Buchtipps vom Bundespräsidenten
Theodor Heuss als Feuilletonist und Literaturkritiker. Von Marc Reichwein„Lieber Herr Heuß! In der Hilfe wird Anfang Mai die zweite Stelle frei: Unterhaltungsteil und allgemeine Mitarbeit, Büchertisch […] u.s.w. Hat es jetzt einen Zweck mit Ihnen darüber zu verhandeln? Ich würde dann an Prof. Brentano schreiben, ob er Ihnen erlaubt, den Dr. von hier aus zu machen. Es bleibt Ihnen genug Zeit für Ihre Wissenschaft. Gehalt monatlich 150 M für den Anfang. Heute will ich nur wissen, ob Sie überhaupt dafür zu haben sind.“[1]
Und ob er zu haben war! Zwar war Theodor Heuss 1905 zwar gerade 21 Jahre alt und noch Student. Aber die Anfrage kam von Friedrich Naumann, der für Heuss „schlechthin lebensbestimmend“[2] werden sollte, nicht nur als Mentor für die politische Lebenseinstellung, sondern auch im Privaten. Im Naumann-Kreis lernte Heuss seine Frau Elly kennen. Und in Naumanns Zeitschrift Die Hilfe hatte Heuss auch, bereits als Schüler, seinen allerersten Artikel veröffentlicht: eine Gratulation zu Wilhelm Buschs 70. Geburtstag.
Das Genre des Gedenkartikels sollte Heuss zeit seines Lebens nicht mehr loslassen. An dieser Stelle wird er selbst zum Gegenstand: Aus Anlass seines 50. Todestages, der in den Medien kaum bedacht wurde, möchte der nachfolgende Essay einen Einblick in die weitgehend unbekannte Feuilletonkarriere des ersten deutschen Bundespräsidenten geben, namentlich seine Laufbahn (1), seinen Stil (2) und seine Wirkung (3) als Literaturkritiker.
1) Seine Laufbahn: „daß ich nicht einseitig in ein bestimmtes Fach gedrückt werde“
Schon mit seiner Neigung zur Nicht-Festlegung schien Heuss, aus liberal-demokratischem Elternhaus stammend, für eine Karriere im Allzuständigkeitsressort Feuilleton prädestiniert: Er studierte „Nationalökonomie, Staatslehre, Philosophie, Historie, Kunstgeschichte, Literatur“ – kurzum: „alles Mögliche“.[3]
Die „Vielseitigkeit“, die Joachim Radkau, Verfasser der neuesten Biografie, zum Markenzeichen von Heuss erklärt, konnte, positiv betrachtet, einen perfekten Rundum-Feuilletonisten aus ihm machen. Einen Allrounder, der über Malerei und Architektur genauso schreiben konnte wie über Geschichte und Literatur. Maler wie Ferdinand Hodler oder Thédore Géricault interessieren ihn, aber ebenso das Design des Deutschen Werkbundes. Mit Profangotik in Belgien setzte er sich genauso auseinander wie mit der „Phalluspoesie“ (Heuss) von Frank Wedekind in Berlin. „Schiller und die Politik“ beschäftigte ihn genauso wie die von Werner Sombart aufgeworfene Frage: „Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus?“
Heuss war vielleicht nie der Bohemien, als den ihn das Jugendporträt von Albert Weisgerber aus dem Jahr 1905 darstellt. Aber, schreibt der Kunsthistoriker Stefan Borchardt, „mit dem Bücherregal im Hintergrund ergibt sich eine gute Vorstellung von der Eigenart des jungen Intellektuellen Heuss“. Die Bücher stünden für das Interesse an der intellektuellen Durchdringung der Dinge, der wache Blick für die rasche Auffassungsgabe, die im Beruf des Journalisten unerlässlich ist. Zugleich spräche aus den Augen – und erst recht aus den leicht geöffneten Lippen – „eine gewisse flatternde Unruhe und Flüchtigkeit“.[4]
Negativ betrachtet, fehlt Heuss mit seinen vielfältigen journalistischen Interessen also eine gewisse Profilierung, die wir Nachgeborenen so gerne ausfindig machen, um sie mit entsprechenden Etikettierungen zu versehen. „Papa Heuss“ dürfte die wohl klebrigste sein, die dem scheinbar gemütlichen Präsidenten bis heute gern angeheftet wird. Als Journalist war Heuss natürlich selbst Teil des Etikettiergewerbes, er hat jederzeit freudig feuilletontypische Antonomasien geprägt – etwa, wenn er Friedrich Ebert den „Abraham Lincoln der deutschen Geschichte“ nennt.
So wenig Heuss als vielseitiger Kritiker nach künstlerischen oder literarischen Vorlieben zu verorten ist, so sehr stellt „die Auseinandersetzung mit schwäbischen Themen […] eine Konstante in Heuss’ journalistischem Schaffen“ dar; das zumindest konstatiert der FAZ-Journalist Reiner Burger, der mit seiner Dissertation „Theodor Heuss als Journalist“ eine einschlägige Studie zum Thema vorgelegt hat.[5]
Heuss verkörperte – gerade auch als Literaturkritiker – das landsmannschaftlich Enthusiasmierbare, das im heutigen Feuilletonzeitalter etwas verloren gegangen zu sein scheint (aber nur auf den ersten Blick, wenn man bedenkt, wie sich die Peter Richters oder Nils Minkmars entzünden können, wenn es um Sachsen respektive das Saarland geht. Sogar ein obergestrenger Gehard Stadelmaier bekommt bei urschwäbischen Themen wie Heuss eine milde Fabulierlaune).
Neben seiner Vorliebe für Gestalten der Literatur- und Geistesgeschichte dürfte Heuss auch weiterhin der einzige Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland bleiben, der eine Dissertation über „Weinbau und Weingärtnerstand in Heilbronn a. N.“ verfasst hat. Gerüchte, wonach er außer Trollinger nichts gelten ließ, müssen an dieser Stelle nochmals dementiert werden: „Der Wein von Ischia ist recht ordentlich; wir kannten uns schon und haben in den paar Tagen des Besuchs gute Kameradschaft gehalten“, schreibt Heuss in einem Reisebericht.
Überhaupt fühlt sich Heuss im Schwäbischen womöglich gar nicht so wohl, wie es seine Herkunft und sein Akzent, seine Essays und Engagements vermuten lassen. Als Heuss nach seinen Berliner Jahren (1905 bis 1912) bei der Zeitschrift Die Hilfe Chefredakteur der Neckar-Zeitung in Heilbronn wird und nebenbei auch Schriftleiter der Kulturzeitschrift März (bis 1917), verschiebt sich sein Fokus von den literarischen zu den eher politischen Themen – angeblich auch, weil es in Heilbronn zwar „gute Freunde, doch keinen Menschen“ gab, „mit dem man über literarische Wertungen abwägend diskutieren konnte“.[6]
Kein Wunder, dass Heuss nach dem Ersten Weltkrieg dann doch wieder gerne nach Berlin wechselte und Chefredakteur der Zeitschriften Deutsche Politik (1918 bis 1922) sowie der Deutschen Nation (1922 bis 1925) wurde. Ab 1924 war Heuss Reichstagsabgeordneter; die journalistische Tätigkeit trat nun zunehmend in den Hintergrund, zumal Heuss seit 1920 auch als Dozent an der deutschen Hochschule für Politik in Berlin agiert.
Als er für diese Tätigkeit nach 1933 Berufsverbot und auch diverse Schreibrestriktionen bekam (in der Frankfurter Zeitung konnte er nur unter Pseudonym veröffentlichen), versucht er sich als freier Publizist nur mit unverfänglichen Gedenkartikeln und Biografien für den Buchmarkt über Wasser zu halten. Gedenkartikel zu historischen Zusammenhängen werden zeitweilig sogar die Haupt-Spezialität seines Schaffens.
Heuss war sicher kein Popstar der Kritik – und wird auch rückwirkend keiner mehr werden. Je mehr man sich mit Heuss’ Texten beschäftigt, desto mehr wird deutlich: Seine Stärke war die Porträtkritik – also jene Mischform zwischen Porträtskizze und Buchbesprechung, die heute auch das Nachrichtenmagazin Der Spiegel oft prakiziert. In Heuss’ Auseinandersetzungen mit Literatur dominiert der Zugang über die Person des Autors; bestenfalls porträtiert er Werkbiografien.
Vielleicht war Heuss zeit seines Lebens mehr Essayist als Rezensent. Der Heuss-Forscher Burger nennt ihn einen „Meister der biographischen Form“.[7] Wer mutmaßt, ob die mediale Inszenierung von Jahrestagen und Jubiläen in den letzten Jahren zugenommen hat (gefühlte Antwort: ja), dem empfiehlt sich ein Blick in die Heuss-Korrespondenz: „Bieder und brav habe ich mir so ein Verzeichnis von Gedenktagen angeschafft, um nachzusehen, ob in der nächsten Zeit der ein oder andere Stoff fällig wird, dessen Behandlung ich der Frankfurter Zeitung vorschlagen könnte.“[8]
Nach dem Krieg wird Heuss von den Aliierten rasch zu den Lizenznehmern der neu gegründeten Rhein-Neckar-Zeitung berufen. Neue Artikel entstehen in der Folge kaum noch, eher Reminiszenzen bei Redeauftritten – dann schon im höchsten Staatsamt:
Vergessen Sie bitte, daß der Bundespräsident vor Ihnen steht – er ist nämlich ein ganz anderer, der Literat, der zahlreiche Essays über Malerei, Graphik, Plastik, ja auch zwei Bücher über Architektur geschrieben hat […].[9]
Aus diesem Statement spricht das Selbstverständnis eines Publizisten – nur: was für eines eigentlich?
2) Sein Stil: Wie Volkshochschule, nur gedruckt?
War Theodor Heuss, von seiner Schreibe her gesehen, ein Mann ohne Eigenschaften? „Einen eigenen, unverwechselbaren feuilletonistischen Stil entwickelte er […] nicht.“ Reiner Burger, der so urteilt, fühlt sich bei der Lektüre von Heuss-Texten manchmal sogar an einen „Volkshochschulkurs (nur eben in gedruckter Form)“ erinnert.[10]
Letzteres mag maßgeblich auf Heuss’ journalistische Sozialisation bei Friedrich Naumanns Zeitschrift Die Hilfe zurückzuführen sein. Das christlich-sozialliberale Organ, das die Losungsworte „Gottes Hilfe, Selbsthilfe, Staatshilfe, Bruderhilfe“ im Untertitel trug, hatte eine volkspädagogische Programmatik. Es ging mit Naumanns Worten darum, den „ungelehrten, doch […] bildungsbeflissenen Arbeiter“ als Leser zu erreichen. Ob und inwieweit Heuss dies mit seinen Buchbesprechungen immer gelungen ist, darf bezweifelt werden, denn es waren mehrheitlich sehr kurze, wenige Zeilen lange Beiträge, die die Rubrik „Büchertisch“ in die Zeitschrift Die Hilfe ausmachten. Und:
Im Gegensatz zu seinen Berichten zur bildenden Kunst verzichtete Heuss bei seiner Literaturberichterstattung darauf, seinen Lesern breite Grundlagen über Werke aus verschiedenen Epochen zu vermitteln.[11]
Mit anderen Worten: Heuss beschränkte sich – zumindest während seiner Hilfe-Jahre – auf das, was Genrekunden zur Literaturkritik gemeinhin als „Kurzkritik“[12], manchmal auch als „Buchtipp“[13] bezeichnen – und der negativen Konnotation, dass jedes nicht mäandernd lange Begleitschreiben sowieso nur eine „Schwundstufe“[14] der Literaturkritik sei. Kürze allgemein ist in der Theorie und Praxis der Literaturkritik eher negativ konnotiert; nur Stephan Porombka macht mit seinem Buch Kritiken schreiben (vgl. das dortige Kapitel 5) eine Ausnahme.
Indes erscheinen seine kurzen Texte vergleichsweise unspektakulär: „Verkürzen, zuspitzen, pointieren, werten“, die typischen literaturkritischen Sprechakte, die mit Stephan Porombka für kurze Textsorten geltend zu machen sind, beherzigt Theodor Heuss nur bedingt.
Im Gegenteil. In einer Besprechung zu Gerhard Hauptmanns „Christusroman“, die in der Sammlung Vor der Bücherwand (S. 242) abgedruckt ist, äußert sich Heuss zu seiner eigenen Verfahrensweise:
Der Leser pflegt vom Rezensenten ein Werturteil zu verlangen, er will wissen, wie er daran ist. Aber ich kann ihm nicht dienen. Ich weiß, daß Hauptmanns Buch mit fünf Redensarten totzuschlagen ist, und sehe die Mängel seiner epischen Technik, die bei der Lektüre recht fühlbar werden. Und doch, meine ich , es bleibt dies uns ganz unzeitgemäße Buch auch in seinen Schwächen bedeutsam genug […].
Ein aufschlussreiches Statement in eigener Sache, das offenbart: Heuss scheut das starke Urteil; er will auch dann, wenn ein Buch deutliche Schwächen offenbart, lieber keinen Verriss schreiben, sondern dessen Schwäche rechtfertigen. Es ist die zurückhaltende, wohlüberlegte, stets abwägende Art, Literaturkritik zu betreiben. Oder mit den Worten der Emphatiker-Gnostiker-Debatte des Jahres 2006: die nicht-emphatische, nicht polternde.
Heuss laviert gern, stellt sein Biograf Joachim Radkau fest, und tatsächlich könnte man fragen, ob ein Kritiker mit mangelndem Willen zum Urteil oder Talent zur Polemik ein guter Literaturkritiker ist. Das aber berührt die typologische Frage, ob man Kritik eher intellektuell oder impulsiv, eher räsonnierend oder performativ begreift. Klar ist: die Popstar-Rolle, die Marcel Reich-Ranicki eingenommen hatte, nimmt die Performance immer wichtiger als das abwägende Argument. Das Modell von Kritik, das Brigitte Schwens-Harrant entwirft, zählt gerade das Vorsichtige und Umsichtige bei der Urteilsfindung, das Sich-selbst-in-Frage-stellen-Können zu den essentiellen Eigenschaften von Kritik.
Könnten wir uns Heuss als heute tätigen Publizist vorstellen? Er wäre womöglich Doppelgänger von Rüdiger „Sachbuchbestseller“ Safranski, auf dem Markt für gut lesbare Biografien zu Hause.
Was Heuss sicher fehlte, war polemisches Talent. Er hatte eher diplomatisches – und kam ja damit auch ins höchste Amt, das die Bundesrepublik Deutschland zu vergeben hat. Schließlich, als Gabe für jede Form von Kritik nicht zu unterschätzen: sein Humor.
Als Heuss im Amt des Bundespräsidenten (1949–1959) endgültig eine herausragende Persönlichkeit der Zeitgeschichte geworden war, musste er sich auch mit dreister Bürgerpost auseinandersetzen. Wie der Heuss-Biograf Radkau berichtet, bekam der Bundespräsident im September 1950 ein Gedicht[15] von einem Arno Kießling zugesandt:
Warum wird unser Theodor
In letzter Zeit so dick
Er hat doch keinen Wettstreit vor
Mit Ost-Kollegen Pieck?
[…]
Dass er die jetz’ge Form bewahrt
Das hielten wir für gut.
Denn’s ist doch nicht des Schwaben Art
Dass er sich dicke tut.
Ach je! Es war so or’ginell:
Ein dünner Präsident! –
Doch wird er dicker, sagt man schnell:
Sieh, wie die Zeit verrennt!
Kriegt einer mal vom Staat Gehalt
Sitzt nah dem Kabinett
Verliert er seine Linie bald
Und wird allmählich fett.
In jeder Anthologie gebührte dieser Bürgerlyrik ein Ehrenplatz – nicht nur weil es mit dem Topos vom nährenden Staat ein Klischeestück an frühbundesrepublikanischer Politikverdrossenheit bemüht, sondern auch, weil es Heuss mit sichtbarem Ehrgeiz an dessen Schwaben-Ehre packt.
Heuss wiederum „revanchierte sich mit einer eigenen Reimerei“ (Radkau):
Was Arno sieht
Seh’n andere auch
– schon rundet sich ein Bürgerbauch,
was meistens leichten Beifall findet,
weil manche Sorg mit ihm entschwindet.
Der Vorgang selber ist ganz klar,
er stellt ein Durchschnittsschickal dar,
bei dem der Bundespräsident
sich nicht von seinem Volke trennt.
Ur-Gedicht und bundespräsidiale Replik legen so, ganz am Rande, auch ein schönes Zeugnis für die rasch Wirtschaftswunderspeck ansetzende Gebrauchslyrik ab.
Rund 4.100 Artikel des Journalisten Heuss hat Burgers eingangs erwähnte Studie identifiziert.[16] Wer Heuss’ Kunstbetrachtungen (Lust der Augen), Buchbesprechungen (Vor der Bücherwand) oder Reise-Essays (Von Ort zu Ort) nachlesen möchte, dem seien die drei antiquarisch erhältlichen Auswahlbände des Tübinger Wunderlich Verlags empfohlen.
Sie wurden kurz nach Heuss’ Präsidentschaft herausgegeben und erschienen in bis zu zehn Auflagen. Heute scheinen sie nicht nur wegen ihrer Untertitel („Wanderungen mit Stift und Feder“; „Stilles Gespräch mit beredtem Bildwerk“; „Skizzen zu Dichtern und Dichtung“) sympathisch aus der Zeit gefallen. Auch der Duktus der Vorworte deutet an, dass der noch allseits in den Köpfen präsente „Papa“ den Absatz seinerzeit maßgeblich beflügelt haben dürfte.
Heuss schreibt (in Vor der Bücherwand): „Den Wanderbildern in ‚Von Ort zu Ort’ und den Kunstbetrachtungen in dem Band ‚Lust der Augen’ folgt nun die Sammlung literarischer Arbeiten. Dieser von Beginn an geplante dritte Band soll die kleine Reihe meiner Essays zu Kunst und Literatur beschließen, die bisher bei einem überraschend großen Leserkreis so freundliche Aufnahme fand.“
Abgesehen davon, dass es eine eigene Studie wert wäre, die von Heuss selbst informell als „Wanderbilder“ betitelten Reise-Essays in ihrer Mischung aus Kunst- und Landschaftsbeschreibung mal mit denen eines Josef Hofmiller zu vergleichen, fällt der Wandel in der bundespräsidialen Publizistik ins Auge! Früher also veröffentlichten Bundespräsidenten a. D. „Essays zu Kunst und Literatur“; heute veröffentlichen Bundespräsidentengattinnen a. D. Memoiren über ihre vertane Karrierezeit.
Leben, Werk und Wirkung – mit diesem Dreiklang werden Klassiker von der Nachwelt gerne gefasst. Anders als bei wirklichen Literaten herrscht bei Publikationen aus den Heuss-Nachlässen (zentrale Institution ist das Theodor-Heuss-Haus in Stuttgart) das Staatsmännisch-Politische vor. Das literaturkritische und feuilletonistische Werk steht ganz eindeutig nicht im Fokus der Heuss-Forschung. Um an dieser Stelle keine Missverständnisse entstehen zu lassen: Heuss ist und wird kein Klassiker der Literaturkritik – weder stilistisch (siehe oben), noch in dem Sinne, dass er das Metier mit theoretischen Reflexionen revolutioniert hätte. Er gehört stilistisch nicht in die erste Reihe der Ahnherren, die jede Anthologie von Lessing bis Schlegel über Kerr und Sieburg bis zum Fernsehpopstar „MRR“ aufbietet.
Gleichwohl agierte der spätere Kulturpolitiker und Staatsmann als Angehöriger des Literatur-, Kultur- und Medienbetriebs. Und gerade das macht seine publizistische Rolle zu allen Zeiten seines Lebens so relevant – sei sie verdienstvoll, etwa, wenn er Hermann Hesse während des Ersten Weltkriegs gegen den Vorwurf verteidigt, ein vaterlandsloser Gesell zu sein. Oder sei sie fragwürdig, wenn er – ausgerechnet als Liberaler – für das umstrittene Reichstagsgesetz gegen Schmutz und Schund oder für Hitlers Ermächtigungsgesetz stimmte.
Heuss' Werk als Journalist und Kritiker bildet einen lohnenden Schlüssel, sich entlang seiner Biografie mit prägenden Epochen deutscher Kulturgeschichte zu beschäftigen, in denen es demokratische und liberale Kräfte noch schwer hatten (manchmal auch mit sich selbst).
Wie aufgeschlossen der vermeintlich betuliche Heuss sich auch jenseits des Schreibens ins kulturelle Leben seiner Zeit einbrachte, zeigt last but not least eine von Stefan Borchardt und Marc Gundel in Katalogform herausgegebene Neuerscheinung: Theodor Heuss und die Kunst würdigt zum 50. Todestag erstmals ausführlich, wie Heuss auch als Funktionär wirkte, namentlich als Vorstandsmitglied im Deutschen Werkbund (1924–1933). Was vorderhand nach Kulturbürokratie klingt, lässt durchaus Afficionado-Qualitäten aufflackern. Denn nachdem Heuss 1907 die Dresdner Kunstgewerbe-Ausstellung besucht hatte, die schließlich zur Gründung des Deutschen Werkbundes führen sollte, orderte er für sich und seine Frau sofort entsprechende Möbelstücke.
Im Zuge der jüngsten NS-Raubkunstaffäre wurde bekannt, dass Theodor Heuss in seiner Funktion als Bundespräsident auch als Schirmherr von Ausstellungen fungierte, die Raubkunst-Werke aus der Sammlung Gurlitt zeigten. Ein solches Patronat aus heutiger Sicht süffisant als peinlich für den deutschen Staat zu bezeichnen, wäre allerdings denkbar wohlfeil. Vielmehr bilden sich symptomatische Nachkriegsrealitäten ab, in denen man die Vergangenheitsbewältigung der dunklen Jahre im Kunstbetrieb ganz ungeniert mit denen veranstaltete, die schon unter Hitler gedient hatten.
Christiane Ketterle hat in ihrem Aufsatz über den Kunstfreund, -Sammler und -Kritiker Heuss rechechiert, dass Heuss, als die Überprüfung von Museen hinsichtlich entarteter Kunst Staatsräson wurde, in der Zeitschrift Die Hilfe vom 14.11. 1936 „starke Bedenken“ gegen die kunstpolitische Säuberungsaktion der Nationalsozialisten äußerte.[17] Möglicherweise ist der Kunstkritiker Heuss ohnehin noch interessanter für eine Wiederentdeckung als der Literaturkritiker Heuss. Aber das wäre Stoff zukünftiger Studien. Und der nächste Gedenkanlass (dafür hätte gerade ein Heuss vollstes Verständnis) kommt bestimmt.
Marc Reichwein, 22.12.2013
[1] Zitiert nach Theodor Heuss: Erinnerungen 1905-1933. Tübingen: Wunderlich Verlag, 1963, S. 13.
[2] So Heuss in seinen autobiografischen Erinnerungen: Vorspiele des Lebens. Tübinden: Wunderlich, 1954, S. 196.
[3] Ebd., S. 216.
[4] Vgl. Stefan Borchardt und Marc Gundel (Hrsg.): Theodor Heuss und die Kunst. Stuttgart: Belser, 2013, S. 124.
[5] Vgl. Reiner Burger: Theodor Heuss als Journalist. Beobachter und Interpret von vier Epochen deutscher Geschichte. Münster: Lit Verlag, 1999, S. 497.
[6] Zitiert nach Theodor Heuss: Erinnerungen 1905-1933. Tübingen: Wunderlich,1963, S. 189 f.
[7] Vgl. Reiner Burger: Theodor Heuss als Journalist. Beobachter und Interpret von vier Epochen deutscher Geschichte. Münster: Lit Verlag, 1999, S. 495.
[8] Heuss, zitiert nach Reiner Burger: Theodor Heuss als Journalist. Beobachter und Interpret von vier Epochen deutscher Geschichte. Münster: Lit Verlag 1999, S. 362.
[9] Zit. nach Christiane Ketterle: Theodor Heuss – Der Augenmensch. Kunstpublizist, Künstlerfreund und Sammler. In: Stefan Borchardt und Marc Gundel (Hrsg.): Theodor Heuss und die Kunst. Stuttgart: Belser, 2013, 53-65, hier S. 53.
[10] Vgl. Reiner Burger: Theodor Heuss als Journalist. Beobachter und Interpret von vier Epochen deutscher Geschichte. Münster: Lit Verlag, 1999, S. 495 und S. 80.
[11] Ebd., S. 87.
[12] Vgl. Volker Hage: Kritik für Leser. Vom Schreiben über Literatur. Suhrkamp, 2009, S. 71; Thomas Anz / Rainer Baasner (Hrsg.): Literaturkritik. Geschichte – Theorie – Praxis. München: Beck, 2004, S. 218.
[13] Vgl. Gregor Dotzauer: Literaturkritik. In: Erhard Schütz (u.a.) (Hrsg.): BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen. Reinbek: Rowohlt, 2005, S. 231.
[14] Als Schmähwort im kritischen und wissenschaftlichen Diskurs über Literaturkritik zum Beispiel bei Wolfgang Albrecht: Literaturkritik. Stuttgart: Metzler. 2001.
[15] Zitat aller nachfolgenden Verse nach Joachim Radkau: Theodor Heuss. München: Hanser, 2013, S. 439.
[16] Vgl. Reiner Burger: Theodor Heuss als Journalist. Beobachter und Interpret von vier Epochen deutscher Geschichte. Münster: Lit Verlag, 1999, S. 496. Leider (womöglich aus Gründen des Buch-Umfangs) verzichtet das Standardwerk zur publizistischen Laufbahn des Bundespräsidenten auf eine vollständige Artikelbibliografie.
[17] Vgl. Christiane Ketterle: Theodor Heuss – Der Augenmensch. Kunstpublizist, Künstlerfreund und Sammler. In: Stefan Borchardt und Marc Gundel (Hrsg.): Theodor Heuss und die Kunst. Stuttgart: Belser, 2013, 53-65.