Ein Besuch im Literaturbetrieb
Die große Mischkalkulation. Institutions, Social Import, and Market Forces in the German Literary Field. Hrsg. von William Collins Donahue und Martin Kagel. Paderborn: Brill - Wilhelm Fink 2021. 221 S. ISBN: 978-3-7705-6569-6. Preis [A]: 51,30 €.
Das literarisches Feld ist keine entlegene Insel. Vielmehr ist es eine große, belebte Stadt, an deren Marktplätzen sich verschiedene Transaktionen unter Akteur*innen aus allen Ecken der Literaturwelt vollziehen. Dort gibt es belebte Prunkstraßen neben engen Gassen, repräsentative Festhallen mit ausladenden Bühnen und gemütliche Kneipen, in denen das Persönliche zum Betrieblichen werden darf. Dieser Literatur-Betrieb bildet dementsprechend eine entscheidende Bezugsgröße, um Mechanismen zu erfassen, die den Produktions-, Distributions- und Rezeptionsverhältnissen von Büchern zugrunde liegen. Mit der angewandten Germanistik hat sich im deutschsprachigen Raum ein Forschungszweig etabliert, der sich den vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen den Institutionen und Akteur*innen des Feldes widmet. Dieser Blick auf das literarische Feld, in seinem Spannungsverhältnis aus Autonomiestreben und Marktorientierung, Ästhetik und Cashflow, erscheint für die (professionelle) deutschsprachige Buch- und Lesewelt geradezu als selbstverständlich. In der Auslandsgermanistik – paradoxerweise auch gerade im stark durchökonomisierten US-amerikanischen Universitätsdiskurs – sind indes die gängigen Konzepte und Praktiken des deutschsprachigen Literaturbetriebs noch wenig bekannt. Hier ein Bewusstsein für die unterschiedlichen Diskursfelder zu schaffen, die sich von allgemeinen Impulsen zum strukturellen Phänomen Literaturbetrieb über Literaturkritik, performative und Bühnenformate bis hin zu Übersetzungsthematiken erstrecken, ist das Anliegen eines Sammelbandes, der letztlich genau das leistet, wovon er handelt: eine Mischkalkulation.
Hervorgegangen ist der Band Die große Mischkalkulation. Institutions, Social Import, and Market Forces in The German Literary Field aus dem Notre Dame Berlin Seminar (NDBS). Jährlich finden in diesem Kontext des transatlantischen Austausches der University of Notre Dame und der University of Georgia, unterstützt durch die Max Kade Foundation (New York), breit angelegte Veranstaltungen statt, an denen neben Germanist*innen auch andere Teilnehmer*innen des Literaturbetriebs, von Autor*innen über Verterter*innen der Verlagsbranche bis hin zu Literaturkritiker*innen (nicht selten in Mehrfachfunktion) partizipieren. Die Treffen dienen dazu, die deutsche Literatur und die Rahmenbedingungen ihres Entstehens, ihrer Verbreitung und ihrer Rezeption sowohl einer Fachcommunity als auch dem interessierten Publikum näher zu bringen. Die daraus entstandenen Aufsätze, Essays und Interviews sind in dieser Publikation versammelt, die das Diskursfeld Literaturbetrieb in den fünf Sektionen Literatur/Betrieb, Digitalisierung und Verfilmung, Literaturkritik, Theater und Am Beispiel Übersetzung kartiert.
Im ersten Abschnitt Literatur/Betrieb schreitet Geoffrey Baker das literarische Feld aus einer raumtheoretischen Perspektive ab und betont dabei die zentrale Rolle Berlins für das literarische Geschehen in Deutschland. Das literarische Feld wird so im buchstäblichen Sinne dort verortet, wo sich die Mitglieder der literarischen Community – gemeint sind Autor*innen, Verlagsmitarbeiter*innen und Medienvertreter*innen – irgendwann einmal über den Weg laufen. Und selbst wenn sich das nicht physisch bewerkstelligen lässt, dann treffen sich alle früher oder später im Cyber Space. Marike Jantzen wiederum betont die Bedeutung der titelgebenden Mischkalkulation für den deutschen Literaturbetrieb zwischen Autonomie und Citizenship. Literatur wird hier als wichtiger Bestandteil des deutschen Bildungsbürgertums präsentiert. Das Fördersystem steht dabei ebenso im Fokus, wie der Stellenwert des symbolischen Kapitals, das den Teilnehmer*innen des literarischen Geschehens etwa durch Zuerkennung von Preisen zugutekommt. Buchmessen, Bibliotheken und mit ihnen die vielfältige Archivlandschaft stehen indes im Zentrum des Beitrags von Heidi Madden. Ihr Beitrag leistet einen breit angelegten und übersichtlichen Streifzug durch diverse Institutionen und Bibliographie-Landschaften. Im Beitrag zur „Rolle der Literaturwissenschaft im Literaturbetrieb“ haben sich schließlich gleich vier Autor*innen zusammengeschlossen, um die umfassende Präsenz der Germanistik im literarischen Feld herauszustellen, die insbesondere komplexen Kanonisierungsprozessen dient. Besonders ansprechend an diesem Beitrag ist das darin eingeschobene Interview mit Paul Michael Lützeler in seiner Rolle als Vermittler transatlantischer Austauschbeziehungen.
Ein weiteres Interview – mit der „Aktivistinautorin“ SchwarzRund – schließt den Themenblock Literatur/Betrieb ab und bildet zugleich eine Übergangszone zum Diskursbereich Digitalisierung und Verfilmung. Dieser nimmt im Allgemeinen intermediale Fragestellungen zur Literaturverfilmung in den Blick und problematisiert das Schicksal des Buchs im digitalen Zeitalter. Steffen Richter etwa widmet sich in seinem Beitrag umfassend den vielfältigen Herausforderungen, die sich aus der Digitalisierung für die unterschiedlichen Bereiche des Literaturbetriebs ergeben und geht mithin Jens Jessens Frage nach, die schon David-Christopher Assmann in seiner Monographie Poetologien des Literaturbetriebs beschäftigt hatte: „Verdirbt der Literaturbetrieb die Literatur?“.
Einen zentralen und optimalerweise weniger am Verderben als am reizvollen Vermitteln beteiligten Akteur des Betriebs stellt demgegenüber die Literaturkritik dar, die im Zentrum des dritten Themenblocks steht. Dieser fokussiert etwa TV-Formate wie Gottschalk liest?, aber auch die ganz besondere, vom Spannungsverhältnis aus Konkurrenz und Wertschätzung geprägte Beziehung zwischen Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki sowie allgemeinere Fragen zur Funktion und Bedeutung der Literaturkritik.
Als in seiner Rolle wohl oftmals unterschätzter Bereich des Literaturbetriebs bzw. des Literaturtransfers rückt wiederum das Theater im vierten Abschnitt des Sammelbands in den Fokus zweier sehr reizvoller Beiträge. Im ersten Aufsatz legt Esther K. Bauer anhand des Stücks Kill Your Darlings! Streets of Berladelphia von René Pollesch die Bedeutung von Liebe und zwischenmenschlicher Zuneigung in neoliberalen Zeiten der Netzwerkbildung dar. Die Band-Herausgeber William Collins Donahue und Martin Kegel widmen sich in ihrem Beitrag dagegen dem Stellenwert des Maxim-Gorki-Theaters, den sie im Gespräch mit Ludwig Haugk skizzieren. Da geht es unter anderem um den Wandel, der sich mit dem Wechsel der Intendanz zum Gespann Shermin Langhoff und Jens Hillje und dem Einzug des Postmigrantischen in den Theaterdiskurs vollzogen hat. Als besonders ansprechend erweist sich in diesem Kontext die wiederholte Wahl des Interview-Formats, das den Charakter einer bilanzierenden und zugleich weitere Gespräche anregenden Podiumsdiskussion vermittelt.
Der fünfte und letzte Teil – Am Beispiel Übersetzung – blickt auf eben jenen, von der Germanistik deutschsprachiger Institutionen bislang nur wenig beachteten Themenkomplex. Gerade im Kontext dieses bilingualen (deutsch-englischen) Sammelbands zu Aspekten des deutschen Literaturbetriebs aus der Perspektive anglophoner Forschung, bieten sich solche Fragestellungen an, die Schlaglichter auf bislang unentdeckte Potenziale der Germanistik werfen. Während sich der Beitrag von Molly Knight mit der vielseitigen, gerade auch sprachlichen Identität der jüdisch-deutschen Autorin Barbara Honigmann befasst, nimmt Donna Stonecipher die Leser*innen ihres Essays mit auf eine kuriose Reise durch jene Berliner Kinolandschaft, die ihr den Auftrag zur Übersetzung von Songtexten Andreas Dresens verschafft hatte. Beide Beiträge zu Übersetzungsfragen zeigen, wie erfrischend ein Ausflug über Sprachgrenzen auch für eine Einzelphilologie sein kann.
So bietet der Sammelband von Donahue und Kagel eine breite Perspektive auf den Gegenstand und verschreibt sich damit selbst genau der Metapher der Mischkalkulation (ob in der Auswahl der Beiträge, der Themen oder Schreibweisen), die aber letztlich auch immer Abstriche beinhaltet. Die US-amerikanische Perspektive auf den deutschen Literaturbetrieb schließt zum einen direkt an die Diskurse diesseits des Atlantiks an, kann dabei auf den ersten Blick jedoch mit wenig Innovationspotenzial aufwarten – gerade in Hinblick auf die gut etablierte Literaturbetriebsforschung an deutschsprachigen Universitäten. Jedoch bieten gerade die vermeintlichen Außenperspektiven einen besonderen Reiz, sei es durch die an amerikanischen Universitäten sozialisierten Forscher*innen, die migrantischen Teilnehmer*innen im literarischen Feld oder dessen Akteur*innen in wechselnden – mithin widersprüchlichen – Rollen. Die in die Aufsätze eingewobenen oder als eigene Beiträge konzipierten Gesprächen können dabei zusätzliche Identifikationsangebote und Anschlussmöglichkeiten bieten. Besonders aber Fragen nach der Bedeutung performativer Praktiken im Literaturbetrieb und zur Übersetzung bringen frische Impulse in die Erforschung des literarischen Feldes, diesseits und jenseits des großen Teichs.
So ist Die große Mischkalkulation, aus dem Kontext ihres Entstehens heraus – einem Seminarformat, das sich darum bemüht hat, möglichst breit und niederschwellig Zugänge zum Phänomen deutscher Literaturbetrieb zu schaffen – als eine Art Stadtführung mit unterschiedlichen Guides zu verstehen, die in verschiedene Ecken der Metropole führen und gerade jenen, die hier neu sind, ein gutes Verständnis für die wichtigsten Plätze, Gebäude und Akteur*innen vermitteln können. Aber auch alteingesessene Stadtbewohner können auf so einer Tour einiges lernen und mit diesem Blick von außen ihre eigene Umgebung, die scheinbar zur Selbstverständlichkeit geworden ist, noch einmal neu kennen- und vielleicht die eine oder andere Marotte des eigenen Verhaltens mit einer schönen Portion Selbstironie neu schätzen lernen.
Anna Obererlacher, 11.03.2022