Zeichen ohne Seiten oder Wie viel Papier braucht ein Buch?
Jakob Nolte: ALFF. Berlin: Matthes & Seitz 2015. 256 Seiten. ISBN 978-3-95757-142-7. Preis [A]: 18,50 €
Es ist längst nichts Besonderes mehr, wenn literarische Texte zunächst im Netz und anschließend als gedrucktes Buch in einem gediegenen Verlag publiziert werden: Rainald Goetz hat es vorgemacht und sein 1998 zunächst sukzessiv online gestelltes Welt- und Lebensmitschreibeprojekt Abfall für alle ein Jahr später als voluminöses Hardcover bei Suhrkamp veröffentlicht. Ähnliches gilt auch für seinen Text Klage, der 2007/08 zunächst als Weblog auf den digitalen Seiten des Magazins Vanity Fair und erst danach als analoges Buch zu lesen war. Und auch Tilman Rammstedts jüngst bei Hanser erschienener Roman mit dem selbstreflexiv-verspielten Titel Morgen mehr erschien zunächst als digitaler Fortsetzungsroman kapitelweise im Netz: Zwischen Januar und April 2016 konnten interessierte Leser per Abonnement den Fortschritt des Buchs instantan verfolgen. Gemeinsam ist all diesen Projekten, dass sie zunächst als ‚work in progress’ online zur Verfügung standen, bevor die Ganzschrift – oder wesentliche Teile daraus – in die vermeintliche Haltbarkeit von Buchdeckeln gepresst und mit neuen Paratexten versehen wurde, etwa mit Klappentexten und dem Namen eines renommierten Verlags.
All das ist bei dem Romandebüt des 1988 geborenen und zuvor durch Comics und Theaterstücke aufgefallenen Jakob Nolte etwas anders: ALFF erschien zunächst als digitaler und online frei zugänglicher Text, allerdings nicht irgendwo, sondern auf der ambitionierten Netzplattform Fiktion. Die hat es sich seit 2013 mit Unterstützung der deutschen Kulturstiftung des Bundes und in Kooperation mit dem Berliner Haus der Kulturen der Welt zur Aufgabe gemacht, die Folgen der allgegenwärtigen Digitalisierung für literarische Formate wie allgemein für Leseprozesse zu untersuchen, und darüber hinaus deutsch- und englischsprachiger Literatur als open source zu veröffentlichen, die keinen gängigen Marktkriterien entspricht. Diese Texte lassen sich problemlos auf gängige E-Reader laden, man kann sie aber auch mit dem eigens von den Machern der Fiktion entwickelten Reader lesen. Dessen Besonderheit: Er versucht erst gar nicht, die ästhetische Dimension des Buchmediums zu imitieren, sondern orientiert sich konsequent am Film. Der Text bewegt sich von allein, man kann ihn schneller oder langsamer laufen, ihn jederzeit anhalten und wieder weiterlaufen lassen oder sich mit der Auf- bzw. Abwärtsbewegung eines Fingers zügig durch den ganzen Text manövrieren, das buchtypische Umblättern entfällt. Dabei geht es, glaubt man seinen Entwicklern, nicht um das möglichst zügige Aufnehmen von möglichst vielen Informationen, sondern um den „Grad an Immersion, das heißt, wie sehr man einen Text nicht nur dem Sinn nach versteht, sondern sich auch imaginierend und reflektierend auf ihn einlässt“. Weniger Begreifen als vielmehr Versinken ist das Ziel – eine spezifisch ästhetische Erfahrung mit literarischen Texten, der von Rausch oder Hypnose nicht unähnlich.
In diesem Kontext also erschien ALFF’ Und wie passend der ist, erweist sich bei der Lektüre dieses hyperrealistischen Romans, der mit allen möglichen Genres vom klassischen Bildungsroman über die campus novel bis zum Mystery-Thriller kokettiert, dessen Konventionen indes locker übersteigt und zu einem abgedrehten und gleichzeitig enervierend geschriebenen Ganzen verschmilzt und mit zahlreichen Anspielungen versetzt. Schon der Handlungsort ist programmatisch für das poetische Verfahren: die High & Low (!) Highschool in dem fiktiven Ort Beetaville, Neuengland (USA), in den späten 1990er Jahren. Dort treibt ein sogenannter „Vollstricker“ sein Unwesen, versetzt die Bewohner in Angst und Schrecken. Die Leiche seines ersten Opfers Benjamin, Vorsitzender des lokalen Debattierclubs, hat er in einen Zaun genäht, weitere drohen zu folgen. Die Reaktionen der Mitschüler sind in dieser krisenhaften, durch das bevorstehende Ende des Jahrtausends noch zugespitzten Situation gelinde gesagt divers: Einige werden zu Detektiven und Reportern, andere gründen eine Band mit dem Namen „La Deutsche Vita“, wieder andere reißen sich Finger ab, fallen voll Lust übereinander her oder nehmen ihre Eltern als Geiseln. Nach dem Fund einer zweiten Leiche wird Agent Donna Jones vom FBI eingeschaltet, verzweifelt aber an dem schier unlösbaren Fall. Erst als er den eigenen Sohn als Köder auslegt, kommt Bewegung in seine Ermittlungen.
Doch nicht nur der rasante, mit zahlreichen historischen Details gespickte Plot ist bemerkenswert, sondern auch Noltes hyperrealistische Schreibweise. Erzählt wird erstens im Präsens, was insofern beunruhigt, als die Dinge nicht schon längst geschehen sind, sondern im Moment des Erzählens erst entstehen, womit der souveräne Erzähler als „raunender Beschwörer des Imperfekts“ (Thomas Mann) ausgedient und selbst keine Ahnung mehr hat von dem, was da auf ihn zukommt – oder zumindest so tut. Zweitens wird das Verhältnis von vermeintlichen Haupt- und Nebensachen gründlich verkehrt, ein Mord kann schon mal auf drei Zeilen abgehandelt werden, während andernorts ausführlich darüber räsoniert wird, welche Folgen es hat, wenn professionelle Schauspieler mit Mitte Zwanzig Sechzehn- oder Siebzehnjährige spielen. Deren Pendants in der Wirklichkeit möchten dann nicht mehr heil und gut in ihrem eigenen Ich stecken, sondern wollen sein wie die Film- und Serienhelden. Drittens – und damit eng zusammenhängend – wird die Handlung immer wieder durch eine überbordende Fülle an Einfällen und Geschichten in der Geschichte durchbrochen. Und durch längere Passagen, in denen die erzählte Zeit stillzustehen scheint und die Abgründe von Figuren und Plot zur Sprache kommen. Wie im Fall Holly Cello, die davon träumte, Stuntman zu werden, bevor sie sich auf einer dreiwöchigen Fährfahrt in zwei Frauen und einen Mann verliebt, die Haare abrasieren lässt und damit beginnt, Dinge zu notieren. Am Ende steht sie knietief in Zetteln und am Anfang der Schriftstellerei, die sie zu einer Ikone der US-amerikanischen Gegenkultur werden lässt. Oder Meggy, die meint, „das mit Abstand Hässlichste“ zu sein, „was je aus einem Mutterbuch rausgeblutet kam“, und die irgendwann die Brille abnimmt und alle anderen Mädchen einfach wegstrahlt: „Ein wunderbarer Moment der maximal voneinander entfernten Selbst- und Fremdwahrnehmung.“
Diese Erzählweise korrespondiert einer Lektüre, die nicht auf einem Medium basiert, das den Text in übersichtliche und umzublätternde Seiten aufteilt, sondern die in die Tiefe des zwischen Anfang und Ende kaum mehr markierten digitalen Texts eintauchen kann. So versinkt man beim Lesen in Sätzen, vergisst zwischenzeitlich den Plot und findet sich irgendwann an anderer Stelle wieder. In der Psychologie heißt dieser Zustand ‚Flow‘ und kann bei der Steuerung eines komplexen, schnell ablaufenden Geschehens entstehen. Das Zeitgefühl verändert sich, die Tätigkeit belohnt sich selbst und die raumzeitliche Orientierung geht vorübergehend verloren. Für die Lektüre bedeutet das, dass man phasenweise gar nicht weiß, wer gerade spricht, sondern einfach mit dem verbalen Strom treibt. Es ist eine Lektüre, die um ihre eigene Medialität weiß, weil sie genau diese zwischenzeitlich vergessen kann. Darin ähnelt sie den Romanfiguren, die in eine imaginäre Ferne vor- oder auf mediale Fantasmen zurückgreifen, um sich selbst zu begreifen. Und dem poetischen Verfahren ihres Autors, der die Welt der US-amerikanische Highschool durch Romane und Comics, Filme und Serien in- und auswendig kennt, obwohl er selbst noch nie dort war – ein Karl May der ganz anderen Art, einer, der Niklas Luhmanns ebenso lapidaren wie weitreichenden Befund, wonach wir alles, was wir wissen, aus den Medien wissen, literarisch sinnfällig werden lässt. Dass diese Art auch im analogen Buchmedium funktioniert, in dem Nolte dank des couragierten Verlags Matthes & Seitz ebenfalls angekommen ist, verdankt sich nicht zuletzt dem Erzähler; er ist derjenige, der sich in geradezu klassischer Manier im Laufe des Romans verändert und entwickelt, der chronikalisch beginnt und in einer Art Bewusstseinsstrom endet, eine Erzählerfigur, die mal vulgär, mal introvertiert und mal gescheit daherkommt. Er ist die Brücke zwischen dem herkömmlichen Roman und den neuen, medial überformten Erzählwelten – allerdings auch in diesem Fall mit umgekehrten Vorzeichen: Während sich traditionell meist die Hauptfigur ändert, von der erzählt wird, verändert sich in diesem Fall die Weise, in der von ihr und den anderen Figuren erzählt wird.
Bei all dem ist der Roman realistisch und unwirklich zugleich: Auf der einen Seite stimmen die zeitgenössischen Konflikte und Pop-Alben, auf der anderen Seite gibt es eine Hündin namens Nadja, die zuerst ausgestopft wird und dann in diesem Zustand eine Rede über das Ausgestopftsein hält. „Ich glaube“, so der Autor in einem Interview, „ich habe eigentlich immer Lust, unwirklich zu sein. Also, ich mag das immer, wenn in Geschichten Dinge passieren, die nicht auch hier passieren können, also nicht in diesem Raum oder nicht in dieser Welt, in dieser Zeit.“ Und so erfindet und verfälscht er, überschreibt die Wirklichkeit – und macht sie gerade dadurch lesbar, als Palimpsest von Zeiten und Anspielungen, als eine mediale Konstruktion. Auf diese Weise hat er eine Punktlandung hingekriegt mit Blick auf eine Literatur, die Gegenwart nicht auf zufällige Zeitgenossenschaft reduziert, sondern emphatisch zum Antrieb für ein ihr gemäßes Schreibverfahren werden lässt. Der Autor hat es einmal so formuliert: „Schreiben heißt für mich schärfste Klarheit und größte Verwirrung zugleich. Alle ‚Momente des Lebens’ sollen darin zu gleichen Teilen vorkommen dürfen. Das heißt für mich Gegenwärtigkeit.“ Dass sein Roman 2015 sorgfältig ausgestattet auf brillantweißem Papier und gesetzt in einer Feijoa-Type der Klim Type Foundry bei Matthes & Seitz erschien, macht ihn auch für bibliophile Leser zugänglich, welche die haptischen und ästhetischen Qualitäten eines Buches nicht missen mögen. Und markiert mit dieser Publikationsfolge zugleich die Normalisierung des Digitalen, denn auch in Buchform vorliegende Texte existieren in der Regel zuvor in einer digitalen Version, die dann als meist unveröffentlichte Druckvorlage dient. Die Lektüre dieses auf literarische Weise fluoreszierenden Textes lohnt jedenfalls so oder so.
Thomas Wegmann, 03.11.2016