Der kleine und feine Unterschied
Lauter tolle Texte von Frauen, eine unterhaltsame Jury: alles bestens also bei den diesjährigen "Tagen der deutschsprachigen Literatur"? Von Brigitte Schwens-Harrant„Ich finde den Text glänzend und gelungen“, schwärmt Klaus Kastberger nach der Lesung von Monique Schwitter über ihren Text Esche. Die Storys darin seien „grad richtig schräg“, der Text habe „eine Schnauze“, das gefalle ihm sehr. „Auch beim wiederholten Lesen war mir nicht ganz klar, warum mir eigentlich alles daran gefällt“, gibt sich Hubert Winkels ratlos und beendet mit dem Worten „zwingendes Erlebnis“ den Versuch, seiner „Begeisterung ein halbwegs rationales Aussehen zu geben“. Stefan Gmünder wagt eine Antwort auf die Frage, warum dieser Text über „Positionen und Positionierungen“ so gut funktioniert: In guter Literatur gebe es Leerstellen, und die machen es aus. Hildegard Keller freut sich über die Begeisterung und betont, dass sie „Text und Autorin sehr, sehr gerne eingeladen“ habe, weil die Geschichte „so beiläufig daherkommt“, sich dann aber „als ziemlich komplex erweist“. „Liebe in allen Variationen“ finde sie darin, und alles „in einer doppelten Spiegelung von Schein und Sein“. Ihre Eloge schließt Keller mit den Worten: „Das alles sehr, sehr sorgfältig gearbeitet, mit einer unerhörten Unmittelbarkeit, das gefällt mir an diesem Text ausgezeichnet.“ Auch Juri Steiner ist voll des Lobes und für Meike Feßmann ist Esche trotz aller Heiterkeit ein ganz ernster Text. Derart begeistert interpretiert die Jury fröhlich vor sich hin. Barock oder nicht, trist oder nicht – das Lob jedenfalls ist einhellig und auffällig, in 25 Minuten Diskussion fällt keine einzige kritische Stimme, nicht einmal in Andeutung – ein perfekter Text also. Ein Siegertext?
Ein „Zauberkunststück auf offener Bühne“ nennt Meike Feßmann tags darauf Teresa Präauers Oh, Schimmi!. Die Autorin „spielt auf vielen sprachlichen Ebenen, hat Rhythmus“, der Text sei ermunternd und witzig, „mit allen sprachlichen Mitteln“, „ganz toll“. Die Anspielungen und Zitate seien meisterlich in den Text eingearbeitet, meinte Sandra Kegel, „ganz großartig gemacht“. Präauer „kann Bilder und Figuren zeichnen“. Winkels spricht gar von einem „Gesamtkunstereignis“. Bei der „primitiven Männlichkeit“, die hier stereotyp vorkomme, hätte sie sich mehr Raffinesse gewünscht, lautet der einzige kritische Einwand von Kegel, und auch Kastberger hat nur eine Kleinigkeit zu bemängeln. Präauer also eine mögliche Kandidatin für einen Preis?
Weit gefehlt. Nach drei Tagen Lesungen und Diskussionen bei den "Tagen der deutschsprachigen Literatur" in Klagenfurt gehen beide Autorinnen dann ohne einen Preis nach Hause. Monique Schwitter kommt zwar in die Shortlist der Jury, bei der Abstimmung am Sonntagvormittag wird sie aber kein einziges Mal genannt. Ein Text, der einhellig derart gelobt wurde, soll keinem einzigen Juror eine Stimme wert sein? Sonderbar. Teresa Präauer wird in der ersten Abstimmungsrunde als einzige Autorin mit zwei Stimmen bedacht, kommt daher aufgrund des neuen Reglements in die Stichwahl um alle drei zu vergebenen Preise, geht am Ende dann aber doch leer aus.
Nun könnte man dieses Ergebnis schlicht und einfach als Zeichen interpretieren, dass heuer eben ein starker Jahrgang in Klagenfurt aufgetreten ist, dass es mehr preiswürdige Texte gab als Preise: Tatsächlich gab es heuer einen Preis weniger, tatsächlich gab es viele interessante Texte. Das ist jedenfalls gut für den Bewerb, aber schlecht für die Autorinnen, von denen einige in einem anderen Jahr sicher mit dem einen oder anderen Preis nach Hause gegangen wären. Gegen die diesjährigen Preisträgerinnen, allen voran die besonders sprachbegabte und sympathische Gewinnerin des Bachmann-Preises, Nora Gomringer, ist deshalb auch gar nichts einzuwenden.
Aber ganz so einfach sollte man es sich dann doch nicht machen mit dieser Erklärung. Denn dass ein Text, der einhellig in den höchsten Tönen gelobt wird, dann nicht einmal eine einzige Stimme erhält, ist schon bedenkenswert. Dass es dazu kommen kann, hat wohl mit dem Prozedere der Preisermittlung ebenso zu tun wie mit dem Verhalten der Juroren. Bei der Abstimmung fiel auf, dass es -wie schon so oft beklagt - offensichtlich wieder einmal nur darum ging, nicht die künftige Bachmannpreisträgerin zu finden, sondern zunächst einmal die eigene Kandidatin zu nennen -ärgerlich vor allem Steiners Beharren auf Jürg Halter. Die medial so gescholtene Jury des Vorjahres begann übrigens die Abstimmung genauso: Jeder für seinen Kandidaten. Nur Hildegard Keller, die keine Autoren mehr auf der Shortlist hatte, stimmte damals für einen anderen. So wie heuer Meike Feßmann aus demselben Grund. Dasselbe Spiel wie immer.
So weit, so unbefriedigend. Das lässt – zugespitzt – mehrere (nicht neue) Hypothesen zu: 1. Symbolisches Kapital: Es geht um das Prestige der Juroren, nicht um die Suche nach der besten Literatur. 2. Kurzzeitgedächtnis: Die Juroren haben am Sonntag Früh bereits vergessen, was sie in den Tagen zuvor gesprochen haben. 3. Gerede: Die Juroren nehmen selbst nicht ernst, was sie da sagen, es ist den besten Sagern, der Stimmung, dem Unterhaltungswert geschuldet. Die drei Thesen hängen irgendwie zusammen und wären sie wahr, würden sie bedeuten: Die Diskussionen sind eine Farce.
Könnte nicht, fragte ich einen Zuständigen in Klagenfurt am Tag vor der Preisverleihung, die Jury am Sonntag vor der Abstimmung noch einmal öffentlich über alle Texte der Autorinnen der Shortlist diskutieren? Damit würde auch die Preisverleihung attraktiver. Ich bekam allerdings nicht wie erwartet ein „keine Sendezeit!“ zur Antwort, sondern eine wegwerfende Handbewegung: Es sei doch schon alles diskutiert!
Aha. Alles diskutiert? Mitnichten! Erstens wurden die Texte noch gar nicht miteinander in Beziehung gesetzt. Jedes Ranking setzt einen Vergleich aber voraus. Darüber hinaus fehlte die Auseinandersetzung mit Sprache. Dieses Jahr wurden formal sehr differente Texte eingereicht, man hätte gut den Unterschied zwischen gelungener und weniger gelungener Literatur festmachen und darstellen können. Stattdessen wurde gerne der Inhalt des gerade Gehörten nacherzählt, und so mancher winkte aus Interpretationshöhen, wohin man ohne Düsenjet beim besten Willen nicht mehr folgen konnte.
Ödön von Horváth überführe die Phrase der Phrasenhaftigkeit, während Peter Truschner die Phrase brauche zur Darstellung – er habe keine anderen sprachlichen Mittel, und das mache den Text so problematisch, meinte Klaus Kastberger einmal. Erklärungen wie diese waren leider selten, zeigten aber, dass es durchaus möglich wäre, verständlich über Bauweisen und Sprache zu reden. Das würde die Diskussionen nicht weniger spannend machen, sondern gäbe ihnen im Gegenteil erst Sinn. Man wüsste wieder, warum man sich das alles überhaupt anschaut oder anschauen sollte: Um zum Beispiel auf unterhaltsame Weise immer wieder neu zu lernen, wie Literatur funktioniert – und wie nicht.
Phrasen wie die eingangs zitierte Aussage des Juryvorsitzenden – „Auch beim wiederholten Lesen war mir nicht ganz klar, warum mir eigentlich alles daran gefällt“ – sind deswegen ebenso entlarvend wie ärgerlich.
Brigitte Schwens-Harrant, 15.07.2015
Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in: Die Furche, Nr. 28 vom 9.7.2015, S. 15.
Photocredit: ORF/Johannes Puch