Einsteigen bitte!
Schmitz-Emans, Monika (Hrsg.): Literatur, Buchgestaltung und Buchkunst. Ein Kompendium. Berlin: de Gruyter, 2019. 1118 S. 120 Abb. ISBN 978-3-11-035534-5. Preis [A]: € 129,95.
Reisen sind aktuell nur unter erschwerten Bedingungen möglich. Sich auf GoogleEarth in entlegene Regionen zu zoomen oder – wie einst bereits Don Quijote – mit dem Finger auf der physischen Landkarte verheißungsvolle Reiserouten nachzuzeichnen, erscheint damit als eine ersatzweise Erfüllung der Sehnsucht nach der Ferne angemessen. Die gedankliche Abschweifung wird dabei gebannt in der Materialität des den flüchtigen Moment überdauernden Buchs, im haptischen und visuellen Erlebnis, ausgehend vom Artefakt, das mehr ist als ein bedruckter Papierblock zwischen zwei Kartondeckeln. Das kunstvoll gestaltete Buch als Ausgangspunkt für Gespräche, in dem Inhalt und Form ineinander fließen, wo neue Kontexte in der Unmittelbarkeit der Begegnung zwischen den Künstlern, Rezipienten und dem Gegenstand geschaffen werden. Reisen durch eben solche Bücherwelten, dazu lädt der Band Literatur, Buchgestaltung und Buchkunst. Ein Kompendium, herausgegeben und maßgeblich mitgestaltet von Monika Schmitz-Emans, ein. Er zeigt auf, wie vielfältig diese „Auseinandersetzung mit dem Buch und seiner Buchhaftigkeit“ (S. XXI) sein kann. Herzstück der folgenden Reise ist das Vehikel selbst, das Fortbewegungsmittel, in dem sich Vermittlungsmedium und Gegenstand des Interesses überschneiden: ein Bücherzug.
Am Bahnsteig: Reisevorbereitungen
In der imaginären Bahnhofshalle fällt der sehnsuchtsvolle Blick des unentschlossenen Reisenden auf die Anzeigentafel der Destinationen. Jeweils als Züge bzw. Zuglinien ließen sich jene fünf Abschnitte (von A bis E) beschreiben, die den Band Literatur, Buchgestaltung und Buchkunst. Ein Kompendium in seinem Kern strukturieren. Entsprechend wären die Unterkapitel als Waggons zu verstehen, die wiederum untergliedert sind in Abteile und Sitzplätze in Form einzelner Kapitel und Fallstudien. Die im Zug Reisenden, die Geschichten unzähliger Beispiele für Künstlerbücher und Buchkunst, kommunizieren miteinander, halten sich mehr oder weniger lange in der Bahn auf, wechseln den Schauplatz, steigen ein und aus. Und schließlich kreuzen sich auch die Züge selbst, die Lokomotivführer*innen nicken sich dabei anerkennend zu. Während einige Linien als Bummelzug gemütlich durch die Landschaft fahren, viele Stopps einlegen und einen genussvollen Blick in die vorbeiziehende Landschaft gewähren, erweisen sich andere als Hochgeschwindigkeitszüge, denen nicht weniger Respekt gebührt, die möglicherweise sogar jene anerkennende Ehrfurcht auslösen, die einen beim Einfahren eines Shinkansen in einen geordneten, hochglanzpolierten japanischen Bahnhof ereilt. Da heißt es: noch schnell eine Lunch-Box am Bahnsteigkiosk erwerben und schon kann die aufregend-rasante Reise beginnen. Einmal quer durchs Streckennetz, das alle bekannten Kontinente dessen, was sich im Entferntesten noch unter Buchgestaltung und Buchkunst fassen lässt, verbindet. Alle einsteigen bitte!
Buchkunst und Buchgestaltung durch Raum und Zeit
Sowohl die Topographie des 1118 Seiten starken Bands als auch die zeitliche Verortung des bearbeiteten Gegenstands erschließen sich, nicht zuletzt dank eines umfangreichen Inhaltsverzeichnisses, auf den ersten wachen Blick. Die vertiefende Lektüre verrät sodann, dass mit dem 19. Jahrhundert im Kontext zunehmender Alphabetisierung, der Neubewertung und -Gestaltung des Kinder- bzw. Bilderbuchs die Buch-Literatur, das Künstlerbuch und Buchkunst einen Aufschwung erleben. Über die vielen sprach- und gestaltungsexperimentellen Werke der Wende zum 20. Jahrhundert hinaus, sind es ausgerechnet die den Untergang des Buches als leitendes Medium proklamierenden 1960er Jahre, die innovative und theoretisch untermauerte, radikal an die Grenzen zwischen Gegenstandskunst und entmaterialisiertem, fragmentiertem Werk heranreichende Artefakte hervorbringen. Schriftsteller und bildende Künstler nehmen intensiv an Diskursen über Kunst teil und häufig kommt es zu einer Entdifferenzierung zwischen Theorie und Praxis, zwischen abstrakten Konzepten und konkreter ästhetischer Arbeit: „Das Buch wird zum Thema, dem sich vielfältige kreative Impulse abgewinnen lassen; es wird literarisch und künstlerisch gestaltet und zugleich zum Gegenstand der Reflexion.“ (S. 3)
Zug fährt ein
Nach dem ausgiebigen Studium aller Reisebedingungen beginnt die Fahrt im als Teil A betitelten Abschnitt. Dieser kontextualisiert Buchkunst etwa im Aufkommen des Taschenbuchs und im Bewusstsein der 1960er Jahre für das Buch als Medium der Kunst jenseits seiner primären Funktion als Träger von Informationen. Während ein Zugabteil für die herausragenden buchkünstlerischen Arbeiten von William Blake und William Morris reserviert ist, liegt in anderen der Fokus auf literarischen Werken, die ihre „Buchförmigkeit“ (S. 43) zur Schau stellen und dabei etwa durch Laurence Sternes Tristram Shandy, E.T.A. Hoffmann oder Mallarmé vertreten werden. Ein paar Türen weiter sitzt Judith Schalansky, die mit Giraffen im Gepäck reist und als Autorin und Buchkünstlerin gleichsam beide Sphären zusammen für ihr Werk konstruktiv macht. Am Gang begegnen einem neuartige Begriffe wie „bookness“ (S. 51) und „Liberatura“ (S. 52) und Bücher, die zu Orientierungshilfen avancieren, Fläche und Raum kreierend, Zugänge zum „Textall“ (S. 73) schaffen: auf einem Gattungsspektrum zwischen Buchlyrik, Collagebüchern und Papierdramatik. Buch ist dabei noch viel mehr, mehr als Hülle, es ist Übertragung und Metapher. Sowohl in der bildlichen Darstellung (man denke hier etwa an Arcimboldos Bibliothekar) als auch in der Sprache selbst. Bis sich das Feste, zwischen zwei Pappdeckeln steckende verflüssigt, um anschließend, wieder materiell zugänglich zu werden. Denn die sinnliche Komponente ist es wohl auch, die den besonderen Reiz des Buchs ausmacht: haptisch, visuell, olfaktorisch, akustisch. Das wusste nicht zuletzt Andy Warhol bei der Gestaltung seines berühmten Index Book. Der Schreibprozess an sich, rückt im Kontext der Schreibszene oder der poststrukturalistischen Écriture in den Fokus. Schreiben und Lesen wird zum Thema ästhetischer Reflexion, auch das gehört ganz selbstverständlich in diesen Band. Im letzten Kapitel erzählen schließlich Fallstudien von Werken, Verfahren und Künstlern des 19. Jahrhunderts. Von Dichtern, Grafikern und Buchgestaltern, die sich zunehmend für neue Gestaltungsweisen, Textsorten und Buchgenres interessieren. Umfangreiche und kunstvoll gestaltete Enzyklopädien entstehen hier, Kinderbücher werden neu gedacht. In den Fallbeispielen wird gekleckst, geschnitten, geklebt, gefaltet, collagiert. So bürgt das als Verbindungslinien betitelte letzte Kapitel dieses Abschnitts für einen Reibungslosen umstieg in Teil B.
Ist die Überquerung des Bahnsteigs geschafft, geht es erst einmal zurück in die Vergangenheit. Historische Buchtypen bilden den Einstiegspunkt in Teil B und liefern ein tieferes Verständnis dafür, wie etwa gerade die Bücher der Bibel auf die abendländische Buchgestaltung bis heute eingewirkt haben. Bibelillustrationen in Form kunstvoller Holzschnitte, thematisch besonders häufig in der Genesis oder der Darstellung der Apokalypse angesiedelt. Auch Formate wie Stundenbücher quer durch die Literaturgeschichte (Rainer Maria Rilke und Eugen Gomringer zentral gesetzt) finden sich, die Wagons erkundend und ein ruhiger Platz ist hier schon für Robinson Crusoe reserviert, der fleißig sein Kaufmannstagebuch pflegt – seine missliche Lage in Form einer Soll- und Haben-Rechnung abzuwägen versteht. In diesem Reisezug wird generell gern geschrieben, die Handschrift zum zentralen Moment (Umberto Eco) und so manche Besonderheit aufgespürt: der Codex Seraphinianus des Architekten Luigi Serafini etwa, ein Kodex, der sich der Entschlüsselung grundsätzlich verweigert. Ein Buch, das in Schrift und in dem Dargestellten ausschließlich Fremdes zeigt, im vorliegenden Band sogar mit Abbildung, zur Illustration. Kurioses und Fantastisches zwischen Wissenschaft und Imagination finden sich in zweckentfremdeten Vogelbestimmungs- und Monsterbüchern, Bestiarien und besonderen kartographischen Werken, die unser Raumverständnis neu eichen oder völlig auf den Kopf stellen. Die Welt in Form eines „Lesikons“ (S. 363) zu erkunden, das gelingt hier mühelos auf ganzer Linie. Das macht Lust zum Weiterlesen, zur Weiterreise.
Der Zugang zum Buch an sich, bevor die Inhalte sich in den Vordergrund drängen, zur Schrift, zum Alphabet, erschließt sich in Teil C, der sich ABC-, Kinder-, Bilder- und Spielbüchern verschrieben hat. Das sind initiierende Instanzen für angehende Leser. Darunter fallen etwa Fibeln, klassische Initiationsbücher aber auch Arbeiten von Walter Benjamin in seiner Faszination fürs Alphabet. Besonders hervorzuheben ist die gut herausgearbeitete Überschneidung zwischen Kinder- und Künstlerbuch, die gerade an der Entwicklung des Bilderbuchs im Zeichen sich wandelnder Zeiten und pädagogischer Konzepte, in unterschiedlichen nationalen Traditionen und Kunstströmungen evident wird. Hinter dem Buch im Buch zwischen Cervantes und Walter Moers und einer Reihe von Spielebüchern schließt sich die Türe und lässt einen an der nächsten Haltestelle gleich kindlich-begeistert auf den Anschlusszug warten.
Dieser, Teil D, lässt sich von der Faszination für ABC-Bücher sogleich mitreißen und präsentiert Buchtypen, Buchreflexionen, Buchdiskurse von A bis Z. Und tatsächlich ordnen sich die Schlagwörter alphabetisch an, der thematischen Verwandtschaft oder Entferntheit zum Trotz, sodass ähnliche Formate, wie etwa visuelle und konkrete Poesie, topographisch im Buch weit entfernt voneinander liegen – aber genau das macht den lebendigen Reiz dieses Abschnitts aus. Von A wie Album und Scrapbook, über P wie Pop-Up-Bücher oder R wie Rahmungen, Fußnotenromane und andere Paratextkonstrukte in der Buch-Literatur bis hin zu Z wie Zusammenstellungen: Bücher als Sammlungen, Museen, Kataloge, Listen. Besonders zum geselligen Verweilen laden dabei die Studien zu erfundenen Büchern, Rahmungen und Paratext (mit Fokus auf den Einsatz von Fußnoten in literarischen Werken) sowie Meta- und Anti-Büchern ein. Sowohl einer der kürzeren Abschnitte des Bandes zeigt sich hier, wohl aber zugleich auch der bunteste – gute Laune bereitend wie ein Karnevalsumzug.
Vom ABC zum Katalog vollzieht sich der Umstieg in Teil E. 300 Seiten einnehmende Fallstudien zu Buch-Literatur und Künstlerbüchern. Quer durch literarische Strömungen, Traditionen und Gattungen. Dabei jedoch streng chronologisch nach Erscheinungsjahr ab dem 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart angeordnet, ergibt sich rein reihenfolgetechnisch etwa in den 1970er Jahren die reizvolle buch-literarische Nachbarschaft zwischen Gerhard Rühms MANN und FRAU (1972), Italo Calvinos Il castello dei destini incrociati (1973) und den skeptischen Aussichten auf geschichtsträchtige Orte in Rolf Dieter Brinkmanns Rom, Blicke – Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Reise Zeit Magazin (1979). Allein die Namen der Künstlerbücher-Künstler, deren ausgewählte Werke hier noch einmal im Detail vorgestellt werden, produzieren bereits beim Studium des Inhaltsverzeichnisses Farben, Flächen, Formen und allerlei Fantastisches im Kopf: Hier liegt Kokoschkas Träumender Knabe „als kleinformatiges Büchlein (24 × 28,6 cm) mit zehn Blättern, fadengeheftet, das durch sein Querformat auffällt” (S. 883) vor; dort nimmt sich der für seine großflächigen, warm eingefärbten Portraits von Swimmingpools (etwa A Bigger Splash) aus dem sonnigen Kalifornien bekannte David Hockney dem düsteren Grimm’schen Märchen an und übersetzt Six Fairy Tales from the Brothers Grimm in seine eigene klare, schnörkellose Bilderwelt; wieder weiter lädt Sheherezade (1988) von Janet Zweig mit Texten von Holly Anderson zum Daumenkino ein.
Pünktlich fährt der letzte Zug in einen Kopfbahnhof aus umfangreichem Verfasser-, Sach- sowie Personenverzeichnis ein, ruft damit noch einmal einzelne Begegnungen, Stationen und Highlights ins Gedächtnis und weckt zugleich die Vorfreude auf die nächste Erkundungsfahrt mit der ‚transliterarischen‘ Eisenbahn rund um den Globus, mittendurch und darüber hinaus.
Verweilen bitte!
Als Produkt eines langjährigen Forschungsprojekts, gefördert mit Mitteln der DFG, zeugt der Band von der akribischen Sammel-, Kontextualisierungs-, Vermittlungs- und Aufbereitungsarbeit der Autor*innen. Ein Kompendium verspricht der Band dabei im Untertitel zu sein. Wenn die Wikipedia zu diesem Begriff weiß, dass es sich dabei sowohl um ein „kurz gefasstes Nachschlagewerk“ als auch um ein „exzessives Handbuch“ handeln kann, wird schnell deutlich, dass angesichts des Umfangs und der Themenbreite letzteres zutreffen muss. Alles andere wäre falsche Bescheidenheit.
Mit Literatur, Buchgestaltung und Buchkunst liegt eine umfassende Beschäftigung mit dem gestalteten Buch vor. Der Band verweist auf Gestaltung als wichtiges Prinzip, das weit über Schmuck, Zierde, Illustration hinausgeht und zeigt auf, dass Form und Inhalt weniger als getrennte Sphären zu betrachten, sondern als ineinander verwobene, sich gegenseitig bedingende für das sinnliche Wahrnehmen des Mediums essenzielle Bestandteile bilden. Erstaunlich dabei ist, wie es den Autor*innen gelingt, mit für den Gegenstand vergleichsweise wenigen Abbildungen Zugänge zu den vorgestellten Werken zu schaffen, die üblicherweise vorwiegend auf einer visuellen oder haptischen Ebene funktionieren. Dem sprachlichen Geschick der Autor*innen ist es zu verdanken, dass dennoch die Vorstellungskraft ausreichend aktiviert wird.
Wer Literatur, Buchgestaltung und Buchkunst in einem Zug durchlesen möchte, muss schon eine lange Strecke mit vielen Zwischenstopps dafür einplanen. Dann lohnt sich aber die Reise allemal. Die vorgestellten Artefakte, manche fremd, andere aus der Kindheit vertraut, einige bisher wenig beachtete, begegnen einem zwischen dem Wechsel von Sitzplätzen, Abteilen, Waggons oder beim Umsteigen. Wen es in den Speisewagen verschlägt, der verleibt sich im Rückblick auf den 250. Geburtstag von Georg Friedrich Hegel möglicherweise mit Genuss dessen 20 Bände in Wurstform von Dieter Roth ein und trinkt anschließend in den Welten zahlreicher Alice-im-Wunderland-Bearbeitungen und -Aufbereitungen gemütlich Tee mit phantastischen Figuren.
Anna Obererlacher, 20.03.2021