Lotsin auf dem Meer der Literatur
Laudatio auf Brigitte Schwens-Harrant anlässlich der Verleihung des Österreichischen Staatspreises für Literaturkritik 2015. Von Stefan Neuhaus
„Manche Menschen lesen überhaupt keine Bücher, sondern kritisieren sie“,[1] befand einst Kurt Tucholsky, allerdings ohne Brigitte Schwens-Harrant zu kennen. Sie ist eine manische Leserin und weiß über Gegenwartsliteratur besser Bescheid als jede und jeder andere in meinem Freundes- und Bekannten- oder auch Kollegenkreis. Überdies liest sie nicht nur Texte und rezensiert sie, sie moderiert auch Lesungen und Diskussionsveranstaltungen, hält Vorträge auf Tagungen und schreibt wissenschaftliche Aufsätze und Bücher, schließlich ist sie promovierte Geisteswissenschaftlerin.
Um nur einige Stationen zu nennen: Zur Schule gegangen ist sie in Wels, aber studiert und promoviert hat sie in Wien. Mit Wendelin Schmidt-Dengler, dem großen Förderer der österreichischen Literatur und Grandseigneur der Germanistik, verband sie ein kollegiales, auch freundschaftliches Verhältnis, er gehört sicher zu ihren Anregern und Vorbildern. Mit der Arbeit und der Literatur geschuldeten Reisen, etwa zu Tagungen, ist sie schon immer weit über Wien hinausgegangen, doch 2007 hat die Bundeshauptstadt dann Konkurrenz durch die Landeshauptstadt Tirols bekommen. Brigitte Schwens-Harrant war und ist Lehrbeauftragte an der Universität Innsbruck, einige Jahre war sie dort auch Wissenschaftliche Mitarbeiterin, neben ihrer Arbeit bei und für die Wochenzeitung „Die Furche“, deren Kulturteil sie verantwortet, und zwar so engagiert und so gut, dass sie selbst – diese Preisverleihung beweist es gerade performativ, dabei ist es nicht einmal ihr erster Preis – zu einer immer stärker wahrgenommenen Gestalterin der Vermittlung von Gegenwartsliteratur geworden ist.
Diese Aufgabe des Gestaltens ist für Brigitte Schwens-Harrant aber nicht nur etwas, das sich entweder in der Redaktion oder in der universitären Lehre vollzieht, es ist auch eine des kollegialen Miteinanders und des Moderierens. Gerade dieser Aspekt ist, denke ich, nicht unwichtig, wenn es um einen Staatspreis geht. Sie selbst hat in zahlreichen Jurys von kleineren bis größeren Preisen überall im Land gewirkt, beispielsweise ist sie seit vielen Jahren Jurorin der ORF-Bestenliste, außerdem hat sie Zeitschriften wie SCHRIFT/zeichen mit begründet oder ist ein überaus geschätztes Redaktionsmitglied, etwa immer wieder bei der bekannten Literaturzeitschrift Die Rampe. Sie ist seit vielen Jahren in der Lehrerfortbildung und in der Erwachsenenbildung tätig, so leitet sie seit 1994 (seit 2008 gemeinsam mit Semier Insayif) die jährliche Literaturwoche in Vorau. Als Moderatorin von „Autor/in im Gespräch“ im Otto-Mauer-Zentrum in Wien hat sie sich seit Januar 2008 mit Autorinnen und Autoren über ihre Poetik unterhalten, darunter mit Sabine Gruber, Anna Kim, Ferdinand Schmatz und Andrea Winkler. Sie erfand und moderiert die neue Gesprächsreihe „WERK.GÄNGE“ der Österreichischen Gesellschaft für Literatur. Regelmäßig nimmt sie beim ORF an Diskussionen teil und ist auch häufig im Radio zu hören.
Dieser Teil ihrer Arbeit ist Ausdruck ihrer Persönlichkeit und er hat sie zu einer der bekanntesten LiteraturexpertInnen in Österreich gemacht. Insofern ist sie durchaus in die Fußstapfen Wendelin Schmidt-Denglers getreten, ohne ihn zu kopieren, sie hat ihren ganz eigenen Weg beschritten. Der Vergleich mit Schmidt-Dengler ist auch deshalb so angebracht, weil beider Texte ein zutiefst demokratisches Verständnis von Literatur auszeichnet. Brigitte Schwens-Harrant mit einer populären Metapher als Anwältin der Literatur zu bezeichnen würde sie eher in die Nähe von Marcel Reich-Ranicki rücken, der ein anderes Konzept vertrat und oft genug, obwohl er sich selbst als Anwalt sah, die Pose als Richter einnahm. Für Brigitte Schwens-Harrant reicht das in dubio pro reo nicht aus, denn sie freut sich auf und über jedes Buch, ohne deshalb dessen mögliche Schwächen zu übersehen. Ihre Begeisterung für Literatur ist ebenso ansteckend wie vertrauenserweckend, weil sie nicht nur auf ihrer immerwachen Neugier, sondern auch auf einer fachfraulichen Prüfung gründet.
Ihren beiden Fächern Germanistik und Theologie ist Brigitte Schwens-Harrant stets treu geblieben, gerade auch in der Verbindung der beiden – so hat sie jüngst einen Beitrag in einem Sammelband zum Thema „Literatur und Religion“ veröffentlicht.[2] Mit Jörg Seip zusammen hat sie das Buch Der geplünderte Tempel. Ein Dialog verfasst, in dem „BSH“, wie sie sich hier abgekürzt nennt, bereits im einleitenden Gespräch ganz programmatisch feststellt:
Ich versuche das Paradox, das jeder Umgang mit Literatur immer ist, anders zu formulieren: Die Form erst macht den Text, wenn man so will, zu etwas ‚Heiligem‘, im Sinne von etwas Ehrfurcht und Respekt Gebietendem, Sakrosanktem, aber auch im Sinne von etwas ‚ganz Anderem‘. Doch diese ‚Heiligkeit‘ gibt es als unberührte, von uns Lesern (und damit auch vom Profanen) getrennte oder zu trennende gar nicht, denn wir Lesenden haben sie immer schon zerstört, müssen sie zerstören. Literatur gibt es immer nur als geplünderten Tempel. Das gilt auch und gerade für Praktiken, die diesen Tempel aus welchen Gründen auch immer ‚rein‘ zu halten suchen. Und auch als inszenierter ist der Text immer schon ein anderer, nämlich ein inszenierter. Dies gilt auch für die Bibel – und dass und wie sehr diese Einsicht manchen Lesern Probleme verursacht, ist ja bekannt.[3]
Und weiter, wenn man das sagen kann, noch programmatischer:
Wenn Literatur nur einer bestimmten Funktion zugewiesen wird, verengt sich ihr Spielfeld, ihr Resonanzraum. Die Erwartungen an Literatur werden geregelt, und zwar durch Beschneidung. Die Lesenden werden manipuliert. Denn Publikationen über Literatur machen etwas: Sie prägen das Verständnis von Literatur. Manche arretieren es.[4]
Das heißt nicht, dass Brigitte Schwens-Harrant für Beliebigkeit wäre, ganz im Gegenteil. Im Sinne Wolfgang Welschs setzt sie sich für eine Pluralität von Zugängen ein.[5] Dieser Einsatz ist ein ganz praktischer und nicht nur auf das Feld der Literatur bezogen. Ihr Buch Ankommen hat durch die Flüchtlingsströme dieses Jahres eine nicht vorhersehbare Bedeutung bekommen, das hat sich am 6. November gezeigt, als die Tageszeitung „Der Standard“ es zum ‚aktuellen Buch' erklärte.[6] Dabei hat es Flüchtlinge schon immer gegeben und die Migration von Schriftstellern, die nicht nur, aber immer auch Sprachrohre der Migrantinnen und Migranten sind, hat das Buch initiiert. Ihren Gesprächen mit AutorInnen hat Brigitte Schwens-Harrant ein Zitat der 2009 mit dem Literaturnobelpreis geehrten rumäniendeutschen Autorin Herta Müller vorangestellt:
In jeder Sprache, das heißt in jeder Art
des Sprechens sitzen andere Augen.[7]
Dieses Andere gilt für jede und jeden, unabhängig von staatlicher Zugehörigkeit oder sozialer Herkunft. Dieses Andere ist keine Bedrohung, sondern eine Chance. Es schränkt nicht das eigene Leben ein, sondern bereichert es, denn jedes Subjekt braucht die und den anderen, Ego ist ohne Alter nicht zu denken. Von der Qualität der Vielfalt legt dieser Band doppelt Zeugnis ab, einmal formal, als Beitrag zur Literatur, denn die Gespräche sind allesamt sehr lesenswert und sprachlich sehr beeindruckend, und dann als Beitrag zum Diskurs über das oder die ‚Fremde’. Die zu Wort kommenden Autorinnen und Autoren, die aus einer vorgeblichen Fremde stammen, beherrschen schließlich die ‚neue‘ Sprache oftmals besser als diejenigen, für die es ihre Muttersprache ist. Und die gesammelten Erfahrungen lassen sich mit dem Titel von Michael Stavaričs Beitrag so zusammenfassen: „Das Neue ist immer eine Chance auf Heimat“.[8] Stavarič, klug gefragt von Brigitte Schwens-Harrant, betont dabei auch die Gemeinsamkeiten im Schreiben:
Worum kreisen Texte? Grundsätzlich ist es wohl so, dass, wenn man ein Buch reduziert, zehn Wörter übrigbleiben, darunter Mutter, Vater, Familie, Heimat, Identität, Mord, Streit, Krieg – es sind Themen, die eigentlich in jedem Buch enthalten sind. Und natürlich spielt es eine Rolle, woher ein Autor kommt und was er erlebt hat. Man kann ohne Kontext keine Bücher schreiben.[9]
Brigitte Schwens-Harrant hat sich in vielen Artikeln immer wieder mit Fragen der Integration, des Respekts gegenüber anderen auseinandergesetzt und es ist gerade auch die Geschichte, die in Literatur lebendig gehalten wird und die uns lehrt, am Ziel einer humaneren Gesellschaft festzuhalten. So schreibt Brigitte Schwens-Harrant in einem großen Artikel über AutorInnen und Bücher, die von Völkermorden erzählen, das Folgende: „Erzählen ist eben nicht nur ein Erinnern im Sinn der Zeugenschaft oder Geschichtswissenschaft, sondern auch ein Akt des Widerstands gegen das Auslöschen der Identitäten, gegen die Vernichtung des Menschen […].“[10]
Auf der anderen Seite oder besser ergänzend lässt sich, wie könnte es anders sein, bei unserer Preisträgerin auch ein spielerischer Zugang zur Literatur finden, der besonders deutlich in einem buchgewordenen Essay wird, den Brigitte Schwens-Harrant wieder gemeinsam mit Jörg Seip verfasst hat: Schrift ahoi! Literatur als Seefahrt, 2013 mit dem Untertitel „Ein Lexikon“ erschienen, wobei gleich zu Beginn festgehalten wird: „Jedes Lexikon ist ein Durcheinander“.[11] Dieses Lexikon ist ein Kompendium der reichhaltigen Lektüren ihrer Autorin und ihres Autors, das nicht nur Orientierung auf dem Meer der Weltliteratur bietet, sondern auch das damit verbundene eigene Textverständnis erläutert, etwa unter dem Stichwort „Boje“: „Eine Boje markiert also immer zwei Dinge zugleich: den Ort und seine Verwischung. Das ist sozusagen das Bild für die Doppelheit einer jeden Lektüre, egal ob ich das Meer oder einen Text lese.“[12]
Es ist, das sei noch einmal mit Nachdruck gesagt, die Vielfalt, für die Brigitte Schwens-Harrant immer wieder neu eine Lanze bricht, ganz praktisch, wenn sie im Kulturteil der Wochenzeitung „Die Furche“, für den sie verantwortlich zeichnet, die unterschiedlichsten Themen und Meinungen buchstäblich zu Wort kommen lässt, und konzeptionell, wenn sie selbst Literatur rezensiert oder über das Rezensieren von Literatur schreibt, wie in ihrem Buch Literaturkritik. Eine Suche von 2008. Darin heißt es: „Eine Literaturkritik, die immer und überall gleich aussieht bzw. über dasselbe schreibt, würde sich auf Dauer erübrigen.“[13] Literaturkritik als, wie sie mit einem Wort von Edward Said abschließend feststellt, „unersättliche Vorliebe für Alternativen“[14] ist ihre Überzeugung und sie zu ermöglichen ist ihr Ziel, das natürlich, und auch das weiß sie nur zu gut, nie ganz zu erreichen sein wird.
Heute ist nicht nur Anlass, einer Preisträgerin zu gratulieren, sondern auch, den Staat Österreich zu dieser Entscheidung zu beglückwünschen. Dass Brigitte Schwens-Harrant der Staatspreis für Literaturkritik verliehen wird, bestätigt sie und uns in der Überzeugung, dass Literatur ein ebenso relevantes wie demokratisches und zutiefst humanes Medium ist, und der Preis wird ihr helfen, ihre Arbeit weiter zu tun, die zugleich ihre Leidenschaft ist – für ein Literaturverständnis und für eine Literatur zu werben, die diesem Verständnis entspricht. So bescheiden, wie sie ist, wird sie den Preis kaum auf sich selbst als Person beziehen, obwohl er doch genau so gemeint ist. Person und Programm, Persönlichkeit und Überzeugung, Leben und Arbeit ist für Menschen, die sich beruflich mit Literatur beschäftigen, nicht immer, aber sehr sehr oft eins und in diesem Fall ganz bestimmt. Brigitte Schwens-Harrant würde diesen Preis nicht bekommen, wenn sie nicht sie selbst wäre – eine glänzende Stilistin, großartige Organisatorin und eine, in aller Bescheidenheit, die sie ebenso auszeichnet, beredte Expertin mit sehr viel Liebe für ihren Gegenstand. Sie ist eine Lotsin der Seefahrt im Reich der Literatur, das einerseits nicht mit dem realen Leben gleichzusetzen ist, aber andererseits auch immer sehr viel damit zu tun hat.
HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH!!
Stefan Neuhaus, 13.11.2015
neuhaus@uni-koblenz.de
Die hier veröffentlichte Rede wurde anlässlich der Verleihung des Österreichischen Staatspreises für Literaturkritik an Brigitte Schwens-Harrant im Bundeskanzleramt in Wien gehalten:
Fotos von der Preisverleihung (c) Dario Santangelo
Anmerkungen:
[1] Stefan Neuhaus (Hrsg.): Sag mal, verehrtes Publikum: bist du wirklich so dumm?" Tucholsky zum Vergnügen. Stuttgart: Reclam 2006 (RUB 18392), S. 92.
[2] Vgl. Brigitte Schwens-Harrant: Literatur als Litanei. In: Tim Lörke u. Robert Walter-Jochum (Hg.): Religion und Literatur im 20. und 21. Jahrhundert. Motive, Sprechweisen, Medien. Mit 18 Abbildungen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (V&R unipress), S. 353-366.
[3] Brigitte Schwens-Harrant u. Jörg Seip: Der geplünderte Tempel. Kartografie theologisch-literaturwissenschaftlicher Praktiken. Ein Dialog. In: Dies.: Der geplünderte Tempel. Ein Dialog. Wien: Klever 2012 (Klever Essay), S. 27f.
[4] Ebd., S. 36.
[5] Vgl. Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne. 6. Aufl. Berlin: Akademie-Verlag 2002 (Acta humaniora. Schriften zur Kunstgeschichte und Philosophie), S. XVII.
[6] [Nachweis]
[7] Brigitte Schwens-Harrant: Ankommen. Gespräche mit Dimitré Dinev, Anna Kim, Radek Knapp, Julya Rabinowich, Michael Stavarič. Wien, Graz u. Klagenfurt: Styria 2014 (Autoren im Gespräch), unpag. (S. 5).
[8] Ebd., S. 169.
[9] Ebd., S. 174.
[10] Brigitte Schwens-Harrant: „Immer bleibt einer übrig, der erzählt“. Stimmen wiedererwecken und gegen die systematische Auslöschung protestieren: Geschichten über das Unfassbare, den Völkermord. In: Die Furche Nr. 17 v. 23. April 2015, S. 17.
[11] Brigitte Schwens-Harrant u. Jörg Seip: Schrift ahoi! Literatur als Seefahrt. Ein Lexikon. Wien: Klever 2013 (Klever Essay), S. 5.
[12] Ebd., S. 39.
[13] Brigitte Schwens-Harrant: Literaturkritik. Eine Suche. Innsbruck: StudienVerlag 2008 (Angewandte Literaturwissenschaft, Bd. 2), S. 173.
[14] Ebd.