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Was macht Literatur preiswürdig?

Das fragt sich Stefan Neuhaus anlässlich der Verleihung des Büchner-Preises an Felicitas Hoppe.

 

Vorbemerkung

Es gibt Jury-Entscheidungen, die goldrichtig sind und für professionelle Leser kaum einer Rechtfertigung bedürften, die aber dennoch überraschen und aufs Neue die Frage aufwerfen, nach welchen Regeln oder Konventionen der Literaturbetrieb funktioniert. Der Georg-Büchner-Preis gilt als der wichtigste deutschsprachige Literaturpreis und er ist, neben dem Joseph-Breitbach-Preis, der am höchsten dotierte. Die letzten Büchnerpreisträger waren nicht nur allesamt Männer, sondern es gab auch – wie die jeweils anschließende Berichterstattung zeigte – einige, die nicht unumstritten waren. Auf den sehr christlich geprägten Autor Martin Mosebach im Jahr 2007 folgte 2008, ein weltanschauliches Kontrastprogramm, der kirchen- und staatskritische Josef Winkler, 2009 der selbst im Literaturbetrieb wenig bekannte Walter Kappacher und 2010 der einem eher kleinen Kreis zugängliche Sprachartist Reinhard Jirgl, 2011 dann einer der bekanntesten Autoren aus der Zeit der Studentenbewegung, Friedrich Christian Delius, der zuletzt in der ersten Hälfte der 1990er Jahre mit kapitalismuskritischen Post-DDR-Texten von sich reden gemacht hatte. Ein klares Programm sieht anders aus, auch wenn man die Liste der PreisträgerInnen weiter zurückgeht.

Der den Preis vergebenden Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ist zugute zu halten, dass sie die Zusammensetzung der Jury nicht nur offenlegt, sondern sogar online einsehbar macht. Auf der sehr informativen Webseite findet sich auch der als zentral für die Preisvergabe herausgestellte Passus:

„Zur Verleihung können Schriftsteller und Dichter vorgeschlagen werden, die in deutscher Sprache schreiben, durch ihre Arbeiten und Werke in besonderem Maße hervortreten und die an der Gestaltung des gegenwärtigen deutschen Kulturlebens wesentlichen Anteil haben.“

Die Liste der bisherigen Preisträger wirft Zweifel auf, ob diese Richtlinie auch immer wirklich beachtet wurde, insbesondere wenn es um die Gegenwärtigkeit des hier beschworenen kulturellen Einflusses ging. Manchmal wirkte die Preisvergabe wie der Versuch, eine/n Autor/in für ihr oder sein Lebenswerk auszuzeichnen, auch wenn die herausragenden Leistungen schon eine Weile zurücklagen. Andere Male wurden jüngere AutorInnen ausgezeichnet, von denen man vermutete, dass sie später einmal eine solche einflussreiche Rolle spielen würden – bei dem 1995 prämierten Durs Grünbein ist diese Rechnung zweifellos aufgegangen.

Die meisten PreisträgerInnen sind aber das, was man landläufig als sichere Bank bezeichnet, und darin ist wohl auch das letztlich Verbindende der Preisvergabe zu suchen – sie gehören zu den seit längerer Zeit anerkannten Literaten, ihre Werke wurden und werden vor allem vom Feuilleton der kulturellen Leitmedien, vor allem der Tages- und Wochenzeitungen oder Magazine (FAZ, Süddeutsche, Die Zeit, Der Spiegel etc.), auf jeden Fall besprochen, und das meist positiv oder doch wenigstens so, dass die literarische Qualität der Texte außer Frage steht. Die Liste der PreisträgerInnen liest sich daher auch zu großen Teilen – mit den oben getätigten Einschränkungen – wie ein Who’s Who der deutschsprachigen Literatur: Gottfried Benn, Günter Grass, Martin Walser, Christa Wolf, Sarah Kirsch, Friedrich Dürrenmatt, Friedrike Mayröcker sind darunter.

Ein repräsentativer Preis also, auch wenn einige PreisträgerInnen – frei nach George Orwell – repräsentativer sind als andere. Da allen professionellen LeserInnen, die einen Blick auf die bisherige Liste werfen, sofort die Namen ins Auge springen werden, die weder damals noch heute besonders bekannt waren und sind, soll darauf verzichtet werden, hier mit Negativbeispielen zu operieren, die als unfreundliches An-den-Pranger-Stellen bewertet werden könnten. Was bleibt, ist die Frage: Warum Felicitas Hoppe? Und warum ist gerade sie die absolut richtige Wahl, auch und gerade vor dem Hintergrund der bisherigen Preisvergabe?

Dafür ist etwas weiter auszuholen und scheinbar paradoxerweise zunächst die bisherige, weitgehend von Ratlosigkeit und Unschlüssigkeit geprägte Rezeption zu skizzieren. 

 

Die bisherige Hoppe-Rezeption

Obwohl Felicitas Hoppe für ihre erste Publikation in einem namhaften Verlag, also für den Erzählungen-Band Picknick der Friseure (1996), den Aspekte-Literaturpreis erhielt, fielen die Besprechungen nicht nur des Erstlings unterschiedlich aus, ich möchte versuchen, an dem 2003 veröffentlichten Roman Paradiese, Übersee die über mehr als ein Jahrzehnt gängigen Rezeptionslinien in der Kritik etwas näher zu beleuchten. Warum habe ich gerade diesen Roman ausgewählt? Bei Hoppes Erstling ließe sich noch von Anfangsschwierigkeiten mit einer neuen Autorin sprechen, während die anderen Werke einen thematischen Fokus haben, der die Rezeption erleichtert. Pigafetta von 1999 oder Johanna von 2006 beispielsweise als die beiden anderen ‚großen’ Romane vor der fiktiven Autobiographie Hoppe von 2012: Pigafetta kann als Reiseroman gelesen werden (obwohl die Protagonisten nicht von Bord geht) und Johanna als historischer Roman (obwohl die französische Freiheitsheldin, außer in einem sehr kurzen und wenig Authentizität versprechenden Bericht, gar nicht vorkommt). Dass es sich jeweils um missverstandene Lektüren handelt, wäre eigens zu zeigen. Paradiese, Übersee könnte zwar auch als Reiseroman klassifiziert werden, aber die Handlung wechselt so sprunghaft von Kontinent zu Kontinent, die Figuren sind so ungewöhnlich und tun Dinge, die jede konventionelle Vorstellung von bestimmten Kulturkreisen sprengen (etwa ein Ritter und andere Leute, die versuchen, Tiger mit Girlanden weihnachtlich zu schmücken), so dass jeder Versuch, einen Ankerpunkt im Bekannten zu finden, ins Leere laufen muss.

Die Rezensionen zu dem Roman erzeugen ebenfalls Heiterkeit, aber unfreiwillige, weil sie zwar erkennen, dass es sich bei Hoppes Erzählverfahren um etwas Neues handeln muss, aber davor ihre Waffen strecken. Manche Rezensenten können, weil ihnen die Suche nach einem Sinn, wie sie ihn verstehen, verweigert wird, sogar richtig böse werden. Ein Beispiel für jemand, der keine Schublade findet, in die er den Roman stecken kann, und dies als Schuld des Romans ansieht, ist Uwe Wittstock; man beachte die gestelzte Sprache, in die er sich ob seiner Ratlosigkeit flüchtet:

„Gerne würde man, wenn man das Buch zugeschlagen hat, von einem Scheitern auf hohem oder zumindest höherem Niveau sprechen. Doch das wäre geprahlt. Die Zahl vergleichbarer literarischer Experimente ist groß, und viele davon sind zu weit reizvolleren Ergebnissen gekommen. Vor den [sic] Hintergrund einer klassisch gewordenen Moderne wirkt Felicitas Hoppes Roman ebenso traditionell wie die von ihr abgelehnten traditionell erzählten Romane.“1

Die österreichische Kritikerin Daniela Strigl gesteht ihr Unverständnis offen ein, gibt aber sympathischerweise nicht dem Roman die Schuld:

„Ehrlich gesagt gehöre ich zu denen, die sich nie für Alice im Wunderland begeistern konnten. Und ich fürchte, dass ich deshalb auch Felicitas Hoppes neuen Roman nicht wirklich zu würdigen weiß, der sich auf dem schmalen Grat zwischen Präzision und Redundanz, Unsinn und Irrsinn ähnlich exponiert.“2

Dennoch folgt diesem Eingeständnis der Versuch einer Besprechung, im letzten Absatz kommt es dann zur endgültigen Kapitulation:

„Wer die Rückkehr des Erzählens feiert, dem könnte dieser Pauschalist [eine der Romanfiguren; S.N.] im Halse stecken bleiben. Felicitas Hoppes Story-Vintage beginnt irgendwo beim Don Quichote und entfesselt einen sehr nüchternen Rausch, berückend, bodenlos, ermüdend, bis einem der Kopf schwirrt.“3

Diese Beobachtung erklärt freilich auch, weshalb Uwe Wittstock den Roman gar nicht mögen konnte, war er doch einer der Literaturbetriebler, die eben jene „Rückkehr des Erzählens“ am deutlichsten verlangten.4

Lothar Müller behilft sich in der Süddeutschen Zeitung damit, die von Hoppe verwendete Rätselstruktur als solche zu loben:

„Ihre Sätze ähneln einer Kette von Zügen, die jeden Leser matt setzen, der nicht mit höchster Aufmerksamkeit den verwirrenden Rochaden, verrätselnden Finten zu folgen bereit ist. Das Lob des Handwerks ist zur sich selbst genießenden Virtuosität gesteigert.“5

Mit anderen Worten: Müller weiß auch nicht, worum es genau geht, aber er findet das positiv und weiß es in begeisterte, ihrerseits wenig Sinn machende Worte zu kleiden.

Etwas rationaler geht Tilman Spreckelsen zu Werke, er stellt fest: „Das freie Spiel mit den beweglichen Splittern aus Welt und Literatur ist das Strukturprinzip von ‚Paradiese, Übersee’ [...].“6 Damit ist freilich alles und nichts gesagt, denn wie wir seit Schiller wissen, ist das freie „Spiel mit den beweglichen Splittern aus Welt und Literatur“ das konstitutive Merkmal von Literatur überhaupt, man vergleiche den programmatischen Schluss des Prologs zum Wallenstein. Das von Spreckelsen anschließend bemühte Bild des ‚Kaleidoskops’ objektiviert scheinbar die Ansammlung von Nacherzählungen einzelner Episoden ohne erkennbaren Zusammenhang in seiner Rezension, also ohne den möglichen Zusammenhang in und zwischen den Episoden zu thematisieren oder selbst einen herzustellen.

Für Katharina Döbler besteht die Leistung des Romans zunächst aus seiner Intertextualität: „Eine der Vergnügungen, welche die Lektüre des neuen Buchs von Felicitas Hoppe bereitet, besteht darin, Zitate und Anspielungen zu erraten.“7 Auch sie glaubt nicht, dass die Handlung irgendeinen Sinn machen könnte: „So lässt Felicitas Hoppe ihre Figuren, die vom Glauben an die eigene Mission durchaus erfüllt sind, mit der unerbittlichen Logik des Nonsens in einer kompliziert gefalteten Welt herumirren.“8

Dass die Geschichten, wie der Relativsatz andeutet, ihre eigene Logik haben könnten, eine Logik, die genauso wenig oder viel angezweifelt werden kann wie unsere Alltagslogik(en), das kommt den RezensentInnen von Paradiese, Übersee (noch) nicht in den (durcheinander gebrachten) Sinn. Da musste die Autorin selbst nachhelfen, die in Sieben Schätze. Augsburger Poetik-Vorlesungen (Frankfurt/Main: S. Fischer 2009) und Abenteuer – was ist das? (Göttingen: Wallstein 2010) genau diese im Grunde konstruktivistische Grundlage ihrer Poetik erläuterte. Dass aber gerade ihr sprachlich und formal virtuoser Stil (in ihren Texten ist nichts, aber auch gar nichts zufällig!) die Kontingenz der menschlichen Existenz nicht nur nicht als riesiges Problem darstellt, sondern jede Handlung, sei sie auch noch so absurd und vielleicht sogar tragisch, in eine existenzbejahende Heiterkeit mündet, das hob die Schwelle für die nicht nur auf erkennbare Erzählstrukturen, sondern auch auf negative Figuren und Handlungen mit meist bitterem Ende geeichte KritikerInnen noch einmal höher.

Soweit man dies jetzt schon sagen kann, zeugt nicht nur die Verleihung des Büchner-Preises, sondern auch die Rezeption des neuen Romans Hoppe davon, dass die Kritik in diesem Punkt dazugelernt hat. Um es mit Helmut Böttiger zu sagen: „Dieses Buch ist rundum positiv. Das ist natürlich eine Provokation.“9

 

Fazit

Mit Niklas Luhmann lässt sich festhalten, dass Literatur keine Quelle für Informationen und von Alltagskommunikation zu unterscheiden ist, ein Irrtum, dem die Literaturkritik nicht selten aufsitzt: „Ihre Formen werden als Mitteilung verstanden, ohne Sprache, ohne Argumentation. Anstelle von Worten und grammatischen Regeln werden Kunstwerke verwendet, um Informationen auf eine Weise mitzuteilen, die verstanden werden kann.“10 Kunstwerke und literarische Texte kann man „im Bewußtsein ihrer ‚Einmaligkeit‘ immer wieder anders wahrnehmen “. Für Luhmann ist dies sogar ein „Qualitätstest“ – wenn ein Kunstwerk diesen Test nicht erfüllt, dann ist es kein Kunstwerk.11 Insofern „wird Kunst zur Artikulation ihrer Selbstreferenz“.12

Hoppes Prosa erfüllt diese Bestimmung von dem, was Kunst und Literatur ausmacht, in einer besonders radikalen Weise, sie ist – weitere zentrale Merkmale anspruchsvoller Literatur – komplex und innovativ, zugleich ist sie aber auch wunderbar einfach zu lesen, wenn man einmal den Wunsch nach konventioneller Sinngebung suspendiert. Das ist nicht nur eine Provokation, sondern auch eine der großartigen Leistungen von Hoppes Prosa. Dass die Darmstädter Jury eine solche Autorin ausgezeichnet hat, das zeigt im Umkehrschluss, dass sie zumindest heuer zu Recht diesen seinerseits extremen, weil extrem bedeutsamen und Aufmerksamkeit auf sich ziehenden Preis vergibt.

 

Stefan Neuhaus, 15.06.2012

stefan.neuhaus@uibk.ac.at

 



[1] Uwe Wittstock: Rettet die Jungfrau. Der Hintersinn in Felicitas Hoppes „Paradiese, Übersee“ ist tief verborgen. In: Die Welt (Die literarische Welt) Nr. 5 vom 1.2.2003, S. 4.

[2] Daniela Strigl: Schönheit der Zwecklosigkeit. Felicitas Hoppe hat einen philosophischen Abenteuerroman geschrieben. In: Der Standard (Album) Nr. 4301 vom 22.2.2003, S. A7.

[3] Ebd.

[4] Vgl. Uwe Wittstock: Leselust. Wie unerhaltsam ist die neue deutsche Literatur? Ein Essay. München: Luchterhand 1995.

[5] Lothar Müller: Zurück auf die Schiffe. Hund, Pferd, Rüstung und ein Handschuh voller Bedeutung: Felicitas Hoppes Ritterroman „Paradiese, Übersee“. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 44 vom 22.2.2003, S. 16. [Man beachte das Etikett Ritterroman!]

[6] Tilman Spreckelsen: Ein Glockenton, ganz leise. Ritterlich: Felicitas Hoppe legt Karten für den Weg ins Paradies. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 27 vom 1.2.2003, S. 44.

[7] Katharina Döbler: Papierschiffchen sind unsinkbar. Felicitas Hoppe schickt ihre Figuren nach der Logik des Nonsens durch die Welt. In: Die Zeit Nr. 16 vom 10.4.2003, S. 56.

[8] Ebd.

[9] Helmut Böttiger: Taktstock und Lippenstift. Wer aufs Neue aus ist, hat schon verloren: In ihrem neuen Roman „Hoppe“ erschreibt sich Felicitas Hoppe ein Lebensmärchen. In: Süddeutsche Zeitung (Literatur) Nr. 61 vom 13.3.2012, S. 4. – Alle zitierten Zeitungsartikel stammen aus dem Innsbrucker Zeitungsarchiv / IZA.

[10] Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997. (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1303), S. 39.

[11] Ebd., S. 69.

[12] Ebd., S. 75.