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Eine Abrechnung mit dem Literaturbetrieb

Hans Raimunds „Neigungen“. Von Johann Holzner

 

Hans Raimund: Neigungen. Zuneigungen / Abneigungen / Verneigungen. Porträt des Autors als Leser. Wien: Löcker 2019. 295 S. ISBN: 978-3-85409-983-3. Preis [A]: 29,80 €.

 

Es ist kein Geheimnis, dass sich die österreichische Germanistik bis 1968/70 kaum einmal um die jeweils aktuelle Gegenwartsliteratur gekümmert hat. Seither aber hat sich viel getan; seither, so zieht jedenfalls Hans Raimund in seinem jüngsten Buch Neigungen Bilanz, hat die Germanistik mehr und mehr die österreichische Gegenwartsliteratur „gemacht“, mehr noch: „zu einem großen Teil erfunden“, das heißt wohl: weniges gefördert, vieles übersehen oder abgekanzelt und ausgegrenzt.

Was diesem Befund vorausgegangen ist und ihm nach wie vor weiterhin sekundiert, ist die bittere Erfahrung eines Schriftstellers, der als Lyriker, als Essayist, als Übersetzer in den vergangenen 40 Jahren eine stattliche Reihe von Büchern veröffentlicht und auch etliche angesehene Preise erhalten hat, von der Literaturwissenschaft aber trotz allem kaum einmal gewürdigt worden ist, jedenfalls nicht in der heimischen Literaturlandschaft zwischen Eisenstadt und Bregenz; die Erfahrung eines Schriftstellers, der gleichzeitig beobachten muss, dass in der offiziellen Autorinnen-/Autoren-Ikonographie der österreichischen Germanistik im selben Zeitraum immer wieder, überspitzt gesagt, die gleichen Namen aufscheinen, von Ingeborg Bachmann und Thomas Bernhard bis zu Peter Handke und Elfriede Jelinek, prominente Namen, deren Glanz, das ist gar nicht zu bestreiten, wenigstens ein wenig auch zurückstrahlt auf die Vortragenden, die Lehrenden, die Dissertantinnen und Dissertanten, die sich mit den Werken der weltweit geschätzten und berühmten Schriftsteller/innen beschäftigen. Dagegen bleiben die Biographien, die Fotos, die Werktitel der weniger bekannten Kolleginnen und Kollegen lebenslänglich, allem Anschein nach, in einer riesigen Ausschuss-Schachtel.

So ganz von der Hand zu weisen ist die Kritik Raimunds ja nicht. Wissenschaftliche Arbeiten über etablierte Gegenstände oder Streitfragen bedürfen kaum einer gesonderten Begründung und eröffnen zudem die Perspektive, sich auf einem schon bearbeiteten und gesicherten Gelände zu bewegen. Wer darüber hinaus sichergehen will, mit einem Themenvorschlag zur Mitarbeit an einem Sammelband oder zu einer einschlägigen internationalen Konferenz eingeladen zu werden, tut gut daran, sich auf ein längst schon bekanntes Feld zu konzentrieren; das heißt: auf Autorinnen und Autoren, die auch in Deutschland, nicht selten sogar unter der Rubrik „Deutsche Literatur“ besprochen werden. Aber, über die Wirkungsmöglichkeiten der österreichischen Germanistik sagt das alles dann doch nicht allzu viel. Sie sind doch, ganz anders als Raimunds Befund dies unterstellt, sehr beschränkt.

Denn nach wie vor haben auf diesem Gebiet zunächst einmal die Verlagshäuser das Sagen, in erster Linie deutsche Verlagshäuser. In Österreich allenfalls noch Verlage wie Jung und Jung, Droschl oder Zsolnay, die Bücher nicht nur drucken, sondern auch protegieren. Die wichtigste Unterstützung gewähren oder verwehren dann immer noch die Medien; unter den österreichischen Zeitungen vor allem Die Presse, Der Standard, Die Furche. Wer diese zentralen Schaltstellen der Literaturvermittlung (deren Feuilleton-Seiten seit langem eher schwinden als an Ausdehnung gewinnen) und im Anschluss daran auch die Schwellen der Literaturhäuser nicht passieren darf, also kaum einmal zu Lesungen oder Buch-Präsentationen eingeladen wird, hat gewöhnlich schon verloren. Auch die Literaturwissenschaft kann diesem Prozess so gut wie nie entgegenwirken. Die Sieger nehmen nämlich alles: Einige wenige Autorinnen und Autoren verstehen es, unausgesetzt die eigene Werbetrommel zu rühren, jedes noch so unausgereifte Projekt, jede Stellungnahme zu einem aktuellen Konflikt, jede Bewegung sogar von einem Ort zum andern den Medien bekanntzugeben und damit permanent im Gespräch zu bleiben. Umgekehrt, auch der Rundfunk und die Zeitungen melden und besprechen (beinahe) nur mehr, was schon die Konkurrenz aufgegriffen und ausgebreitet hat. – Bücher aus Kleinverlagen werden in diesem Ringelspiel praktisch nicht mehr wahrgenommen.

So sind denn auch zu Hans Raimunds Neigungen, die der Löcker-Verlag rechtzeitig vor dem 75. Geburtstag des Autors herausgebracht hat, in den österreichischen Zeitungen jedenfalls über die ersten Monate hinweg keine Anzeigen oder Rezensionen aufgetaucht.[1] Das mag bis zu einem bestimmten Grad der (bekannten) „Rappelköpfigkeit“ geschuldet sein, die Raimund gelegentlich sich selbst bescheinigt, hat jedoch ganz gewiss namentlich mit den eben angedeuteten Klippen des Literaturbetriebs zu tun. Dabei versammelt dieses Buch eine lange Reihe von Essays, die den österreichischen Literaturbetrieb der letzten Jahrzehnte keineswegs nur attackieren, sondern vielmehr umsichtig durchforsten und beleuchten; darunter vor allem auch Aufsätze über Literaturvermittler, Herausgeber von Literaturzeitschriften, die Raimund zum Schreiben ermuntert und von allem Anfang an vital gefördert haben: wie Klaus Sandler, Hermann Hakel und Alois Vogel. Raimund hat sie nicht vergessen, setzt ihnen ein Denkmal, stellt in jedem Fall auch ausdrücklich heraus, was ihn mit diesen ebenso streitbaren wie unbestechlichen Persönlichkeiten ganz besonders verbunden hat. – „Le piccole cose“, die unscheinbaren Dinge des Alltags, Beobachtungen und Aufschreibungen über die Phänomene der Natur haben ihn immer schon weit mehr interessiert als die Kultivierung des wahrnehmenden Ichs; mit einer Literatur, die sich von solcher Kultivierung nicht zu lösen vermag, kann und will Raimund, in diesem Punkt ganz d’accord mit seinen Lehrmeistern, nicht länger mehr zu tun haben.

Unter diesem zentralen Aspekt sind die Lektüre-Erfahrungen zu sehen, die in den Neigungen einen breiten Raum einnehmen. Erfahrungen mit „Berühmten“ und mit „Obskuren“; mit Hebel, Stifter, Proust, mit dem „inimitablen“ Trakl-Ton, mit neueren und neuesten Liebesgedichten. Was längst kanonisiert ist, reizt ihn keineswegs von vornherein. Im Akt der Lektüre will Raimund etwas wie „Bezauberung“ vernehmen (allerdings auf keinen Fall  Geheimnis- oder gar Weihevolles). „Arrogant“ nennt er selber diese seine Einstellung, durchaus stolz auf seine Privatkultur. Doch es ist immer spannend, diesen radikal-arbiträren, eigenständigen Lektüre-Spuren zu folgen, den Ausführungen etwa über Helene Flöss und Walter Schlorhaufer, Doris Mühringer, Ingram Hartinger oder Christoph Wilhelm Aigner, dessen Gedichte Raimund an die impressionistischen Klavierzyklen von Erik Satie erinnern, immer spannend und transparent … enttäuschend allenfalls nur für die Fan-Gemeinden der Liebesgedichte von Erich Fried und Peter Turrini.

Es sind vielfach Gelegenheitsarbeiten, die Hans Raimund hier (wieder) abgedruckt hat. Einführungen, Anmerkungen (u.a. zu Ernest Hemingway, Jannis Ritsos und Gunnar Ekelöf), Notizen zu Projekten, Beispiele aus seiner Übersetzerwerkstatt: u.a. Gedichte von J. Rodolfo Wilcock und Henri Cole. Artikel zumeist über Autoren, die er ganz besonders schätzt: Zuneigungen also. An dieser Stelle wäre vielleicht zuallererst Michael Guttenbrunner zu erwähnen, auch ein Autodidakt, auch ein Schüler von Karl Kraus. Sergio Solmi gehört dazu, Attilio Bertolucci, Gerardo Vacana; Raimund, der 13 Jahre in Duino gelebt hat, hat viele italienische Texte ins Deutsche übertragen, vornehmlich  in der Absicht, auf (noch) kaum bekannte, aus seiner Sicht jedoch faszinierende Autoren im deutschen Sprachraum aufmerksam zu machen. Ein „Brief an Peter Marginter“, der sich unter den Nachrufen findet, ist augenscheinlich in derselben Intention verfasst; zugleich ein Zeichen nachgetragener Dankbarkeit, eine Rarität im Literaturbetrieb.

Berichte über (nicht rundum erfolgreiche) Schriftsteller-Begegnungen in Lissabon, in Durres (Albanien) und in Küblis (im Prättigau) sowie Erinnerungen an Triest und an das Mostviertel seiner Kindheit, schließlich auch noch Schlaglichter auf sein „Zuhause im Alsergrund“ stehen am Ende dieses jüngsten Buches von Hans Raimund, das alles in allem doch weit mehr vermittelt als ein Porträt des eigensinnigen Autors aus Hochstraß-Lockenhaus: nämlich eine stattliche Kassette, gefüllt mit zahllosen verführerischen Einladungen zum Nachlesen, zum Gegenlesen oder auch zum Wiederlesen.

 

Johann Holzner, 05.06.2020

 


[1] Anmerkung der Redaktion (06.12.2020): Zwischenzeitlich sind Besprechungen des Bandes erschienen, u. a. am 24.07. von Vladimir Vertlib in der Presse und am 21.11.2020 von Erich Hackl in der Wiener Zeitung.