Retorte

Engagierte Literaturkritik?

Der Literaturbetrieb debattiert über Retortenbabies und hat es verabsäumt, Sprache zu kritisieren. Von Veronika Schuchter


Man ist ja schon einiges gewohnt von deutschsprachigen SchriftstellerInnen, die ihre gesellschaftspolitischen Ansichten unters Volk bringen wollen. Im Idealfall machen sie das in Brecht’scher Manier in ihrer Literatur, getragen von einem ästhetischen Konzept. Im weniger idealen Fall verpacken sie ihre Meinung in Versform und lösen so die Grenze zwischen lyrischem Ich und Autor auf, als würde eine solche von vorherein nicht existieren. Manche schreiben ideologisch gefärbte Reiseberichte, wieder andere verfassen Zeitungskommentare. Sibylle Lewitscharoff hat eine Rede gehalten. Und ging dabei so weit, dass ihr kaum noch jemand folgen kann. Der Literaturbetrieb beteiligte sich heftig an der darauf folgenden Debatte. Der Suhrkamp-Verlag distanzierte sich von den Ansichten seiner Autorin, SchriftstellerkollegInnen nahmen Stellung und selbst die Literaturkritik, die sich ja eigentlich dem literarischen Text widmen sollte, kam nicht umhin, auf die Worte der Büchner-Preisträgerin auch inhaltlich zu reagieren.

Performanz der Rede

Der Tenor der Reaktionen war so einhellig empört und negativ, dass man sich jetzt beruhigt zurücklehnen könnte. Doch leider bewahrheitet sich einmal mehr Judith Butlers These, dass Diskurse allein durch ihre Äußerung performativ Tatsachen herstellen. Daran gemessen war Lewitscharoffs Rede immens erfolgreich: Sie hat eine Diskussion angefacht, die vorher so nicht stattgefunden hat. Ganz Deutschland debattiert plötzlich über In-Vitro-Fertilisation und Retortenbabys. Das Tragische daran: Lewitscharoff hat es geschafft, dass plötzlich verteidigt werden muss, was vorher gar nicht zur Disposition stand:

"Wie verstörend muss es für ein Kind sein, wenn es herausbekommt, welchen Machinationen es seine Existenz erst verdankt. Das Gemachtwordensein auf künstlichem Weg ist etwas anderes für die zu Verrücktheiten neigende Vorstellungskraft als das Gezeugt- und Geborensein auf die übliche Weise, wie sie seit Jahrtausenden vorkommt und in den Schöpfungsmythen bearbeitet und verhandelt wird."[1]

Bei Lewitscharoffs Argumentation handelt es sich um einen klassischen metaleptischen Vorgang. Sie stellt her, was zu benennen sie vorgibt, sie verkehrt die Kausalität von Ursache und Wirkung. Nach demselben Prinzip werden hegemoniale Verhältnisse beständig reproduziert. Wie verstörend muss es für ein Kind erst sein, wenn es von einer gefeierten Autorin, die mit dem – man wird nicht müde, es zu betonen – wichtigsten Deutschen Literaturpreis ausgezeichnet wurde, in einer öffentlichen Rede als „zweifelhafte[s] Geschöpf, halb Mensch, halb künstliches Weißnichtwas“ (L, 13) bezeichnet wird? Allein die Tatsache, dass nun von allen Seiten die Menschenwürde künstlich gezeugter Kinder (und mittlerweile auch Erwachsener) verteidigt werden muss, ist ein befremdlicher Rückschritt. So heißt es etwa in der Welt: „Kinder sind Kinder – einerlei, wo sie herkommen“[2], als wäre das keine Selbstverständlichkeit.

Sich auf die Redefreiheit zu berufen und darauf, dass Lewitscharoff die Rede eindeutig als ihre persönliche Meinung markiert hat, wäre in diesem Fall fatal. Was negiert werden muss, steht als Möglichkeit im Raum. Durch die öffentliche Rede entsteht plötzlich ein Legitimierungszwang, der durch die Reaktion darauf affirmiert wird. Namensvetterin Sibylle Berg bringt es auf den Punkt:

Die Frage ist doch, warum diskutieren wir plötzlich über menschliche Grundrechte? Warum verhandeln Menschen in einer Talkshow ernsthaft, ob es in Ordnung geht, homosexuell zu sein? Warum müssen wir darüber reden, ob man Bezeichnungen für Menschengruppen, die von den Betroffenen abgelehnt werden, abschafft?[3]

Nun steht Lewitscharoffs Rede als öffentlicher Sprechakt und Diskursbeitrag im Raum. Durch die zahlreichen ihr zuerkannten Preise und die in Form der Dresdener Rede institutionalisierte Plattform spricht Lewitscharoff von einem erhöhten, ja elitären Standpunkt aus: als anerkannte Schriftstellerin und Intellektuelle, von der man glaubt, dass sie Grundlegendes zu sagen hat. Das gibt Verantwortung und lässt sich nicht mit dem Hinweis abtun, dass sie „in Dresden nicht als Vorsitzende einer Ethikkommission gesprochen“ und keine „Gesetzesvorlage gemacht“[4] habe. Daher kann man Lewitscharoffs Aussagen auch nicht einfach so stehen lassen. Die Frage ist allerdings, inwiefern der Literaturbetrieb und die Literaturkritik verpflichtet oder – genau andersherum gedacht – auch befähigt sind, sich zu einer ethischen Frage zu äußern und positionieren. Die Rede ist kein fiktionaler Text und wurde auch nicht in einem literarischen Rahmen verlautbart. Doch Lewitscharoff bezieht ihr symbolisches und soziales Kapital und damit die Legitimation ihrer Position als Intellektuelle aus dem literarischen Feld. Und sie bedient sich literarischer Mittel für ihre agitatorischen Aussagen. Es müssen daher drei Ebenen unterschieden werden: Die inhaltliche Diskussion über Lewitscharoffs Rede, die Form, in die Lewitscharoff ihre Kritik gießt, und die Frage nach der engagierten Literatur.

Engagierte Literaturkritik

Durch Zurückhaltung ist die Büchner-Preisträgerin schon bisher nicht aufgefallen. Lewitscharoffs Reden und Kommentare lebten schon immer von ihrem hypertrophen Stil, durchzogen von Zuspitzungen, Polemiken und einem pejorativen Vokabular. Die Welt des Online-Buchhandels sei eine „scheußliche neue Welt“[5], Amazon ist „widerlich“ und „sollte es mir vergönnt sein, den Tod dieser verhassten Firma noch zu erleben […] werde ich mit einem Jubelruf auf den Lippen ins Grab sinken“. Unlektorierte Bücher bezeichnet Lewitscharoff als „zerfleddertes Geschreibsel“, Helene Hegemanns Axolotl Roadkill als „Pippifax“[6], das mit „wahrer Kunst“ nichts zu tun habe. Zudem sei „die ganze Debatte idiotisch“ und Preisvergaben seien oftmals „groteske Fehlentscheidungen“. Mit E-Books kann sie sowieso nichts anfangen. Da hört man eine Menge Zukunftspessimismus heraus und eine Aversion gegen technischen Fortschritt. Ganz so überraschend kommt Lewitscharoffs konservativer Rundumschlag also nicht, weder im Ton noch in der Sache. Auch befremdliche Nazi-Vergleiche sind nichts Singuläres; so bringt die Autorin in ihrer Klagenfurter Bachmann-Rede Über die Niederlage ausgerechnet Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, als Beispiel des absoluten Scheiterns. Da mag dem einen oder anderen schon mulmig geworden sein, allerdings ohne genau einordnen zu können, worauf das noch hinauslaufen würde.

Es wurde offenbar auch viel überlesen. Anklänge an die Dresdener Rede finden sich schon in Lewitscharoffs Aufsatz Satan kommt als Befreier. Wie der Teufel unter aufgeklärten Menschen wirkt von 2005. Die Ereignisse in und rund um Woodstock identifiziert sie als „satanische Verfehlung“[7], die Ehe wird teuflisch unterminiert: „In solcher Optik sind die männlichen Homosexuellen narzisstische Schmutziane, die das Gebot der Fruchtbarkeit verletzen, während Lesben in einem schmuddeligen Gefühlstopf schmoren.“ Natürlich distanziert sie sich mit dem vorangestellten „in dieser Optik“ vom folgenden Vergleich. Aber geäußert hat sie ihn doch. Auch Nazi-Vergleiche lassen nicht lange auf sich warten, so spricht sie von „den KZs entschlichenen Moden: Twiggy, Tattoo, Kahlkopf, Kremierung“.

Ihre Kritik an der Selbstermächtigung der Frau, der sie gar die Gottesmutter Maria als Leitfigur andichtet, bringt sie schon 2006 in ihrem Weihnachtsbeitrag Eine Affäre von Mutter und Kind, erschienen in der Welt, unter:

Umso mehr die Marienverehrung im Lauf der Jahrhunderte in den Vordergrund rückt, ihr Aufstieg zur Himmelskönigin beschlossene Sache ist, umso bedeutungsloser wird Joseph. […] Der entbehrliche Joseph, das Abschneiden und Verlöschen des genealogischen Denkens, der scharfe Schnitt, mit dem sich das Neue vom Alten Testament losmachen will, die himmelfahrende Maria, die in späten Bildzeugnissen geradezu aus eigener pneumatischer Kraft auffährt – eine schlaue Freundin brachte es neulich auf die Formel: als phallischer Bolzen immer empor –, wie das alles zusammenhängen mag mit dem Wunsch mancher Frauen von heute, mannlos zu einem Kind zu kommen, nein, dieses penetrante Wahrmachenwollen einer seit zweitausend Jahren präsenten Idee wollen wir uns an Weihnachten lieber nicht vor Augen führen, schon gar nicht in ihren technoiden und pornografischen Aspekten.[8]

Nun, im Nachhinein lässt sich natürlich vieles finden und man fragt sich, weshalb man nicht schon früher gemerkt hat, wessen Geistes Kind diese Autorin ist. Das muss sich Georg Diez [9] nicht fragen, der hat schon anlässlich des Büchner-Preises 2013 sein Missfallen kundgetan und sie als „Kleinbürgerin“ und „herrische Reaktionärin“ bezeichnet. Nicht zu Unrecht, wie sich jetzt offenbart, auch wenn Diez (wie in der Kracht-Debatte ebenfalls) dazu neigt, literarische Texte als Beweis-Steinbruch für den Charakter des Autors zu funktionalisieren. Aus dem Literaturbetrieb beteiligten sich vor allem SchriftstellerkollegInnen, neben Judith Schalansky etwa John von Düffel und Ulrike Draesner. Weiters lässt sich eine Verlagerung der Debatte konstatieren. Fand diese zunächst im Feuilleton und auf den Literaturseiten statt, wanderte sie dann schnell auf die Titelseiten. Wissenschaftler kommen zu Wort, Ethikexperten, Theologen und Betroffene. Die Reproduktionsmedizin wird Schwerpunkthema. In der Literaturkritik gibt es zwei Richtungen: die Empörung über die Aussagen der bisher so hochgeachteten Akteurin im literarischen Feld auf der einen und die Analyse ihres Redebeitrags auf der anderen Seite. Die Literaturkritik prolongierte das Engagement der Schriftstellerin in eine engagierte Kritik. Und eine solche ist beinahe dazu verpflichtet, sich auch den nicht-fiktionalen Aussagen von SchriftstellerInnen zu widmen, sofern diese in institutionalisiertem Rahmen vorgetragen wurden. Da hätte man auch bei der Dankesrede für den Büchner-Preis[10] genauer hinhören sollen, in der sie die Frauenbewegungen als „ausgeschnitzte Verrücktheiten“ bezeichnete, die Bürokratie und Universitäten von einer „grauenhafte[n] Grammatikschändung“ unterwandert sah, von einem „neuen deutschen Frauentum“ sprach, sich aber immerhin dazu durchringen konnte zuzugeben, dass es Ausnahmen von der sonst wohl wahren Regel „Im Schädel einer Frau befinde sich kein Hirn, da kollere bloß eine taube Nuss herum“ gäbe.

Sibylle Lewitscharoff hat schon immer ihre persönlichen Animositäten gegen Frauen, den Feminismus, Homosexuelle, die Reproduktionsmedizin und die Technik in ihren Essays, Reden und Kommentaren kundgetan – und zwar in einer zumindest fahrlässigen, wohl aber in Absicht und Wirkung auch aufhetzenden Art und Weise. Diese Sprache, und hierin kann man ein Versäumnis einer Literaturkritik sehen, die sich als engagiert versteht, hätte man schon lange kritisieren müssen. Der Klangteppich des Sprachwitzes und der Fabulierkunst hat die misogynen, homophoben und fundamentalistischen Töne bisher geschluckt. Leise waren sie nicht.

Veronika Schuchter, 9.4.2014

Veronika.Schuchter@uibk.ac.at

 



[1] Sibylle Lewitscharoff: Von der Machbarkeit. Die wissenschaftliche Bestimmung über Geburt und Tod. http://www.staatsschauspiel-dresden.de/download/18986/dresdner_rede_sibylle_lewitscharoff_final.pdf, S. 11. (abgerufen am 11.03.2014). Die Rede wird im weiteren Text mit der Sigle L und Seitenzahl abgekürzt zitiert.

[2] Peter Praschl: Kinder sind Kinder – einerlei, wo sie herkommen In: Die Welt. http://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article126426539/Kinder-sind-Kinder-einerlei-wo-sie-herkommen.html (abgerufen am 02.04.2014).

[3] Sibylle Berg: S.P.O.N. – Fragen Sie Frau Sibylle: Sei der Stuss auch noch so gequirlt. In: Spiegel Online. http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/sybille-lewitscharoff-sybille-bergs-gedanken-zur-skandalrede-a-957412.html (abgerufen am 02.04.2014).

[4] Sibylle Lewitscharoff: „Mir fehlt es an Empathie“. Interview mit Elke Schmitter. In: Der Spiegel v. 10.03.2014, S. 114.

[5] Sibylle Lewitscharoff: Warum ich Amazon hasse. In: Die Welt (Die literarische Welt) v. 30.11.2011, S. 7.

[6] Christopher Schmidt. Interview mit Sibylle Lewitscharoff: Schmausen schon, Fleddern nein. In: Süddeutsche Zeitung v. 17.03.2010, S. 14.

[7] Sibylle Lewitscharoff: Satan kommt als Befreier: wie der Teufel unter aufgeklärten Menschen wirkt. In: Du. Die Zeitschrift der Kultur, Bd. 65 (2005-2006), S. 30.

[8] Sibylle Lewitscharoff: Eine Affäre von Mutter und Kind. In: Die Welt (Die Literarische Welt) v. 23.12.2008, S. 1.

[9] S.P.O.N. – Der Kritiker: Die Kleinbürgerin, die die Gegenwart bekämpft. In: Spiegel Online http://www.spiegel.de/kultur/literatur/georg-diez-ueber-buechner-preis-gewinnerin-sibylle-lewitscharoff-a-904356.html (abgerufen am 02.04.2014).

[10] Sibylle Lewitscharoff: Geistbraus auf Papier bringt mich in Schwingung.