Manfred Bosch oder das Berufsbild des literarischen Regionalsekretärs
Siegmund Kopitzki, Inga Pohlmann (Hrsg.): Manfred Bosch – literarischer Sekretär der Region. Eine Freundschaftsgabe. Konstanz: Südverlag 2017. ISBN 978-3-87800-107-2. 240 S. Preis: 22,00 €.
I.
Manfred Bosch hat sich mit einschlägigen Publikationen zum literarischen Feld des deutschen Südwestens einen Namen gemacht. Als Standardwerk rezipiert wird seine Bohème am Bodensee, ein Grundlagenwerk zum literarischen Leben der Region zwischen 1900 und 1950. Bosch kann als einer der profiliertesten Vertreter regionaler Literaturgeschichtsschreibung gelten, sein Schwerpunkt liegt im alemannischen Sprachraum, also Südbaden vom Hochrhein bis zum Bodensee nebst Oberschwaben und Vorarlberg. 1947 in Lörrach geboren und aufgewachsen in Radolfzell, später knapp dreißig Jahre bei Basel und heute in Konstanz ansässig, ist Bosch dem alemannischen Raum – den weiland schon Hermann Hesse in seinem Alemannenbuch als kulturelle Gebietseinheit definiert hatte – nicht nur autobiografisch verbunden. Er firmierte ab 1981 auch als Mitbegründer und Herausgeber der Allmende, einer langjährig ruhmreichen Literaturzeitschrift für das gesamte alemannische Gebiet.
Zu Boschs 70. Geburtstag im vergangenen Jahr ist im Konstanzer Südverlag eine Freundschaftsgabe (vulgo: Festschrift) erschienen. Manfred Bosch – literarischer Sekretär der Region lautet der Titel – welcher Region, wird ausgespart. Das könnte ein unfreiwillig insiderischer Gestus sein, aber genauso die Idee eines Paradigmas formulieren: Boschs Wirken wäre dann archetypisch für die Bedeutung von Regionalkompetenz in literarischen Feldern (mehr dazu im Abschnitt II.).
Die Rede vom Sekretär geht zurück auf eine (in der Region offenbar geflügelte) Wendung Martin Walsers und scheint auf den ersten Blick durchaus ambivalent lesbar. Impliziert ein solcher Begriff nicht auch Dienstbeflissenheit (eines Sekretärs) anstelle von Originalgenietum (eines Großschriftstellers)? Für das Selbstverständnis der Feldposition muss das keinen Makel formulieren, im Gegenteil: „‚Literarischer Sekretär’ war und ist für mich ein Ehrentitel“, sagt Bosch im Gespräch mit Siegmund Kopitzki. Dieser repräsentiert als langjähriger Kulturredakteur der Tageszeitung Südkurier eine seinerseits nicht irrelevante Position im literarischen Feld der Bodenseeregion.
Der rund vierzigseitige Dialog der beiden bildet den Schwerpunkt des Buches. Typologisch entfaltet es den seltenen Fall eines Werkstattgesprächs, in dem ein Akteur mit ausgeprägter, nachgerade enzyklopädischer Regionalkompetenz Auskunft über sein frühes Interesse an den Feldstrukturen gibt: Er habe als junger Erwachsener „nicht nur viel gelesen, sondern auch über Literatur Bescheid wissen wollen, über Autoren, den Literaturbetrieb“, so Bosch (S. 13). Wichtig für seine Sozialisation seien neben den „opulenten TV-Dokumentationen über die Gruppe 47“ die „Funkmanuskripte von Literatursendungen“ im Radio sowie „immer neue Probehefte“ von Literaturzeitschriften gewesen. Nicht zu vernachlässigen sei zudem die mehrjährige Prägung durch die Metropole München, wohin er zum Zivildienst einberufen wurde, und die kritische Auseinandersetzung mit Konzepten wie Heimat:
„‚Heimat’, diesem korrumpierten Begriff für eine geschundene Sache, begegnete man damals allenfalls im Zusammenhang mit Ernst Blochs utopischer Philosophie; für sich selber verwendete man lieber das anämische Wort ‚Region’.“ (S. 29).
II.
Bedeutsam erscheint, dass die DNA der alemannischen Region in ihrer „kleinen Internationalität“ liegt. Es herrscht von Straßburg bis St. Gallen und von Bern bis Bregenz ein gleichermaßen regionales wie internationales Zusammengehörigkeitsgefühl vor, gegen das nationale Heimattümelei wenig verfängt.Wenn wir nachstehend (unter III.) skrupulös mit dem Begriff des literarischen Heimatpflegers umgehen, dann auch deshalb, weil Bosch die Konjunktur des Regionalismus stets kritisch reflektierte:
„Dass ‚Region’ und ‚Regionalismus’ damals als Begriffe umgingen, hing vor allem mit der Ölkrise 1973, dem Bericht des ‚Club of Rome’ und mit den Protesten um das AKW Wyhl zusammen, die man mit Fug und Recht als die Geburtsstunde der Grünen ansehen kann. Was war dort passiert? Im Grunde ein Aufstand der Provinz gegen die Metropolen […].“
Zu den vorteilhaften Eigenschaften dieser Festschrift gehört es, dass sie nicht nur regional Relevantes, sondern en passant auch überregional Bedeutsames verhandelt, den Strukturwandel des Mediensystems etwa. Boschs Aussagen zur früheren Funktion von Lyrik als Umbruchhilfe für Blattmacher (vgl. S. 14) haben pressehistorischen Zeitzeugencharakter.
Komplementär zum Werkstattgespräch würdigt der Band weitere Facetten von Boschs Werdegang, namentlich sein Engagement für die alemannische Mundart (als Hörspielautor), seine Bedeutung als Wiederentdecker von Exilautoren wie Max Barth oder Jacob Picard sowie seine Verdienste als Regionalhistoriker (als Chronist des Südverlags).
Des Weiteren veranschaulichen 26 Vignetten – darunter auch solche von prominenten alemannischen Weggefährten wie Martin Walser und Adolf Muschg – Boschs Netzwerk. Regionale Autoren (wie Bruno Epple oder Hermann Kinder), Verleger (wie Ekkehard Faude), Professoren (wie Ulrich Gaier), Literaturvermittler (wie Thomas Scheuffele, der Erfinder der Marbacher Heftreihe Spuren) und Ausstellungsmacher (wie Ute Hübner, die Leiterin des Gaienhofener Hesse-Museums) liefern – was selten genug vorkommt – exemplarische Einblicke in den Humus eines regionalen literarischen Feldes. Nicht zuletzt für diese Forschungsperspektive wird das von den Herausgebern versprochene „Porträt eines Netzwerkers und Heimatkundigen im besten Sinne“ eingelöst. Eine chronologische Bibliografie rundet die Monografie ab, die man über Bosch hinaus auch – feldanalytisch – als Quellenstudie zum Berufsbild des literarischen Heimatkundlers lesen kann.
III.
Wodurch zeichnet sich nun aber das Profil eines literarischen Heimatkundlers aus? Es existiert, wie in allen Berufen des literarischen Feldes, keine genaue Stellenbeschreibung. Die Festschrift für Manfred Bosch lässt Tätigkeiten wie Herausgeberschaften, Archivstudien sowie das Aufnehmen unzähliger literarischer Fingerabdrücke (in gegenwärtigen wie vergangenen Medien) aufscheinen. Bosch selbst hat sein Schaffen in der literarischen Raumkunde einmal vielsagend als „Doppelhelix von Biographie und Topographie“ charakterisiert (vgl. S. 66).
Die Feldposition des literarischen Heimatkundlers ist strukturell eher im Privatgelehrtentum als universitär verankert, auch das macht dieser Band deutlich (vgl. S. 47 und 140–143). Für die institutionelle Literaturwissenschaft bleibt Heimatkunde eine ambivalente Kategorie; vielleicht sollte man besser von literaturgeografischer Raumkunde sprechen.[1] Unbestritten ist Entdeckung des Faktors Raum – modisch als spatial turn bezeichnet – für die Literaturwissenschaft ein produktiver Forschungszweig geworden. Davon künden groß angelegte Projekte wie literaturatlas.eu genauso wie kleinere Einzelstudien, etwa zur Rückkopplung von Regionalkrimis auf touristische Destinationen. Beispielhafte Kartografierungen zu literarisierten Räumen einzelner Schriftsteller wurden zuletzt im Jean-Paul-Taschenatlas und im (auch für digitale Anwendungen konzipierten) Goethe-Atlas deutlich.
Eine literarische Raumkunde, die über das Konzept klassischer Denkmäler und Dichtergedenkstätten hinausreicht, kann literarische Räume unterschiedlichster Formation konturieren, Flussläufe ebenso wie kleine und große Städte oder ganze Kulturlandschaften. Man wird raumbezogene Literaturvermittler für vielerlei Gegenden und Orte finden (Michael Bienert muss zuvorderst für Berlin genannt werden, Hermann Bausinger für Schwaben, Lojze Wieser für seine transnational konzipierte Anthologie-Reihe Europa erlesen), und doch scheint die Szene im Südwesten Deutschlands besonders umtriebig zu sein, wie der Dichtergedenkstättenexperte Bodo Plachta vor einigen Jahren konstatierte. Manfred Bosch hat seinen wesentlichen Anteil daran.
Marc Reichwein, 08.05.2018
[1] Raum, als geografische Gebietseinheit und Forschungsparadigma verstanden, böte gegenüber dem Heimatbegriff den Vorteil einer neutralen Konnotation. Tatsächlich hat Heimat durch politische Instrumentalisierung immer wieder fragwürdige Bewertungen erfahren, historisch wie gegenwärtig. Unter dem Rubrum homeland security dient Heimat als Freibrief für die Allüren eines lückenlosen Überwachungsstaates; als identitär, sprich neuvölkisch verstandenes Konzept wird Heimat zum Agitprop nationalpopulistischer Parteien. Die Übergänge zu einer auf Traditionspflege ausgerichteten, konservativen Regionalpolitik sind freilich fließend. Auf Universitätspolitik übertragen werden politische Gebietseinheiten mit einiger Berechtigung am Raumkonzept von Lehrstühlen für österreichische, schweizerische oder bayerische Literatur festhalten.