Der Bob Ross der Literatur
Oder: Warum es im deutschen Fernsehen kaum gute Literatursendungen gibt. Von Irene ZanolEs gibt im deutschen Fernsehen – grob gesagt – zwei Arten von Literatursendungen: Zum einen die vermeintlich innovativen, experimentierenden, die ignorieren, dass Literatur und Fernsehen nicht kompatibel sind, und zum anderen die konservativen, etwas altbackenen, die die Inkompatibilität akzeptieren und sich mit ihr arrangiert haben. Was davon das kleinere Übel ist, sei zunächst einmal dahingestellt.
Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen ist der Essay-Band Wahr muss es sein, sonst könnte ich es nicht erzählen des Sinologen, Politikberaters und Journalisten Tilman Spengler, der 2011 bei Ullstein erschienen ist. Es handelt sich um eine Sammlung von 30 Texten (u. a. über Cervantes, Rilke, Tolstoi, Melville, Sophokles, Goethe, Camus und Joyce), mit denen Spengler ein nobles Ziel verfolgt: In Funktion eines „Schwungburschen“ (S. 15), des Jahrmarktsgehilfen, der die Schaukeln in Bewegung versetzt und auf Hochzeiten jene Gäste zum Tanz auffordert, die schon länger nicht mehr getanzt haben, will er das Interesse an im Bücherregal vielleicht schon verstaubten Klassikern der Weltliteratur (wieder) wecken.
Die solide gearbeiteten Essays haben zwar selten etwas Neues in petto, bieten dafür aber – ihrer Knappheit zum Trotz – einen guten Einstieg in und Überblick über einige Werke der Klassiker, durch die sich zwar kollektive Identitäten bilden, von denen man en detail jedoch oft nur vage Kenntnis hat. Spengler baut dabei auf Anekdoten, die in der Erinnerung der Leser haften bleiben und die wie Eselsbrücken über den Fluss des Vergessens zu den Werken führen, die man immer schon einmal lesen wollte oder die man vielleicht bereits gelesen, aber lange schon wieder vergessen hat.
Liest man die Essays von Spengler, ist das Bild des Schwungburschen durchaus treffend. Doch sieht man sich die 15-minütigen Fernsehsendungen an, die er seit 2009 wöchentlich für BR-alpha moderiert und denen die nun publizierten Texte zugrunde liegen, kommen Zweifel, ob man dieser „Aufforderung zum Tanz“ nicht doch widerstehen sollte. Vorweg sei angemerkt: Ein kurzer Vergleich ergibt, dass die Sendemanuskripte sich von den nun publizierten Texten nur marginal unterscheiden. Und zugleich muss man feststellen, dass die nötige Verve hier gänzlich fehlt. Mag sein, dass Schwung und Elan für den Bildungssender, dessen Stärke Peter Lulay zu Recht in einer positiven „Zeitentrücktheit“ erkannt hat, nicht ausschlaggebende Kriterien sind – sieht man vom täglichen Fixpunkt Tele-Gym einmal ab. Doch bei allem Verständnis dafür, dass die Macher von BR-alpha ihre Produktionen möglichst unprätentiös daherkommen lassen wollen: Die Produzenten von Klassiker der Weltliteratur täten gut daran, sich weniger an den ebenfalls vom bayerischen Bildungskanal ausgestrahlten Highlights Michael Köhlmeier erzählt Sagen des klassischen Altertums oder gar an Bob Ross’ Joy of Painting zu orientieren.
Wenn schon, dann sollten sie sich doch lieber ein Vorbild an Denis Schecks Druckfrisch nehmen, auf das die ARD schon seit 2003 mit einigem Erfolg setzt. Über die Notwendigkeit der filmisch aufwändig gestalteten Intros zu den einzelnen Beiträgen und Interviews kann man streiten, und etwas bemüht wirkt das Druckfrisch-Absperrband, das die Sendung sozusagen als rot-weißer-Faden durchzieht. Auch Schecks Praxis, die Bestsellerlisten in der Lagerhalle eines Zwischenbuchhändlers knapp zu kommentieren und schließlich nach dem Motto Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen die aussortierten Bücher über eine Rutsche in einen Container zu befördern, kann man aufgrund der zumeist sehr knappen Argumentation für fragwürdig erachten. Was etwas zu selbstbewusst als "die Wahrheit über die zehn meistverkauften Romane der Deutschen" angekündigt wird (vgl. Intro zur Sendung vom 29.4.2012), trifft aber oft ins Schwarze und ist durch Schecks Formulierungsgabe und seinem Hang zum Lästern bisweilen kurzweilig und von beinahe komischem Wert. Man mag zur Gestaltung der Sendung oder auch zu einzelnen Formulierungen, mit denen Scheck übers Ziel hinausschießt, stehen, wie man will. Unbestritten ist, dass Druckfrisch mit Denis Scheck zwar etwas buntscheckig, abermomentan die lebendigste Literatursendung im deutschen Fernsehen ist.
Dagegen nimmt sich Tilman Spenglers Präsentation sehr konservativ aus. Mit dem Habitus des Bildungsbürgers stellt er den jeweiligen Autor und sein Hauptwerk ohne Publikum und ohne Gäste in einer geradezu potemkinsch anmutenden Wohnung mit schweren Teppichen und Regalen voller Bücherattrappen vor. Eine explizite Wertung, wie Scheck sie betreibt, findet bei Klassiker der Weltliteratur nicht statt. Hier steht allein die Literatur im Vordergrund. Spengler bewegt sich argumentativ in höflichem Gelehrten-Duktus („Man möge mir an dieser Stelle eine intellektuelle Grobheit nachsehen“, S. 207) mit Moderatorenkärtchen, auf denen er seine geschliffenen Formulierungen notiert hat, durch die Wohnung, sucht die Kamera, blickt über die Brille auf seiner Nasenspitze hinweg und trägt gestikulierend vor, was man in einer Viertelstunde über die jeweilige Romanhandlung und zur Biographie des Autors sagen kann. Dabei beschäftigt sich Spengler ausschließlich mit Klassikern und streift die Gegenwartsliteratur kaum einmal am Rande (ein ähnliches Konzept verfolgt die in Frankreich produzierte Sendung Dr. Book. Die Sprechstunde für Literaturklassiker, die 2011 auf ARTE ausgestrahlt wurde). Dem Vorwurf der Verbandelung mit Verlagen setzt sich Spengler damit wenigstens nicht aus; die Texte, über die er spricht, sind größtenteils gemeinfrei und finden sich zumeist auf den Backlists mehrerer Verlage. Hier dominiert der Höhenkamm und nicht die geschmacklose Bebilderung von Büchern, die in vielen anderen Sendern (und leider auch bei Druckfrisch) offenbar unter der mediengerechten Aufarbeitung von Literatur verstanden wird, präsentiert von Moderatoren, die zu Animatoren werden und Literatur inszenieren sollen – und dabei häufig nur sich selbst in den Vordergrund rücken.
Statt Argumenten bietet man Bilder, statt Wertungen Lobhudeleien – letzteres eine Disziplin, in der sich besonders Wolfgang Herles hervortut. Er transportiert sein Blaues Sofa (ZDF) von einem Ort zum nächsten und führt Autorengespräche am liebsten an „Originalschauplätzen“ von Romanen. Für die Sendung vom 16.9.2011 mit Ilja Trojanow ließ er das Sofa auf den Hintertuxer Gletscher (3.200 Meter hoch) befördern, weil es sich anscheinend nur dort angemessen über Trojanows Roman EisTau sprechen ließ. Eine Maskerade veranstaltete der ehemalige Leiter des ZDF-Hauptstadtstudios Bonn dann in der Sendung vom 18.5.2012. In der Einleitung zum Interview mit der nicaraguanischen Autorin Giaconda Belli über ihren Revolutions-Roman Die Republik der Frauen zeigte sich Herles – selbstverständlich auf dem Blauen Sofa sitzend – mit Zigarre und im pseudomilitärischen Kampfanzug. Ein martialisches Sturmgewehr steht dort, wo für gewöhnlich Herles’ Gesprächspartner Platz nehmen. Statt auf dem Hintertuxer Gletscher bewegt sich der Moderator damit auf dem Gipfel der Geschmacklosigkeit.
Wolfgang Herles in der Sendung vom 18.5.2012. Online abrufbar in der ZDF-Mediathek (Min. 11:50)
Im deutschsprachigen Raum hat sich in den letzten Jahrzehnten ein Kritiker-Typus breitgemacht, bei dem die Gefahr besteht, dass er die Bücher, über die er spricht, zur Staffage werden lässt, zum Vorwand, um sich selbst darzustellen. Für solche Kritiker ist das Fernsehen ein ideales Biotop und nicht umsonst hat Marcel Reich-Ranicki gerade in diesem Medium Karriere gemacht. Doch mit Aufgeblasenheit und plattem Populismus schafft sich die Literaturkritik im Fernsehen wohl selbst ab, noch bevor ein Sendeformat gefunden wird, das bei einer kritischen Masse von Zusehern auf Zustimmung und Interesse stößt. Das Literarische Quartett wird noch heute oft als Beispiel für eine Sendung genannt, die viele Zuseher begeisterte, jedoch standen hier weniger Autoren und Literatur im Vordergrund als vielmehr Formen der Streitkultur und Inszenierungspraktiken.
Das Fernsehen ist ein Massenmedium, und ernst zu nehmende Literatursendungen sind – das ist nicht so elitär gemeint, wie es vielleicht klingt – nicht unbedingt massentauglich. Wo die Sendeanstalten versuchen, E-Literatur mit U-Methoden zu präsentieren, dem Publikum also gar ein U für ein E vorzumachen, wird es aber oftmals peinlich. Ändern ließe sich das wohl nur durch die Einsicht der Programmdirektoren, dass Literatursendungen ein Programm für ein kleines Zielpublikum sind und das auf absehbare Zeit auch bleiben werden. Und dennoch sollte man sich den Luxus einer guten Sendung leisten.
Ein Beispiel dafür, dass es funktionieren kann, liefert der SWR mit der Sendung Literatur im Foyer. Sie wurde von Martin Lüdke entwickelt und lange moderiert und wird inzwischen abwechselnd von Thea Dorn und Felicitas von Lovenberg aus Stuttgart, Baden-Baden und Mainz gesendet. Literatur im Foyer ist die langlebigste Büchersendung im deutschen Fernsehen (seit 1997) und zugleich die schnörkelloseste. Ihr Erfolgsrezept ist vielleicht, „dass einander wohlgesonnene Fachleute miteinander reden, als wäre das hier kein Fernsehen“[1].
Noch ist das Fernsehen für den literaturaffinen Zuseher also nicht ganz verloren, doch das Zielpublikum wird kleiner und kleiner, wenn Klamauk und Infotainment die wenigen bestehenden Sendungen weiter dominieren. Vor dieser Art von Literatursendungen sei also gewarnt. Doch die Konsequenz daraus sollte nicht sein, sich in der Form der Präsentation an Sendungen aus der Zeit kurz nach Erfindung der Braunschen Röhre zu orientieren.
Bliebe herauszufinden, wo sich die beiden Konzepte vielleicht doch noch treffen könnten. Dem BR, der Ende der 1990er Jahre den mutigen Versuch gewagt hat, mit einem eigenen Bildungsprogramm auf Sendung zu gehen, wäre der nötige Mut dafür zuzutrauen. Der Schwungbursche Tilman Spengler könnte sich – seine Essays beweisen es – dazu eignen, den Beweis zu erbringen, dass Literatur im Fernsehen nicht zwangsläufig sein muss, was Bob Ross für die Kunst ist.
Irene Zanol, 14.12.2012
Irene.Zanol@student.uibk.ac.at
Literaturhinweise:
Tilman Spengler: Wahr muss es sein, sonst könnte ich es nicht erzählen. 30 Glücksfälle der Weltliteratur. Berlin: Ullstein Taschenbuch Verl., 2011. 288 S. ISBN: 978-3-548-61128-0. Preis [A]: € 10,30.
Alle bisher ausgestrahlten Sendungen der Reihe Klassiker der Weltliteratur sind in der BR-Mediathek abrufbar.
[1] Martina Zöllner. In: Ich möchte lieber doch. Fernsehen als literarische Anstalt. Hrsg. von Alexander Wasner. Göttingen: Wallstein, 2008, S. 139.