Zeitkapseln
Ulrich von Bülow: Papierarbeiter. Autoren und ihre Archive. Göttingen: Wallstein 2018. 351 S. ISBN: 978-3-8353-3361-1. Preis [A]: 30,80 €
Zeitkapsel. Ein Moment, der in die Zeit geschickt wird, von der Gegenwart in die Zukunft. Die Vorstellung einer Blechbüchse, die den Schatz eines Augenblicks trägt, vergraben in einem hastig gebuddelten Loch im Garten, wo sie Generationen überdauert und bestenfalls eines Tages zum Vorschein kommen wird. Der Inhalt idealerweise konserviert, womöglich aber vergilbt, durchnässt, zerfallen oder noch schlimmer: ohne emotionalen Wert ausgestattet. So beherbergt die ‚Zeitkapsel‘ nicht nur Gegenstände, sondern auch Wünsche, Hoffnungen und Neugier.
Zeitkapsel, so lautet auch der Titel einer Veranstaltungsreihe des Deutschen Literaturarchivs Marbach, die 2005 mit dem Leipziger Karton von Hans-Georg Gadamer begründet wurde und jenem neugierigen Publikum begegnen soll, das für die „Aura des Authentischen empfänglich“ (S. 7) sei. So beschreibt Ulrich von Bülow in seinem Band Papierarbeiter. Autoren und ihre Archive die Begeisterung, dem Auspacken von Archivalien berühmter Schriftsteller und Gelehrter beizuwohnen und führt zugleich direkt hinein in diesen auf gut 350 Seiten gebannten und mit reichlich Bildmaterial ausstaffierten Rundgang durch die Bestandswelten des Deutschen Literaturarchivs Marbach.
Und für jeden dieser Bestände wählt von Bülow einen spezifischen Kontext, ein Narrativ sogleich. „[E]xemplarische[] Interpretationen“ (S. 7), die in einigen Fällen selbst als Zeitkapseln gewirkt haben und auf der Überzeugung beruhen, „dass literarische und philosophische Werke nicht nur das Ergebnis von Genie und Zufall, sondern vor allem von geistiger Arbeit sind, die sich in bestimmten Grenzen nachvollziehen lässt“ (S. 7). Die „Fallstudien“, wie sie ihr Autor nennt, stellen also jene titelgebenden „Papierarbeiter“ ins Zentrum, die im 20. Jahrhundert geschrieben haben und das Papier als wichtigen Bestandteil ihrer Arbeit verstanden bzw. verstehen, es gewissermaßen zum Denken benötig(t)en. Diese Denkprozesse nachzuzeichnen, Spuren zu verfolgen und nachvollziehbar zu machen ist die Leistung dieses Bands.
Dabei führt von Bülow zunächst anschaulich in Archivierungspraktiken ein. Zum einen beleuchtet er historisch die Entstehung von Literaturarchiven im Kontext der Autonomisierung des Literaturbetriebs und geistesgeschichtlicher Entwicklungen. Zugleich blickt er auf Traditionen und Verfahren im Kontext der Nachlassarchivierung und fragt, von welchen internen und externen Faktoren sie geformt werden, welche unterschiedlichen Funktionen Nachlassstrukturierung als Organisations- und Kommunikationssystem für die Schreibenden erfüllt. Wo der Nachlass nicht nur als das postum Übergebene auftritt, sondern vielmehr entscheidend an der Konstituierung von Werk und Autorschaft beteiligt ist. Das umfangreiche Repertoire an Fallstudien erzählt von Bülow ferner in drei übergeordneten Abschnitten: „Nachlass-Strukturen“, „Werke“ und „Korrespondenzen“.
1. Nachlass-Strukturen
Unter Nachlass-Strukturen fallen jene Beispiele, die zeigen, wie Autoren ihre Materialien nicht nur strukturiert und aufbereitet haben, sondern diese Prozesse zentral auch zur Organisation der eigenen Arbeit verwendet haben. Eindrucksvoll zeigt von Bülow auf, wie etwa W.G. Sebald sein zur Überlieferung bestimmtes Material in Form von 66 Boxfiles organisierte und so zentral auf die Wirkungsgeschichte seines Werks Einfluss nahm – im Besonderen, indem er Privates aussparte.
Ebenso wenig private Einblicke gewährt der vorgestellte Nachlass von Martin Heidegger, der sich im Kern aus Handschriften speist. Der Philosoph lässt sich dabei an jenem Ort aufspüren, wo „das Schreiben […] sich lesend und das Lesen schreibend“ (S. 56) vollzieht. Er benötigte (Hand)Schriftlichkeit unbedingt für sein Werk und nutzte sie beispiellos für sein Unternehmen.
Wie kurios es zuweilen zugeht, wenn Nachlässe ihren Weg ins Archiv finden, erzählt von Bülow anhand der Materialien von Rudolf Pannwitz. Dessen Witwe überließ dem Marbacher Archiv den Bestand unter der Bedingung, diesen in einem von ihr finanzierten Kellerraum im „tiefsten Magazingeschoß“ (S. 74) zu verwahren – wo Pannwitz’ ausgeklügeltes System aus Zettelkästen, Ringbüchern und Notizbüchern (unter anderem unveröffentlichte Werke enthaltend) bis heute auch tatsächlich einquartiert ist.
So spielen Verwandte, Freunde und Vertraute oft eine zentrale Rolle in der Nachlassverwaltung. Die ins schwedische Exil nur das Nötigste mitführende Nelly Sachs etwa hatte in ihrem von Traumata geprägten Leben zwar nur wenige Bezugspersonen, die dafür in Frage gekommen wären. Doch Rosi Wosk, ihre Nachbarin in einem Stockholmer Wohnhaus, wurde im Laufe der Jahre zur Bewahrerin von Utensilien der von ihr verehrten Autorin. In Marbach sind neben Korrekturen älterer Werkfassungen auch Fotos archiviert, wie jenes, das Nelly Sachs und Rosi Wosk fein herausgeputzt im Vorfeld der Nobelpreisverleihung an die Schriftstellerin 1966 zeigt und die Kraft freundschaftlicher Nachbarschaft, die diese beiden Frauen verbunden hat, hervorstreicht.
Einen weiteren kurzen Abschnitt widmet Ulrich von Bülow den strukturellen Merkmalen von Archivalien aus der DDR und fragt dabei, ob es etwas gibt, das Nachlässe aus der DDR – jenseits rein chemischer Untersuchungen auf den Säuregehalt des Papiers hin – als solche markiert.
2. Werk
Den zweiten Abschnitt seiner Fallstudien stellt von Bülow unter das Zeichen des Werks und verweist damit auf die Bedeutung der Materialorganisation für die Werkgenese, die nicht zuletzt auch im fertigen literarischen Werk nachweislich Spuren hinterlässt.
Einen der wohl prominentesten Nachlässe des Deutschen Literaturarchivs Marbach und zugleich einen der meistuntersuchten Bestände stellt er sogleich an den Anfang und widmet sich Hans Blumenbergs 33 archivierten Zettelkästen, die dem Philosophen „als Brutkasten seiner Werke“ (S. 138) dienten. Je nach Verwendungskontext landeten die darin gesammelten Zitate an immer wieder neuen Orten und erklären so den Zettelkasten zum dynamischen Umschlagplatz.
Wie sich besonders prekäre Lebensumstände an einem Nachlass ablesen lassen, zeigt von Bülow anhand der im 18 Jahre andauernden Exil entstandenen Reisetagebücher Karl Löwiths – zwischen Italien, Japan und den USA. Nicht nur, dass sein Nachlass vergleichsweise klein ist, er lässt erahnen, wie sehr diese verschiedenen Lebensstationen seine Persönlichkeit und sein Schaffen geprägt haben.
Gezielte und offene Werk- und Vorlasspolitik kann dagegen wohl dem Kärntner Schriftsteller Peter Handke attestiert werden, dessen Notizbücher (zwischen 1975 und 2015) im Deutschen Literaturarchiv liegen. Ein Bestand, der enthält, was potenziell publizierbar ist – wo die Grenzen zwischen Text und Paratext verschwimmen. Es sind Reportagen, Sprachreflexe, Momentaufnahmen in Bleistift, mit Linien, Zeichnungen versehen. Gezeichnet von Situationen, in denen sie entstanden sind: im Regen gelegen, mit aufgewelltem Einband und verschwommener Schrift zum Entziffern der Literaturwissenschaft vorgelegt – wo Textwelten geschaffen werden, um entschlüsselt zu werden.
Wenn es in den Notizbüchern Handkes gezielt Bezüge zur Vielzahl seiner Werke gibt, steht im vorgestellten Nachlass von Stefan Zweig ein ganz besonderer Text im Zentrum: Ungeduld des Herzens, sein einziger Roman. Die Vorarbeiten zum Werk sind – in Buchform gebunden – ungewöhnlich gut erhalten. Ulrich von Bülow zeigt im Detail anhand einer Textstelle, wie Zweig das Konzept des Mitleids über die einzelnen Vorarbeiten hinweg erarbeitet hat, bevor es im Roman manifest wurde.
Wie von Bülow deutlich macht, sind Papierarbeiten auch als Kommunikationsformen zu verstehen. Möglichkeiten, mit sich selbst in Kontakt zu treten, sich selbst zu befragen. Gerade auch auf Martin Walser scheint das besonders zuzutreffen. Das Tagebuch dient ihm als wichtige Arbeitsgrundlage, deren Einträge er liest und eingehend analysiert.
3. Korrespondenzen
Während sich diese Form des Selbstdialogs in Archivalien wie jenen von Walser aktualisiert, ist es eine andere, viel beachtete Form des Austausches, die den dritten Teil des von Bülow’schen Bandes dominiert: Korrespondenzen, Briefe, Begegnungen – die zugleich oft einseitig bleiben, als empfangene Mitteilungen, die die Antwort durchschimmern, einen Anlass erahnen lassen.
Die Duineser Briefmappe von Rainer Maria Rilke ist eines jener im Band vorgestellten Archivalien, die ohne die unmittelbare Stimme des Autors auskommen und dabei dennoch viel über ihn sagen. Es sind 40 Briefe, die im Winter 1911/1912 an Rilke adressiert waren, als er im Schloss Duino residierte. Profanes wie Briefe seines Anwalts oder auch Rückmeldungen zu seinen Werken. So unterschiedlich die Briefe sich zeigen, so sehr vervielfältigt sich dadurch auch der Blick auf den Autor – durch die Augen seiner Briefpartner.
Briefe, die indes nicht nur den Weg von Verfasser zu Empfänger überwunden haben, sondern Jahre später in einem Karton quer durch Deutschland, zwischen DDR und BRD noch einmal auf Reisen gingen, sind von Hans-Georg Gadamer erhalten, der sie im sogenannten „Leipziger Karton“ umzugsbedingt von Leipzig nach Frankfurt überführte. Es sind Briefe an Gadamer, die von seiner Freundschaft und dem intellektuellen Austausch mit anderen Gelehrten, wie etwa Max Kommerell zeugen.
Kommerell selbst hinterließ dem Literaturarchiv Marbach Briefe, wobei sich von Bülow jenen Korrespondenzen widmet, die Kommerell mit seinen Verlegern unterhielt und dabei hervorstreicht, wie komplex sich diese vermeintlichen Geschäftsbeziehungen ausgestalten.
Eine ganz besondere Rolle hatten Briefe im Kontext des Autors Rudolf Alexander Schröder. Ein geistlicher Dichter, der Sprache als „Trostamt“ (302) verstand. Ein Heilmittel, das Soldaten im Zweiten Weltkrieg an der Front so dringend benötigten. Ihrer Dankbarkeit für die trostspendenden Texte Schröders, die sie an der Front zu lesen bekamen, verliehen die Soldaten – unter ihnen viele Theologen – in Form von Briefen Ausdruck, und Rudolf Alexander Schröder hat sie sorgsam aufbewahrt.
Verewigt sind auch jene Sofortkommentare, die in Büchern von Martin Heidegger hinterlassen wurden. Von Bülow zeigt Notizen, Anmerkungen, kritische Bemerkungen, die an den Seitenrändern der Bücher im Zuge ihrer Lektüre angebracht wurden. Zur Besonderheit avancieren diese Bemerkungen, wenn es sich bei ihren Verfassern um Personen wie Hans-Georg Gadamer, Theodor W. Adorno, Hans Blumenberg, Paul Celan oder Peter Sloterdijk handelt.
Dass sich schließlich Korrespondenzen auch an Gegenständen entfachen können, zeigt der gelungene Abschluss des Bandes. Ulrich von Bülow fühlt dabei jener Legende auf den Zahn, die besagt, Lew Tolstoi habe Rainer Maria Rilke eine nun in Marbach archivierte Klappikone geschenkt. Warum das unwahrscheinlich ist, die Vorstellung aber dennoch anregend ist, arbeitet der Autor anhand des unterschiedlichen Ikonen-Verständnisses der beiden Dichter heraus.
Mit Behutsamkeit und Respekt begegnet Ulrich von Bülow, der seit 2006 die Archivabteilung im Deutschen Literaturarchiv Marbach leitet, den Archivalien seiner Fallstudien und macht Papierarbeiter damit zu einer überaus anregenden Lektüre. Er liefert einen humorvollen, ironisch-scharfsinnigen Einblick in die Bestände und zeigt, wie darüber geschrieben werden kann, welche Geschichten sich um Archivalien entspinnen können. Geschichten, die aus dem Bestand hervorgehen, sich über ihr Material, die Umstände ihrer Entstehung, ihre Funktion oder auch ihre Legende spannen.
Von Bülow versteht es außerdem, das Anschauungsmaterial (Fotografien der Archivalien) zum zentralen Moment zu erklären. Die Abbildungen dienen ihm „nicht der Illustration oder Dekoration“, sondern sollen „im Sinn von Realitätszitaten jene zusätzliche Bedeutungsdimension sichtbar machen, die sich aus der Materialität originaler Quellen ergibt.“ (S. 8) Nur in einer Verschränkung von Bild, Text und Zitat erschließt sich der präzise und fürsorgliche Blick, mit dem Ulrich von Bülow dem Bestand ein Gesicht erschreibt.
Wo Papierarbeiter schaffen, buchstäblich Hand-Werk betreiben – wo die Hand, die Materialität, die Verfahren des Sortierens, Umschichtens, Umschreibens, Markierens, Notierens, Kommentierens, Korrespondierens zu entscheidenden Schnittstellen literarischen und philosophischen Arbeitens avancieren – werden Schreibszenen sichtbar. Zeitkapseln, die von Bülow im Schreiben über das Schreiben anderer öffnet und in neue Zusammenhänge – in einer Kollage aus wörtlichem und bildlichem Zitat, zwischen fiktionaler Literatur und faktualem Zeugnis – einbettet.
Anna Obererlacher, 15.04.2019