Zeitgeist-Verweigerungen
Albrecht Fabri: Frühe Schriften. Essays und Rezensionen aus der Zeit des Dritten Reichs. Hrsg. von Jürgen Egyptien. Frankfurt/Main: Peter Lang, 2016. 163 S. (Beiträge zur Literatur und Literaturwissenschaft des 20. und 21. Jahrhunderts, Bd. 27). ISBN 978-3-631-67079-8. Preis [A]: 36,00 €.
Schon der Auftakt dieser schmalen Sammlung hat es in sich:
„Richard Wagner starb zweimal: zum ersten Male im Jahr 1883, zum zweiten Male in den Jahren 1914 bis 1918, diesmal nicht im Palazzo Vendramin Venedigs, sondern in den Schützengräben Flanderns. Da gab es keine „Erlösung“ mehr. Siegfried im Feuer der Maschinengewehre, Handgranaten, Flugzeuge und Tanks? Das ging nicht. Da schwand die heldische Geste, da offenbarte sich ihre Hohlheit und Lüge.“
So beginnt der 22-jährige Kölner Student Albrecht Fabri seinen Essay Richard Wagner 1933, die erste aus einer knappen Folge betrachtender Prosaarbeiten, die der kritische Debütant zwischen 1933 und 1940 in deutschen Zeitungen und Kulturzeitschriften veröffentlichen konnte. Zusammen mit einem etwas aus der Reihe fallenden, versprengt überlieferten Jugendgedicht von 1930 sind es in der Summe gerade einmal 20 Texte, die Jürgen Egyptien – zweifellos der beste Kenner von Fabris Leben und Werk, der augenblicklich tätig ist – aus der Versenkung geholt, mit einer instruktiven Einleitung versehen und um eine aktuell bis zum Jahr 2016 geführte Personalbibliographie ergänzt hat, um alles zusammen in einer verdienstvollen Leseausgabe vorzulegen. Der eine oder andere Text aus Fabris Frühwerk, das hier erstmals vollständig präsentiert wird, war zwar bereits in den Gesammelten Schriften aus dem Jahr 2000 und zuletzt auch schon in dem gleichfalls von Egyptien betreuten Albrecht Fabri Lesebuch von 2014 enthalten gewesen; erst die vorliegende Edition erlaubt es jedoch, die intellektuelle Entwicklung eines der bedeutendsten deutschsprachigen Essayisten des 20. Jahrhunderts – der als solcher freilich noch immer unter die notorischen Geheimtipps der Literaturgeschichtsschreibung zu rechnen ist – anhand seiner kunst- und literaturkritischen Anfänge im Zusammenhang nachzuvollziehen.
Dass diese Anfänge (mit Ausnahme des erwähnten Gedichts von 1930) ausgerechnet mit dem Zeitpunkt der nationalsozialistischen Machtübernahme korrelieren, hat auf Fabris Texte keineswegs abgefärbt – im Gegenteil: Sein eingangs zitierter Beitrag zum Richard-Wagner-Jubiläum etwa, der am 15. März 1933 erschienen ist, hält nicht nur nicht mit offener Kritik an einer der seinerzeit wohl heiligsten Kühe im Stall der nationalistischen Kulturpolitik hinterm Berg, um stattdessen die Heroen der Moderne von Picasso bis Le Corbusier und von Arnold Schönberg bis Sigmund Freud als positive Gegenfiguren ins Spiel zu bringen. Er zeigt zugleich auch auf, was runde sechs Wochen nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler gerade noch zu publizieren möglich war – und was schon unmittelbar darauf nicht mehr möglich gewesen wäre. Um die Entstehungs- und Veröffentlichungsbedingungen dieser Wagner-Demontage hinlänglich zu kontextualisieren, genügt es wohl, auf den berühmten Festvortrag Thomas Manns über Leiden und Größe Richard Wagners zu verweisen, der nur einen Monat zuvor erstmals gehalten und dessen Publikation in der April-Nummer der Neuen Rundschau – wiederum fast auf den Tag genau einen Monat nach dem Erscheinen von Fabris eigenem Essay – mit jenem schäumenden Protest der Richard-Wagner-Stadt München vom 16. April 1933 öffentlich quittiert worden war, den Thomas Mann bereits im Exil zur Kenntnis nehmen musste. Angesichts der Tatsache, dass Fabris Text in der oppositionellen Zeitschrift Gegner von Harro Schulze-Boysen zum Abdruck kam, deren Redaktion kurz darauf von den Nazis brutal zerschlagen wurde, erscheint es aus heutiger Perspektive eher als ein glücklicher Zufall, dass die literarische Karriere des Nachwuchsessayisten nicht gleich nach Erscheinen dieser ersten Talentprobe auch schon wieder zu Ende gewesen ist.
Freilich: So kämpferisch-aggressiv wie in seinem Wagner-Beitrag hat sich Fabri in den folgenden Essays und Rezensionen, die ab Februar 1934 u. a. in der Kölnischen Zeitung, im Bücherwurm und im Deutschen Wort (dem Nachfolgeblatt der Literarischen Welt) zu erscheinen begannen, nicht wieder zeigen können – und wohl auch überhaupt nicht zeigen wollen, ohne deshalb vor dem herrschenden Zeitgeist widerspruchslos einzuknicken. Wenig überzeugende Annäherungen an letzteren lassen sich gleichwohl ausmachen, bleiben in den Essays über Adam Müller oder die romantische Sinngebung des Staates und Schicksal, Sendung, Ewigkeit von 1934 sowie in Sisyphos oder das Unerbittliche von 1935 aber bestenfalls ein transitorisches Phänomen. Kommt es hier einerseits zu einer – für Fabri durchaus untypischen – „Ästhetisierung des Politischen“, die noch unzweideutig auf Konzepte aus dem Ideenhaushalt der ‚Konservativen Revolution‘ rekurriert (wie er sie im Umfeld Schulze-Boysens kennengelernt haben mag), so beginnt es an anderer Stelle auf wenig originelle Weise von ‚deutschem Wesen‘ und ‚deutschem Geist‘ und seinem schicksalhaften Auftrag im Verhältnis zum Griechentum zu raunen. Spätestens, wenn dann von der „Dorik“ die Rede ist (S. 62), wird klar, wie sehr Fabri hier einen buchstäblichen Anschluss an den Gottfried Benn der Dorischen Welt zu vollziehen versucht – und damit einem seiner frühesten und prägendsten literarischen Idole bis an die Grenzen von dessen politischer Verirrung folgt, ohne freilich im Wesentlichen weiterzugehen. Jürgen Egyptiens kundiges und ausgewogenes Vorwort benennt solche neuralgischen Punkte präzise, ohne sie überzubewerten. Der Herausgeber versteht es vielmehr überzeugend, Fabris rasch überwundene „mythisch-mystische Periode“ (S. 20) in den Kontext der tastenden Suchbewegungen eines Nachwuchsautors einzubetten, dessen primäres Interesse an ästhetischen Fragen schon früh ausgeprägt erscheint und schließlich in der konsequent modernistischen Haltung eines „apolitische[n] oder eher noch: antipolitische[n] Theoretiker[s] der absoluten Kunst“ (S. 17) programmatisch zum Durchbruch gelangt.
Vieles, was die kunsttheoretischen und ästhetisch-philosophischen Überlegungen des späteren Fabri auszeichnet – und bis heute anschlussfähig an aktuelle Theoriediskurse macht – , ist denn auch schon in seinen frühen Essays und Rezensionen angelegt. Bereits in seinem Versuch über Meister Eckhart oder die Unaufhörlichkeit von 1934 etwa entwickelt er aus der Bezugnahme auf die Texte dieses mittelalterlichen Mystikers „das Modell einer gedanklichen Figur, die später in den Mittelpunkt seines ästhetischen Denkens treten wird. Wie hier im schöpfungsgeschichtlichen Kontext der vermeintliche Schöpfer als Geschöpf seines Geschöpfs sich erweist, so späterhin der Künstler als Produkt seines Kunstwerks“ – und nicht allein umgekehrt (S. 16). Mit dieser geradezu postmodern anmutenden Volte, von der aus sich nicht nur Linien zu Foucaults Autorfunktion,[1] sondern etwa auch zu Pierre Bourdieus Frage, wer denn eigentlich die Schöpfer geschaffen habe,[2] ziehen lassen, ist schon für den frühen Fabri eine selbstverständliche Absage an jegliche Form einer positivistischen oder biographistischen Form der Kunstbetrachtung verbunden, wie er sie nach 1945 etwa in seinem Essay Kann man Dichter besuchen? noch einmal prononciert formulieren wird. Gleichsam vorbereitend dazu beginnt er bereits seine Rezension einer Ausgabe von Cézanne-Briefen aus dem Jahr 1940 wie folgt (S. 107):
„Der gleiche Name hat verschiedenen Sinn, dient er als Unterschrift eines Briefes oder ist er einem Werk vorangesetzt. Das mag einigermaßen paradox klingen; aber überlegen wir … Den Beethoven, den wir in den letzten Quartetten bewundern, gibt es nur in diesen letzten Quartetten. Er ist nicht minder ein Resultat seines Werks, wie das Werk ein Resultat ist seines Autors. Ihn also außerhalb seines Werkes suchen zu wollen, wäre töricht; schlagen wir die gleichzeitigen Briefe auf, finden wir allenfalls Schlacken jener Stimme, die wir unter dem Namen Beethoven begreifen.“
Dass Fabri denn auch wenig Gewinn aus der Lektüre der Briefe Paul Cézannes ziehen mag, kann kaum verwundern – wie ihm ohnehin der konkrete Anlass der Buchbesprechung lediglich als Sprungbrett dient für die essayistische Entwicklung seines kunsttheoretischen Credos, das geradezu in die Apologie einer formalen Ästhetik am Beispiel der modernen Malerei und ihrer Abstraktion vom Dargestellten mündet (S. 109):
„Cézanne […] hatte entdeckt, dass das einzige Mittel der Malerei die Farbe sei … Die Konsequenzen daraus waren Bilder, in denen die Zeichnung entthront ist und herabgesunken zum beiläufigen Ergebnis der Farbe. Farbe rief Farbe auf; so entstand eine Malerei, die weder hell war noch dunkel, sondern einfach farbig. Der Gegenstand wurde dabei schrittweis, von der tiefsten Farbigkeit ausgehend, erobert. Das heißt, es gab keinen Gegenstand mehr; es gab farbige Übergänge; der Gegenstand aber war ein Resultat, das aus ihnen sich erbaute.“
Drei Jahre, nachdem die berüchtigte Ausstellung „Entartete Kunst“ die Moderne buchstäblich an den Pranger gestellt hatte, ist ein solches Plädoyer für das Primat des Materials und der Form gegenüber dem Gegenstand – der, falls überhaupt noch vorhanden, seinerseits lediglich als das Ergebnis einer materialgerechten Kompositionsarbeit zu betrachten wäre – immerhin bemerkenswert als ein unmissverständliches Bekenntnis zu den Prinzipien moderner Kunst inmitten einer ihr feindlichen Umwelt. Der vorletzte Essay der vorliegenden Sammlung spannt damit gleichsam den Bogen zurück zu einem der ersten Texte aus dem Jahr 1934, den Fabri dem expressionistischen Bildhauer Ernst Barlach gewidmet hatte – dessen Werke ihrerseits schon wenig später für „entartet“ erklärt werden sollten.
In zunehmenden Konflikt mit der Literatur- und Kunstauffassung seiner Zeit gerät Fabri also nicht etwa aufgrund klarer politischer Überzeugungen – er selbst wird sein Verhalten während des ‚Dritten Reichs‘ im Rückblick „als naiv und nahezug ‚trottelig‘“ beschreiben (S. 9) –, sondern aufgrund seiner ästhetischen Prämissen, die sich kaum friktionsfrei mit der Doktrin der Nationalsozialisten in Deckung bringen ließen. So endet denn auch seine zeitweilige Mitarbeit beim Rundfunk, für den er bis 1937 Besprechungen und Radioessays verfasst hat, „weil er ‚leider zu intellektualistisch‘ schriebe, wie ihm vom Sender mitgeteilt wird“ (S. 9). Der Formalismus-Vorwurf, der damit in die Welt gesetzt ist, sollte den Radikal- und Material-Ästheten Fabri über das Jahr 1945 hinaus begleiten und in den 1960er Jahren – als die Forderung nach dem Politischen abermals die künstlerischen Diskurse zu dominieren begann – zur Ausformulierung einer selbstbewussten Verweigerungshaltung im Namen der Kunstautonomie führen, von der u. a. der Bekenntnistext Ich lebe im elfenbeinernen Turm von 1964 Zeugnis ablegt.
Jürgen Egyptien zeigt, wie sich diese kompromisslose Haltung in aestheticis bereits beim jungen Fabri auszubilden begann – und sich nicht zuletzt in einem hohen formalästhetischen Anspruch an das eigene Schreiben als Kritiker und Essayist niederschlug. Die an musikalischen Kompositionsmustern orientierte Sprachemphase der ersten Texte, die den konsequenten Formwillen des jungen Autors ebenso unter Beweis stellt, wie sie bisweilen hart an den Grenzen des Manierismus vorbeischrammt, wird im Verlauf der 1930er Jahre vom Spiel mit fiktionalisierenden Formen und Gattungsmustern der modernen Essayistik wie Dialog oder Brief ersetzt, die zugleich die generischen Traditionslinien der deutschsprachigen Literaturkritik über Hofmannsthals Erfundene Gespräche und Briefe bis auf Lessings Briefe, die neueste Literatur betreffend zurückverfolgen, um sie neu zu aktivieren (vgl. etwa S. 65–73 den Brief über Adalbert Stifters Nachsommer aus der Zeitschrift Das Innere Reich von 1935, oder S. 83–87 das Gespräch über einige neue Briefbücher aus der Deutschen Zeitschrift, dem vormaligen Kunstwart, von 1937).
Der Gegenstandsbereich von Fabris frühen Rezensionen und Sammelbesprechungen wirkt dabei aus heutiger Sicht in der Summe etwas bunt zusammengewürfelt und dürfte vermutlich – zumindest teilweise – auch dem Zufall des Angebots an verfügbaren Rezensionsexemplaren bei jenen Blättern geschuldet gewesen sein, für die er als freier Kritiker tätig war. Bevorzugt scheint sich der Nachwuchsrezensent jedoch für die Besprechung von Briefausgaben und Essaybüchern interessiert zu haben, zumal vor allem die letzteren Anlass zu weiter zielenden Reflexionen über die eigene Profession und ihre gattungsspezifische Poetik boten (vgl. etwa S. 101–106 die Sammelrezension Fragment, Aphorismus, Essai aus dem Hochland von 1939). Das Interesse an einer Erweiterung des Horizonts gegen Frankreich hin wäre neben dem Ausweichen in zeitlos-klassische Gefilde der deutschen Kunst- und Literaturgeschichte (Stifter wird immerhin in zwei Texten thematisiert) eine weitere, wenn auch bescheidene Akzentsetzung, die sich anhand der Namen Paul Valéry, Francois Villon und Paul Cézanne nachvollziehen lässt. Ein veritabler Erfolgsautor der Nazizeit wie Richard Billinger dagegen sticht nicht nur namentlich aus der Reihe der Besprechungsgegenstände heraus, denen sich Fabri widmet – er wird von diesem auch aufgrund seiner „reichlich plumpe[n] Verbeugungen vor der herrschenden Zeitmode“ (S. 76) scharf kritisiert, was nur als implizite Infragestellung eben dieser ‚Zeitmode‘ in Gestalt der herrschenden Blut- und Boden-Ideologie gelesen werden kann (und Billinger auch insofern gerecht wird, als dessen beste Texte tatsächlich ohne solche Verbeugungen auskommen).
Eine solche Wertung – noch 1936 in der Deutschen Zeitschrift publiziert – zeigt ebenso wie die vier Jahre später im Hochland veröffentlichte Kritik an Josef Hofmiller, der von der stromlinienförmigen Literaturbetrachtung der NS-Zeit immerhin zu den hochgelobten Vorbildfiguren einer spezifisch ‚deutschen‘ Essayistik deklariert worden war, dass Albrecht Fabri den einschlägigen Direktiven des Goebbels’schen ‚Kritikverbots‘ zum Trotz vor eindeutigen Verrissen nicht zurückschreckte. Überlegt argumentiert, stellen sie stets formale Fragen ins Zentrum und legen die ästhetischen Maßstäbe ihres textimmanenten Verfahrens offen, was sie wohltuend deutlich vom zeitgenössischen Gros der weltanschaulich imprägnierten ‚Kunstbetrachtung‘ nationalsozialistischer Provenienz unterscheidet. Beispiele wie diese machen immerhin den schmalen Spielraum deutlich, der einer intellektuell hochstehenden und formal ambitionierten Literaturkritik selbst unter den repressiven Bedingungen der NS-Diktatur auszuschreiten möglich war – wenn zuletzt auch nur noch in offiziell beargwöhnten Nischen-Publikationen wie dem katholischen Hochland, das dem Atheisten Fabri ein Forum bot.
Michael Pilz, 30.11.2017
Anmerkungen:
[1] Vgl. Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hrsg. von Fotis Jannids, Gerhard Lauer, Matias Martinez und Simone Winko. Stuttgart: Reclam, 2000. (RUB, Bd. 18058), S. 198–232.
[2] Vgl. Pierre Bourdieu: Aber wer hat denn die „Schöpfer“ geschaffen? In: [Ders.]: Soziologische Fragen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1993. (Edition Suhrkamp, Bd. 1872), S. 197–211.