts Manifest ist, denn als nichts weniger will der Filmkritiker seinen Text gelesen wissen: Er operiert zu leichtfertig mit Begriffen wie richtig und falsch, was andere, sehr lesenswerte Passagen etwa über Kants Kritik der Urteilskraft ad absurdum führt. Amüsant ist die Beschreibung antikritischer Ressentiments, die Kritiker als miesepetrige Besserwisser und verunglückte Künstler geißeln. Von Vorteil wäre es, diese Vorurteile nicht selbst zu bestätigen. Dass Scott das nicht immer gelingt, kann man ihm durchaus vorwerfen, tritt er doch als Fürsprecher für die professionelle Kritik auf. Da hilft es nicht unbedingt, „ein Manifest gegen Faulheit und Dummheit“ anzupreisen, auch wenn er das im nächsten Satz positiv umdeutet, als eine „Verherrlichung von Kunst und Phantasie, eine Erkundung unseres angeborenen Triebes, Vergnügen zu kultivieren, und der verschiedenartigen Wege, auf denen wir diesen Impuls verfeinern“ (S. 21). Das implizite Eigenlob und die Selbststilisierung als Kritiker aus Berufung schüren auf Dauer ein leises Unbehagen.
Worum es Scott eigentlich geht, kann man dem englischen Titel entnehmen. Der deutsche Titel Kritik üben hat zwar zweifellos Sprachwitz, ist aber leider irreführend. Im englischen Original lautet er nämlich Better Living Through Criticism, was Scotts Ansinnen und seinem Sprachduktus besser entspricht. Zu kritisieren im Sinne von abzuwägen, sich Gedanken machen und nicht nur sinnlich abgestumpft zu konsumieren, zu versuchen, ein Werk tatsächlich zu ergründen, ist für Scott Charakterbildung und zwar eine, die durch das Überangebot zunehmend erschwert wird. Sich von der Unkultur der Sozialen Medien erschlagen fühlend, wird Scott schon mal arg pädagogisch und ruft zu „Wachsamkeit, Disziplin und Neugier“ auf, um sich „den Tröstungen von Gruppendenken, Vorurteil und Ignoranz“ (S. 21) zu entziehen. Da schwingt auch eine gehörige Portion Kulturpessimismus mit und man bekommt fast den Eindruck, die „beliebigen anderen Menschen“ (S. 20), also die Nicht-Kritiker, wären des reflektiven Umgangs mit Medien und Kunst nicht fähig. Auch dieser Vorwurf ist nicht neu und wiederholt sich mit jeder Generation. Dennoch ist das der interessanteste Teil von Scotts Manifest: Die Frage nach der Funktion des Kritikers in einer unüberschaubar gewordenen Medienlandschaft, sowohl auf ProduzentInnen- als auch auf RezipientInnenenseite. Das Angebot ist dermaßen ausufernd, dass es wichtiger denn je ist, sich auf jemanden verlassen zu können, der eine Vorauswahl trifft:
„Dieser Zustand staunender Paralyse schreit nach Kritik, die verspricht, das Überangebot zu sortieren, bei der Entscheidungsfindung zu helfen, als Türhüterin für unsere belagerten Sensorien zu fungieren. Es gibt nur begrenzte Zeit, begrenztes Geld, begrenzten kognitiven Raum, und wir können etwas Hilfe gebrauchen, um davon weisen Gebrauch zu machen. Die Ironie ist, dass die Kritik ihre eigenen Überschüsse produziert, da sie sich in so rascher Reichlichkeit reproduziert, dass sie mehr wie ein kulturelles Abfallprodukt wirkt als wie ein unentbehrlicher Nährstoff, was zu der Unordnung beiträgt, für deren Beseitigung sie sorgen soll“ (S. 285).
Mehr denn je kommt der Kritik die Funktion als Gatekeeper zu. Sie selektiert und sortiert, bringt Ordnung ins Chaos, ist Richterin und Dienstleister zugleich. Im deutschsprachigen Feuilleton wurde Scotts Buch durchwegs gut aufgenommen. Das zeigt allerdings auch eines, nämlich dass es in erster Linie für Kritiker selbst interessant ist. Da schwingt ein bisschen Trotz und Selbstüberhöhung mit, eine Verteidigungshaltung und eine Stilisierung der Kritik als geschasste Gattung. Worum es nicht geht, wie der Untertitel Die Kunst des feinen Urteils glauben macht, ist die Basis und Struktur der Wertung. Wie Scott oder andere Kritiker zu ihren Urteilen kommen, bleibt außen vor, Wertungskriterien spielen keine Rolle, zu sehr fokussiert der Autor auf die Person des Kritikers: „Die Kritik ist nicht so sehr eine Sache der Technik oder der Form wie eine der Persönlichkeit“ (S. 185). Dagegen ist nichts einzuwenden, doch wo Scott ein Buch über die Kritik als Kunst schreiben wollte, das die RezipientInnen motiviert, im alltäglichen Umgang mit Kunst selbst kritisch tätig zu werden, hat er ein Wahrheit ein Buch über die Figur des professionellen Kritikers vorgelegt.
Ob einem die dazwischengeschalteten Frage-Antwort-Kapitel, die als Dialog des Kritikers mit sich selbst inszeniert sind, gefallen, ist Geschmackssache. Scott setzt sie durchaus strategisch ein, um harsch vorzupreschen und den gerade vorgebrachten Punkt postwendend zu relativieren. Doch was gesagt ist, ist gesagt und das weiß Scott natürlich auch. Müsste man Scotts Methode auf sein eigenes Buch anwenden, könnte das so aussehen:
F: Findest du das Buch tatsächlich so schrecklich?
A: Naja. Das kam jetzt wohl alles etwas hart rüber. Natürlich hat das Buch auch seine Stärken. Die vielen Beispiele sind toll und unterhaltsam. Und wer trockene Theorie zur Kritik lesen möchte, der hat ja genügend Auswahl. Aber ein bisschen ichbezogen und dogmatisch ist das ganze halt schon, findest du nicht?
F: Nein, eigentlich nicht.
A: Du störst dich gar nicht dran, dass Scott sich als missverstandenes Opfer eines ignoranten Hollywoodstars inszeniert? Als der Nerd vom Schulhof, der jetzt endlich die Macht hat, mit Worten zurückzuschlagen?
F: Das ist jetzt aber arg übertrieben. Du unterschlägst das ganze vierte Kapitel: „Das Problem mit den Kritikern“. Da hinterfragt er ja schon sich selber und seine Profession.
A: Eine alte Taktik des Kritikers, um sich selbst in einem noch besseren Licht dastehen zu lassen.
F: Du tust grade so, als ob …
Das wirkt auflockernd und kurzweilig, allerdings auch bemüht humoristisch und ist auf Dauer etwas albern. Dann auch noch darauf hinzuweisen, dass dieses Format David Foster Wallace’ vor schwarzem Humor triefenden Kurzgeschichtensammlung Brief Interviews with Hideous Men entlehnt ist, ist nachgerade anmaßend. Das Kapitel „Das Problem mit den Kritikern“ sollte dennoch nicht unterschlagen werden. Die Anekdoten und Beispiele, die Scott hier bringt, sind lesenswert, wenn auch für sich genommen eher interessant als repräsentativ, etwa die Erinnerung an das Schicksal Hermann Melvilles, dem die Kritik übel mitspielte, oder an John Keats, dessen Tod den Kritikern „[a]ls Kollektiv, als eine nur möglicherweise imaginäre, anonyme Verschwörergruppe, die durch Generationen hindurch giftigen Zynismus verbreitete“ (S. 151). Wenig originell bis stereotyp sind die Bilder, auf die Scott zurückgreift, etwa wenn er davon ausgeht, dass jeder von uns „eine innere Kindergärtnerin beherbergt, die Lächeln und Goldsterne und sanfte Mahnungen verteilt, und auch einen inneren Moderator einer Radio-Talkshow, der Häme und Gift verspritzt“ (S. 145). Insgesamt stöbert Scott mal hier, mal da, fängt einen Gedanken an, ohne ihn zu Ende zu bringen, man fühlt sich wie auf einem Gang durch ein überfülltes Museum, auf dem man viel sieht, aber nichts richtig. Am besten ist Scott, wenn es um sein Metier geht, und das ist der Film. Der Schluss seines Buches gehört einem gewissen Anton Ego, dem verbitterten Restaurant-Kritiker aus Pixars Animationsfilm Ratatouille, der am Ende das Genießen wieder lernt, die Kritik an den Nagel hängt und mit dem Künstler, in dem Fall eine kochende Ratte, ein Restaurant eröffnet. Kritiker, Konsument und Künstler ziehen an einem Strang. Ein stimmiger Schluss und auch ein versöhnlicher.
Veronika Schuchter, 03.08.2017