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Literaturvermittlung prädigital

Das Ein-Mann-Netzwerk Klaus Hübner. Von Renate Giacomuzzi

 

Klaus Hübner: Hippies, Prinzen und andere Künstler. Kein Twitter, kein Facebook. Von Menschen, Büchern und Bildern 1. Winnert: p. machinery 2020. 261 S. (Außer der Reihe, Bd. 41). ISBN 978-3-95765-190-7. Preis [A]: 28,70 €.

Klaus Hübner: Kaiserschmarrn, Röschti und andere Schmankerl. Kein Twitter, kein Facebook. Von Menschen, Büchern und Bildern 2. Winnert: p. machinery 2020. (Außer der Reihe, Bd. 42). ISBN 978-3-95765-192-1. Preis [A]: 28,70 €.

 

„Kein Twitter, kein Facebook. Von Menschen, Büchern und Bildern“, so lautet der Untertitel der beiden im April 2020 erschienenen Bände von Klaus Hübner. Auf dem Hochglanzumschlag des einen Bandes grinst unter anderem ein grüner Frosch, auf dem anderen lockt ein Kaiserschmarrn-Foto: Wer zufällig (und glücklicherweise) auf diese beiden Bücher stößt und den Namen Klaus Hübner nicht kennt, ahnt nicht, was sich darinnen verbirgt, nämlich weder Kochrezepte noch Reiseberichte, sondern: Literaturkritik. Nun ist Klaus Hübner nicht der Einzige, der sich nicht brotlos, sondern professionell mit dieser Kunst beschäftigt, doch als Literaturvermittler ist er eine einzigartige Figur, die Aufmerksamkeit verdient. 32 Jahre lang hielt er den 1983 von Peter Kapitza (Iudicium-Verlag) gegründeten Fachdienst Germanistik nicht nur am Leben, sondern lieferte Monat für Monat das, was die Germanist*innen im vordigitalen Zeitalter zum Überleben brauchten, nämlich (wie es auf der Seite des Verlages heißt):

„eine Zusammenfassung fachrelevanter Beiträge aus den wichtigsten Tages- und Wochenzeitungen sowie aus Kultur- und Fachzeitschriften […] jeden Monat einen umfassenden Überblick über aktuelle Diskussionen im Themenbereich ‚Deutsche Sprache und Literatur‘ für das In- und Ausland. Er berichtete über Aktuelles aus dem öffentlichen Leben, aus Hochschulen und anderen Institutionen. Er informierte über Tagungen, Ausstellungen, Gedenktage, Personalia, Preisverleihungen und Verlage und wies auf wichtige Termine (Kongresse u.a.) hin. Vorgestellt wurden sprach- und literaturwissenschaftliche Neuerscheinungen sowie neue Editionen. Ausgewählte Literatur der Gegenwart wurde kritisch präsentiert (siehe Rezensionen). Die dreifach gegliederte Bibliographie bot neben neuerschienener Sekundärliteratur sowie Essays und Portraits zum Bereich ‚Sprache und Literatur‘ auch eine sorgfältige Auswahl von fachwissenschaftlichen Abhandlungen.“

Nicht weniger als all dies verfasste Klaus Hübner im Alleingang und brachte es dann auf den jeweils 20 kleinstbedruckten Seiten im DIN A4-Format unter. Jede/r, die/der das Leben als ‚Auslandsgermanist*in im ‚analogen‘ Zeitalter erfahren hat, weiß, wie wichtig der Fachdienst als verlässliche Informationsquelle war. Vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) großzügig auch an uns österreichische Lektor*innen verteilt – zumindest zu meiner Zeit in Japan Ende der 1990er Jahre – war diese Monatsschrift die Verbindungslinie zur sogenannten ‚Inlandsgermanistik‘, also zum (Macht-)Zentrum, an dem sich die ‚Peripherie‘ orientierte. Der Fachdienst Germanistik, Untertitel: „Sprache und Literatur in der Kritik deutschsprachiger Zeitungen“, war aber nicht nur ein hilfreiches Informationsorgan, sondern er wirkte auch in gewissem Sinne kanonbildend, denn wer ‚drinnen‘ war, war Teil des germanistischen Fachdiskurses, und da dieser sich in der prädigitalen Welt leichter eingrenzen ließ als heute, hatte man damit auch eine stets verfügbare gemeinsame Gesprächsbasis unter Kolleg*innen.

Bevor dieser Diskurs jetzt aber ins Nostalgische abzudriften droht, noch etwas zum Inhalt des Fachdienstes. Dieser bestand zwar vorwiegend aus der bereits zitieren „Zusammenfassung fachrelevanter Beiträge aus den wichtigsten Tages- und Wochenzeitungen sowie aus Kultur- und Fachzeitschriften“, wobei die überaus klug und sachlich zusammengesetzten Überblicksartikel zu großen Debatten im Feuilleton nicht zu vergessen sind. Ich persönlich erinnere mich hier beispielsweise spontan an die Christa-Wolf-Debatte in der Wendezeit. Über die Presseschau hinaus erschienen aber auch vom Feuilleton unabhängige, redaktionelle Inhalte, d.h. von Klaus Hübner verfasste Literaturbesprechungen. Bis zur letzten Ausgabe des 34. Jahrgangs im Dezember 2016 sind insgesamt 1092 Rezensionen erschienen – zumindest ergibt das meine Nachzählung im online verfügbaren Register. Möchte man sich ein Bild vom Literaturkanon eines akademisch gebildeten, liberal eingestellten, westdeutschen Publikums in den 1980er und 90er Jahren machen, findet man in dieser Liste einen guten Anhaltspunkt: neben den Kanon-Autor*innen aus dem ‚Westen‘, von Enzensberger/Grass/Johnson/ über Bernhard/Handke/Jelinek bis Dürrenmatt/Frisch/Hohler u.v.a. die Autor*innen aus ‚dem Osten‘: Thomas Brussig, Christoph Hein, Wolfgang Hilbig, Sarah Kirsch, Günter Kunert, Heiner Müller, Christa Wolf und andere, die seit der Wende nicht mehr im Fokus des germanistischen Interesses stehen. Aber nicht nur die Präsenz des östlichen Deutschlands fällt auf, sondern auch die – zum großen Teil ebenfalls aus der östlichen Hemisphäre Zentraleuropas stammenden – ‚Chamisso‘-Autor*innen: Libuše Moníková, Emine Sevgi Özdamar, Aras Ören, José Olivier, Saša Stanišić, Yoko Tawada …

Von den Preisträger*innen des Chamisso-Literaturpreises zu Klaus Hübner gibt es aber eine ganz persönliche, direkte Verbindung, die er zu diesen Autor*innen durch seine langjährige Tätigkeit im Sekretariat des Adelbert-von-Chamisso-Preises der Robert Bosch Stiftung hatte. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass sich viele dieser Namen auch in der nun veröffentlichten Auswahl von Artikeln zu deutschsprachigen Werken und Autor*innen wiederfinden. Dass das Interesse für interkulturelle/transnationale oder Migrations-Literatur (die Begrifflichkeiten wurden in diesem Bereich immer wieder erneuert) ausgerechnet in dem Teil durchschlägt, der der österreichischen Literatur gewidmet ist, mag manche Leser*innen vielleicht verwundern, doch gibt es genügend gute Gründe, die für eine solche Auswahl sprechen und als rein persönliche Liste steht sie ohnehin über jeder Kritik, denn ‚über den Geschmack lässt sich nicht disputieren‘, heißt es bei Kant,[1] aber das Gespräch über verschiedene Geschmäcker wirkt allemal bereichernd und stimulierend. Und zum Trost möglicherweise orientierungslos herumirrender österreichischer Seelen hat der Autor immerhin Handke zurück in die ‚Nationalmannschaft‘ gestellt, was weder für Handke selbst noch für andere immer selbstverständlich war.

Diese beiden Bände wollen und sollen aber keine Literaturgeschichten ersetzen, sondern sie sind das Zeugnis einer professionellen, kritischen Auseinandersetzung mit Literatur, und als solche können die Literaturkritiken von Hübner durchaus als kritisches Maß gesehen werden – und dies ganz im Sinne von Roland Barthes: „Das Maß des kritischen Diskurses ist seine Richtigkeit“[2]. Die „Richtigkeit“, heißt: intellektuell nachvollziehbare Stimmigkeit des Urteils kann es nur geben, wenn der Maßstab offengelegt wird, der den ‚Daumen‘ mal nach oben, mal nach unten schiebt. Bei Klaus Hübner finden wir diese – scheinbar so selbstverständliche, aber gar nicht so häufig anzutreffende – Voraussetzung jeglichen kritischen Diskurses. Wenn ihm etwas nicht gefällt, dann ‚fällt das Fallbeil‘ nicht von oben herab aus gottähnlicher Position, sondern ganz menschlich erklärt: ‚ermüdend‘ (zu Katharina Geiser, Bd. 2, S. 150) oder ‚enttäuschend‘ (zu Gerhard Roths Labyrinth, ebd. S. 68), aber für den nächsten „Venedig-Roman“ von Roth gibt es dann wieder Lob (ebd. S. 69f.). Im Unterschied zum tendenziell wenig an Verrissen interessierten Feuilleton segnet Hübner also durchaus nicht alles ab, doch seine Kritik gilt niemals einer/m Autor*in, sondern einzig und allein dem Werk, das er gerade bespricht.

Im Vorwort präsentiert sich der Kritiker ein wenig als ‚ewig Gestriger‘, nämlich als „hoffnungslose[r] Idealist[]“ (Vorwort, S. 12), der dem Glauben an die ‚soziale Funktion von Kunst und Literatur‘ nicht abschwören will. Und noch einiges mehr an wundersamen Kräften würde oder möchte der Autor der Literatur zutrauen – es gibt schlimmere Haltungen als diese. Vor allem aber lässt sich aus dieser Haltung heraus eine sehr gut nachvollziehbare, anregende und auch lehrreiche Auswahl von Literatur treffen, die in ganz unterschiedlicher Form auf unsere Gesellschaft reagiert oder „die Utopien und Schrecken von morgen vorausmimt“ – wie Eberhard Lämmert in einem bedenkenswerten Plädoyer für die soziale Bedeutung von Kunst und Literatur einmal äußerte.[3]

So emotional Hübner in seinem Bekenntnis zum sozialen Engagement ist, so gelassen bleibt er in seinem Urteil über die gegenwärtige Medienwelt: „Wer zum Beispiel weder Twitter noch Facebook noch andere angeblich soziale Medien nutzt, wird schon seine Gründe haben. Ein im moralischen Sinne besserer Mensch ist er deswegen noch lange nicht“ (ebd. S. 11). Der Überzeugung aber, dass es immer noch „einige, darunter auch relativ junge Leute gibt“, die die Begegnung mit Literatur und auch mit einem „Buch über Bücher“ (ebd.) nicht scheuen, verdanken wir nun diese zwei Bände mit Interviews, Essays, „Künstlerportraits, Glossen und Streiflichtern aller Art und obendrein auch noch vielen Buchrezensionen“ (ebd.). Von den insgesamt vier geplanten Bänden ist im Oktober 2020 der dritte erschienen mit „Sprachglossen sowie Arbeiten zu Literatur, Kunst, Städten und Landschaften in Bayern“. Material zur Auswahl gibt es für Hübner sicher noch reichlich: „Das Projekt Kein Twitter, kein Facebook […] enthält ungefähr zwei Drittel meiner in den letzten beiden Jahren entstandenen Texte“ (Vorwort, S. 12). Es handelt sich dabei um leicht überarbeitete Texte, die in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften erschienen sind, darunter im Schweizer Monat und im Tagesspiegel.

Blickt man auf die so lange und ergiebige Tätigkeit von Klaus Hübner als Literaturvermittler zurück, so kann man nicht anders, als doch zu bedauern, dass er – oder der Iudicium-Verlag mit Peter Kapitza – nicht doch den Schritt ins Netz gesetzt hat, denn dann hätte man auch für die Zeit vor dem Perlentaucher einen ‚Medien‘-Spiegel einiger Jahrzehnte deutschsprachiger Kultur.

 

Renate Giacomuzzi, 20.03.2021

 


[1] „Über den Geschmack lässt sich streiten (obgleich nicht disputieren)“. Immanuel Kant: Kritik der ästhetischen Urteilskraft. Berlin: Lagarde 1790 u. 93, § 56.

[2] Roland Barthes: Kritik und Wahrheit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1967, S. 84.

[3] Eberhard Lämmert: Nötiger Hinweis zur Fortsetzung der Diskussion. In: Sprache im technischen Zeitalter, 1968/28, S. 344-345.