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Was ist Literaturkritik?

Wenn man ein Wort genauer erklärt haben will, schaut man ins Wörterbuch. Als germanistischer Literaturwissenschaftler ist man gehalten, Fachbegriffe nicht nur im Duden oder in einem Lexikon nachzuschlagen. Die aufwändigsten Be­griffs­bestimmungen finden sich im Reallexikon der deutschen Litera­turwissenschaft...

... (die frühere, lange Zeit maßgebliche Ausgabe hieß Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte). Den rund fünfseitigen Eintrag hat Herbert Jaumann verfasst. Am Anfang steht eine kurze Begriffsdefinition, die dann mit Inhalt gefüllt wird, ihre erste, hier maßgebliche Passage lautet: „Literaturkritik ist jede Art kommentierende, urteilende, denunzierende, werbende, auch klassifizierend-orientierte Äußerung über Literatur, d.h. was jeweils als ‚Literatur’ gilt.“

Die weit gefasste Definition besagt, dass jeder literaturkritisch tätig ist, der sich über Literatur äußert. Kritik kommt, so wird weiter ausgeführt, aus dem Griechischen, „wurde wohl zuerst in der Rechtssphäre gebraucht“ und bedeutet soviel wie ‚unterscheiden’ oder ‚urteilen’. Als Bezeichnung für eine Tätigkeit der Beschäftigung mit Literatur hat sich der Begriff im deutschsprachigen Raum erst im 18. Jahrhundert durchgesetzt, ebenso die Bezeichnung Rezension für das schriftliche Produkt. Die literaturkritisch Tätigen heißen zunächst Kritikus, Rezensent oder Kunstrichter, wenn sie nicht spöttisch als Kritikaster abgewertet werden. Zur Literaturkritik gesellen sich mit der Zeit die Theater- und Filmkritik.

Der Eintrag des Reallexikons endet mit einer kurzen Skizze der bisherigen Forschung und zahlreichen Literaturhinweisen. Wie nun hat sich diese Forschung entwickelt, welche Erkenntnisse über den Gegenstand hat sie zu Tage gefördert?

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Die Germanistik hatte sich in der NS-Zeit kompromittiert, ihre Vertreter waren zu lautstarken Blut-und-Boden-Fetischisten oder zumindest zu Mitläufern geworden. Die Lehre, die man nach 1945 aus solcher Indienstnahme zog, war eine Abkehr von zeitgebundener Argumentation. Den Versuch, an die stärker zeitunabhängigen Literaturkonzepte vor allem der Weimarer Klassik anzuknüpfen, könnte man als ‚Zurück in die Zukunft’ bezeichnen, ein Versuch, der – anders als in Science-Fiction-Filmen – nur eine begrenzte Zeit lang funktionierte.

Bleibend ist das Verdienst, das „sprachliche Kunstwerk“ (Wolfgang Kayser) ins Bewusstsein zurückgerufen zu haben, davon konnte die stärker wissenschaftlich orientierte Beschäftigung mit Texten anknüpfen – vor allem der Strukturalismus. Das textzentrierte Literaturkonzept diente aber auch als Legitimationsbasis für Wissenschaftler, die ihre ursprünglich braune Färbung vergessen machen wollten, und die Abwendung von der Politik nahm der Germanistik ihren gesellschaftspolitischen Stachel, den gerade die jungen Leute vermissten. Die Situation in der Gesellschaft allgemein und besonders an der Universität wurde als unbefriedigend empfunden, der Mief der Geschichte wehte zu stark in die Gegenwart hinein, deren Krisen (Ost-West-Konflikt, deutsche Teilung, soziale Ungleichheit...) offenbar mit den überkommenen Rezepten nicht zu bewältigen waren.

Die mit dem Jahr 1968 etikettierte, so genannte Studentenrevolution hatte ungeheure Auswirkungen auf die Entwicklung der germanistischen Literaturwissenschaft. Die unpolitische, pseudo-geistige Haltung der Wissenschaftler, mit der die bestehenden Machtverhältnisse zwischen Älteren und Jüngeren zementiert wurden, die unkritische und unwissenschaftliche Idolisierung von Schriftstellern und ihren scheinbar unangreifbaren Texten, der nicht zuletzt aus solchen Hierarchien gespeiste Protest gegen die Vernachlässigung des Lesers, ohne den ein literarischer Text nicht viel mehr ist als gebundenes Papier, die Einflüsse deutscher wie nicht-deutscher Gesellschaftstheorien, in denen Literatur oft eine große Rolle spielte – dies alles führte zur einer explosionsartigen Vermehrung der Zugänge zur Literatur. Günter Graf fasst die Entwicklung so zusammen:

 

Förderlich der Argumentation dieser neueren literaturwissenschaftlichen Auffassung waren die allgemeine Kommunikations- sowie besondere Rezeptionstheorie Hans Robert Jauß’ und die vornehmlich sozialtheoretisch orientierte Kunstauffassung der Frankfurter Schule. Fiktionale Literatur wird nun betont in ihrem Dialog-, d.h. leserbezogenen Mitteilungs- und ‚ideologischen’ Informationscharakter gesehen. Die ästhetische Dimension ist zweitrangig und gilt als ausschließlich historisch-gesellschaftlich vermittelt. Auf diese Weise können dann selbstverständlich hohe und triviale Literatur eng zusammenrücken, und eine ästhetisch wertende Abgrenzung scheint so gesehen unsinnig. Genau dieser literaturtheoretische Ansatz aber und die daraus z.T. gezogene radikale These von der Unsinnigkeit der Dichotomie laufen ihrerseits Gefahr – ähnlich wie die Werkimmanenz und ihr Postulat der Autonomie des Kunstwerks –, die kommunikative sowie historisch-gesellschaftliche Dimension von Literatur zu verabsolutieren, indem sie immanente oder eigengesetzliche ästhetische Attribute, auf die der Leser auch wertend reagiert, elimilieren.


Damit sind grobe Linien der Entwicklung in Deutschland markiert. Generell bewegte sich die Diskussion in den 50er und 60er Jahren aber bereits auf einem hohen, zuvor nicht erreichten Niveau, da der Einfluss von Wissenschaftstheorien in der Auseinandersetzung mit Literatur immer stärker wurde

und zu einer systematischen Reflexion über das Problem der Bewertung literarischer Texte führte. Dabei entwickelten sich erste generelle Trennlinien zwischen verschiedenen Teilbereichen der Auseinandersetzung mit Literatur.

Ivor Armstrong Richards konnte in seinem 1924 in englischer Sprache aufgelegten Buch noch ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass Literary Criticism und Literaturwissenschaft dasselbe sind. In seiner Abhandlung Grundbegriffe der Literaturkritik aus dem Jahr 1963 unter­scheidet der in den USA lehrende René Wellek (Über­setzung von 1965) zwischen Literaturtheorie, Literaturgeschichte und Literaturkritik, die er allerdings eng miteinander verknüpft sieht.

Aufschlussreich ist für ihn die unterschiedliche Begriffsbedeutung im englischen und deutschen Sprachgebrauch: „Im englischen Gebrauch des Wortes ‚criticism’ sind häufig literarische Theorie und Poetik miteingeschlossen. Dieser Gebrauch ist im Deutschen dagegen selten; dort wird Literaturkritik gewöhnlich in dem sehr engen Sinne der Buchbesprechung in Tageszeitungen verstanden.“ Damit denkt Wellek immer noch Literaturwissenschaft und Literaturkritik zusammen, ähnlich 1966 Karl Otto Conrady, der zugleich einen Mangel konstatiert und eine wichtige Einschränkung vornimmt: „Auch die Literaturkritik, oft freilich sträflich vernachlässigt, gehört zu den Aufgaben der Literaturwissenschaft. (Kritik meint hier Wertung.)“ Die Scharnierstelle zwischen Wissenschaft und Kritik ist offenbar die Kompetenz der Beurteilung literarischer Texte, eine Fähigkeit, die Literarhistoriker, Literaturtheoretiker und Kritiker für die Selektion und Interpretation haben müssen.

Zwar gibt es angesichts der Komplexität literarischer Texte für Wellek eine Grauzone der Interpretation, die ja immer eine Bewertung mit einschließt, doch lassen sich immer noch „völlig verfehlte“ Interpretationen von den plausiblen unterscheiden: „Es läßt sich über Bradleys oder Dover Wilsons oder sogar Ernest Jones Hamletdeutung streiten, aber wir wissen mit Sicherheit, daß Hamlet keine verkleidete Frau war.“ Daraus leitet sich Welleks Forderung ab: „Wir müssen es wieder als unsere Aufgabe erkennen, eine Literaturtheorie, ein System von Grundsätzen, eine Wertetheorie aufzustellen, die sich notwendig von der Kritik konkreter Kunstwerke nährt und dabei ständig auf die Hilfe der Literaturwissenschaft zurückgreift.“

Je nach gewähltem Ansatz unterscheidet Wellek für seine Zeit folgende „Richtungen der Literaturkritik“:

  1. die marxistische Literaturkritik;
  2. Sprach- und Stilkritik;
  3. ein neuer organologisch denkender Formalismus;
  4. "mythologische Kritik", die von den Ergebnissen der Kulturanthropologie und den Spekulationen C. G. Jungs ausgeht;
  5. eine Art neuer philosophischer Literaturkritik, die durch den Existentialismus und verwandte Weltauffassungen angeregt wurde.
Diese Typologie der Kritik macht etwas sehr deutlich: Das Ergebnis der Kritik hängt sehr stark von der gewählten Perspektive ab, und es gibt nicht mehr nur eine, sondern verschiedene Perspektiven, die – so könnte man hinzufügen – in der Regel von sich selbst glauben, dass sie die maßgebliche sind.

Ebenfalls keinen Unterschied zwischen Wissenschaft und Kritik sieht Norbert Meck­lenburg in seiner 1972 erschienenen Monographie Kritisches Inter­pre­tie­ren. Die Zäsur von 1968 hat insofern ihren Niederschlag gefunden, als Meck­lenburg nun davon ausgeht, dass „Literatur heute kaum mehr anders als kri­tisch verstanden werden kann“. Dabei redet er nicht einer marxistischen Literatur­interpretation das Wort, die er (trotz einer zeittypischen Blauäugigkeit) eher kritisch beurteilt. Wie schon Walter Müller-Seidel sieht auch Mecklenburg eine nicht auflösbare Verknüpfung von Inter­pretation und Wertung. Sein Synthesevorschlag lautet: „Unter Literaturkritik verstehen wir hier ein literaturwissenschaftliches Verfahren, das auf kritisches Verstehen poetischer Texte zielt.“ Was er unter kritisch meint, demonstriert Mecklenburg beispielsweise in einer Gegenüberstellung von werkimmanenten und neueren Kategorien, die so neu nicht sind; eigentlich stehen sich zwei grundsätzliche Herangehensweisen an Literatur gegenüber, die seit dem 18. Jahrhundert diskutiert werden; man denke an die Entwicklung der Dramentheorie von Opitz über Gottsched über Lessing bis Brecht:

 

Traditionelle Einstellung

Kritische Einstellung

irrational

rational

affirmatives Verhältnis

zur Tradition

kritisches Verhältnis zur
Tradition

Erlebnis

Erkenntnis

Einfühlung

Verfremdung

Unmittelbarkeit

Reflexion

Andacht, Kontemplation, Genuß

Kritik

passive
Hingabe an den Text

reagierende
Deutungsaktivität

magischer
Bann

republikanische Freiheit

Offenbarung als
Erkenntnis
modell

Dialog als
Erkenntnismodell

Gefühl

Ratio

 
 

Angesichts der zu Recht gerügten Verirrungen der Werkimmanenz ist das ein lobenswerter Versuch der Aufwertung der Ratio, allerdings ein etwas einseitiger; schließlich hat schon Lessing versucht, Ratio und Gefühl miteinander zu verbinden, aus der Erkenntnis heraus, dass die Quelle der Leselust nicht dem Verstand entspringt.

In den 70er Jahren führte die Abwendung vom Unpolitischen in die vorgeblich ideologiekritische Richtung noch zu einer gegenteiligen Normierung: Literatur war nun in erster Linie Teil des gesamtgesellschaftlichen Produktionsprozesses, somit Spiegel oder Korrektiv bestehender Machtverhältnisse. Mit dem Ende des sozialistischen Experiments in Europa hat sich dieser in der DDR besonders beliebte Umgang mit Literatur weitgehend diskreditiert.

1974 wagte Horst S. Daemmrich einen Versuch, in die unübersichtlich gewordene Lage einige Klarheit zu bringen. Er beklagte in der Einführung bereits, dass „das interessierte Publikum [...] durch die Vielfalt literatur­wissen­schaft­licher Interpretationen und Theorien heute so verwirrt und belastet ist, daß es den Zugang zum einzelnen literarischen Werk nicht mehr findet“ – eine bis heute weit verbreitete Klage, die nicht die positiven Seiten der Pluralisierung des Literatur­zugangs berücksichtigt. In der Tat war die Beschäftigung mit Literatur nie so demokratisch und so vielfältig wie heute.

Auch Daemmrich ist keineswegs frei von Einflüssen moderner Wissen­schaftstheorie, insofern handelt es sich nicht um einen Versuch, die Theorieuhr zu­rück­zudrehen. Dabei bleibt er auf solider herme­neu­tischer (dem Text­ver­stehen verpflichteter) Grundlage, die bis heute von den Kritikern nicht verlassen wurde. Daemmrich führt aus:

 

Für die Kritik erweist sich das Verstehen als ein Geschehen besonderer Art. Die Fragestellung bestimmt die Richtung, häufig die Methode und die Antwort, die im Rahmen der Frage möglich ist. Die Literaturkritik lebt von der Überzeugung, daß andere Kritiker Bedeutendes zur zunehmenden Präzision literarischer Urteile geleistet haben. Sie ergreift Partei nicht für Methoden, sondern für die Literatur, in der sie eine befreiende, beglückende Macht sieht; sie verweigert den Nachweis ihrer Nützlichkeit; sie will erregen und überzeugen; die Auslegung und Klärung jedoch verlangt eine ruhige Besonnenheit der Betrachtung, die sich nicht immer mit der intensiven Bemühung in Einklang bringen läßt.

 

Das Zitat enthält eine kleine Typologie der Kritik literarischer Texte:

· das Ausgehen von der Bedeutung des / eines literaturkritischen Urteils;

· der Wunsch nach allgemeiner Beförderung des Literaturverständnisses, damit auch der für das Lesen werbende Charakter;

· der im Grunde subjektive Zugriff auf den Text („die Fragestellung bestimmt die Richtung“);

· der Selbstwert der Kritik als Textsorte;

· die Begeistung für den Gegenstand Literatur.

Darüber hinaus wird ein wichtiges Problem benannt: Der Widerspruch von Begeisterung für den Gegenstand und notwendigem Urteils-, damit auch Abstraktionsvermögen, also der alte wie neue Widerspruch von Identifikation und Reflexion, mit dem alle Leser zu kämpfen haben.

Aus der Ausdifferenzierung der Textezugänge zieht Daemmrich folgendes Fazit: „So ergeben sich für literaturkritische Arbeiten vier Orientierungspunkte: der Leser, das Werk, der Autor und eine Methode.“ Hinzuzufügen wäre der (gesellschaftliche) Kontext, der gerade für die ideologiekritischen Arbeiten unverzichtbar war.

Die von den Kritikern angenommene Wirkung von Kritik zieht Daemmrich stark in Zweifel. Er weist darauf hin, dass Unterhaltungsliteratur sich unabhängig vom Schweigen oder teilweise vernichtenden Urteil der Kritik verkauft und dass positive Rezensionen schwieriger Texte deren Rezeption nicht notwendigerweise befördern. Allerdings lässt sich weder die Wirkung von Literatur noch die von Literaturkritik empirisch messen, von punktuellen, eher zufälligen Erkenntnissen abgesehen, etwa der verkaufs­fördernden Wirkung einer Besprechung im Literarischen Quartett, die der Fernseh-Veranstaltung Lob und Kritik gleichermaßen eintrug.

Daemmrichs Unbehagen an der großen Bandbreite literaturkritischer Wertmaßstäbe führt ihn dazu, normativ zu werden: „Die Kritik muß sich auf einen Standpunkt stellen, von dem aus sie alle Qualitäten eines Textes einschließlich Werte und Wahrheitsgehalt reflektieren, zugleich aber auch die persönliche, gesellschaftliche und historische Position des Lesers mitdenken kann.“ Das ist ein universalistischer, idealistischer Anspruch, der kaum zu verwirklichen sein wird.

1975 konstatiert Bodo Rollka Das Elend der Literaturkritik. Für Rollka, der als einer von Wenigen einen Blick auf Motivation und Wirkung der literaturkritischen Arbeit wirft, gibt es eine allzu enge Verzahnung von Werbung und Kritik, etwa in Form von Gefälligkeitsrezensionen, die er (zeittypisch) auf ökonomische Zwänge zurückführt. Dies kontrastiert mit der wichtigen „Gate-Keeper-Funktion“ von Kritikern, die – wie ein Pförtner nach Prüfung eine gewisse Zahl von Besuchern – nur eine kleine Auswahl von Büchern zur Kenntnis ihrer Leser gelangen lassen. Auch wenn der Vorwurf, im Feuilleton folge man zu sehr wirtschaftlichen Interessen, heute überzogen wirkt, so hebt die Studie mit dem aus der Kommunikationsforschung entlehnten Begriff des „Gate-keepers“ eine Tätigkeit hervor, die der bisher betonten verschriftlichten Beurteilung literarischer Texte vorgelagert ist. Anders gesagt: Das Urteil beginnt bereits mit der Auswahl.

1981 zog der bereits zitierte Günter Graf aus der Legitimationskrise der Literaturwissenschaft und Literaturkritik ein ganz anderes Fazit, das jeder Normierung entgegenläuft. Das auf die Schule bezogene didaktische Konzept lässt sich durchaus auch auf den etablierten Betrieb anwenden:

 

Die Vermittlung des Lernziels der ‚Kritikfähigkeit’ impliziert damit als vornehmstes inhaltliches Element die Infragestellung auch des eigenen Standpunktes, und d.h. zugleich die Respektierung eines anderen, was nicht heißt, daß die eigene Wertungsposition nicht artikuliert und erörternd vertreten werden darf.

 

Der Kritiker sollte nicht dogmatisch eine Position als allgemein gültige vertreten, sondern in einen offenen Diskurs über ein Buch eintreten, dabei mit der eigenen Meinung nicht hinter dem Berg halten, aber seine Wertmaßstäbe offen legen.

1985 brachte Suhrkamp einen Sammelband zum Thema „Literaturkritik heute“ heraus. Die Zueignung für Marcel Reich-Ranicki aus Anlass von dessen 65. Geburtstag deutet an, dass es eine bestimmte Tradition der Literaturkritik ist, die hier fortgeführt und damit auch geehrt werden soll. Da hört man gleich am Anfang sehr traditionelle Töne:  „Aber wohin man blickt, von Kritik ist nirgend­wo die Rede, vom kritischen Verhalten als Teil der sittlichen Voll­kom­men­heit.“ Damit werden zum einen nicht definierbare Abstrakta mit hohem Pathos­gehalt verwendet und zum anderen Ideen der Aufklärung fortgeschrieben, die angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen anachronistisch wirken. Die höchst anzweifelbare Wirkung von Literaturkritik wird nicht reflektiert, im Gegenteil: „[...] die Vorstellung von dem, was der Mensch heute sein soll, schließt selbstverständlich die kritische Tätigkeit mit ein.“

Doch bereits der erste Beitrag des Bandes bildet ein Korrektiv, Günter Blöcker betreibt eine „Selbstkritik der Kritik“. Allerdings sieht er den Kritiker zumindest durch den Umstand entlastet, dass er „es mit Bewegungen aufnimmt, die noch im Fluß sind, mit einem nach allen Seiten offenen literarischen Raum, in den das neue Dichtwerk, wenn es denn den Namen verdient, wie ein Kugelblitz fährt“. Gerade wegen der Unwägbarkeit des literaturkritischen Urteils möchte Blöcker den Leser nicht zum „Empfänger eines ästhetischen Urteils“, sondern zum „Zeugen eines Prozesses“ machen. „Indem der Kritiker das Für und Wider in seiner Brust preisgibt, indem er den Leser am Schlagwechsel der Thesen und Antithesen teilnehmen läßt, unterstellt er sich der nachvollziehenden Kontrolle.“ Die Bedeutung der dunklen Seite der kritischen Arbeit hebt er dennoch hervor, sieht darin eine entscheidende Legitimationsgrundlage. Der Kritiker soll ruhig Mut zur „Fehleinschätzung“ haben, denn: „Auch die krasseste Ungerechtigkeit pflegt noch ein Körnchen sonst ungeübter Gerechtigkeit zu enthalten.“ Blöcker mag sich nicht vom Sendungsbewusstsein verabschieden: „Kritik kann keine große Literatur schaffen, aber sie kann und soll mindere als solche erkennbar machen und verhindern, daß sie sich als ‚große’ etabliert.“

Blöcker markiert also eine Übergangsposition zwischen absoluter Kritikermacht und freiwilliger Selbstkonstrolle. Diese vorsichtige Reaktion auf die Veränderungen der Öffentlichkeit findet sich auch in anderen Beiträgen des Bandes, etwa bei Sibylle Cramer, die (subjektive) Begeisterung fordert, aber abschließend betont: „Dies ist kein Plädoyer für den freien Umgang mit dem Gefühl in der Kritik.“ Die Balance soll durch „die wechselseitige Kontrolle der Be­teiligten“ sichergestellt werden. Mit der Gerichtsmetaphorik des abschlie­ßen­den Satzes verlängert sie eine offenbar ungebrochene Traditionslinie seit dem 18. Jahrhundert in die Gegenwart, auch wenn sie diese modifiziert: „Der Kunstrichter steigt von seinem Stuhl. Die Urteilsfindung findet im Saal zwischen Anklage und Verteidigung statt.“

Nicht von den höheren Weihen des Kritikerberufs, sondern von den Mühen in den Ebenen kündet der Beitrag von Franz Josef Görtz, der den Kritikeralltag in der „Provinz“ schildert, zu dem gehört, „daß der Kritiker tatsächlich ununterbrochen liest und ununterbrochen schreibt, fünf (und bisweilen auch sechs) Tage in der Woche. Da er im Akkord arbeitet, gewöhnlich nach Druckzeilen oder Sendeminuten bezahlt wird, muß er, um rentabel zu arbeiten, schnell lesen und noch schneller schreiben.“ Kritik ist eine „Ware“, die bezahlt wird und die es zu vermarkten gilt.

Nicht weniger deutlich entzaubert Ulrich Greiner den Kritikerberuf, indem er den „Subjektivismus“ der Perspektive ebenso eingesteht wie das Fehlen verbindlicher Wertmaßstäbe als Arbeitsgrundlage: „Mich verfolgt die Frage: Mein Herr, wo sind Ihre Maßstäbe? Nicht, daß es darauf keine Antwort gäbe. Irgendeinen Maßstab hat schließlich jeder. Was mir jedoch wenig gefällt, ist die Tatsache, daß es für alle diese Maßstäbe keinen Maßstab gibt. Will sagen: Die totale Beliebigkeit heutiger Literaturkritik empfinde ich als Nachteil.“ Damit relativiert Greiner die idealistische Perspektive Blöckers, aber nicht die negative Sicht auf die gegenwärtige Situation verbunden mit dem Wunsch nach etwas, was offenbar verloren gegangen ist.

Die Selbstkritik der in dem Band vertretenen Kritiker beschränkt sich also weitgehend auf eine Klage über den Verlust ökonomischen und symbolischen Kapitals der Kritik. Eine Gegenposition nehmen beispielsweise die ebenfalls in dem Band enthaltenen Stellungnahmen von Autoren ein. Peter Hamm behauptet schon im Titel „Ich bin kein Literaturkritiker“ und zitiert Georg Christoph Lichtenberg: „Ich sehe die Rezensionen als eine Art von Kinderkrankheit an, die die neugeborenen Bücher mehr oder weniger befällt. Man hat Exempel, daß die gesündesten daran sterben – und die schwächlichen oft durchkommen.“ Als kennzeichnend für den Kritikerberuf sieht er „Verschwommenheit und Verwirrung“. Insofern kann man die Betonung des Unterschieds zwischen Wissenschaft und Kritik bezweifeln, wie sie Ulrich Greiner und Walter Jens zementieren möchten: „Literaturgeschehen ist eins, Literaturgeschichte ein anderes [...]“; „Es gibt Literaturwissenschaft, und es gibt Literaturkritik. Beide betrachten denselben Gegenstand, aber sie tun es mit verschiedenen Methoden.“

1989 lud Wilfried Barner zu einem DFG-Symposium ein (DFG = Deutsche Forschungsgemeinschaft). Herausgekommen ist der wohl umfassendste Versuch, das Feld Literaturkritik von allen möglichen Seiten zu beleuchten. Auf mehr als 500 Seiten präsentieren zahlreiche Wissenschaftler ihre Überlegungen zu ganz unterschiedlichen Aspekten, die sich dennoch in folgende Rubriken einordnen lassen:

· Literaturkritik als Institution;

· Literaturkritik als ‚Literatur’ (warum die einfachen Anführungszeichen – offenbar Ausdruck bestehender Zweifel, dass beides zusammenkommen kann!);

· Literaturkritik und philosophische Ästhetik;

· Literaturkritisches Werten.

Insgesamt – das lässt sich bereits an den genannten Kategorien ablesen – steht hinter den Ausführungen der Beiträger eine offene Vorstellung von Literatur­kritik, die in ihrer historischen Tiefe entfaltet wird. Dabei werden erstmals umfassend Wider­sprüche der literaturkritischen Praxis aufgearbeitet, etwa in dem Beitrag von Thomas Anz, der Kritiken analysiert mit der Absicht, Ansätze zu gewinnen für die „Re­konstruktion argumentativen Verhaltens, das zur ‚überzeugendsten’ Bewertung eines Textes zu kommen sucht“. Dabei stellt Anz „[...] in Rechnung, daß Literaturkritikern ihr faktisches Argumentationsverhalten nicht unbedingt bewußt ist, daß es vielmehr oft Regeln oder Regelmäßigkeiten folgt, die den explizit geäußerten Postulaten hinsichtlich literaturkritischen Verhaltens widersprechen.“

Ein Ergebnis der Auswertung ist, dass die Bewertung literarischer Texte „nur ein Bestandteil neben anderen“ ist, dass Information und Unterhaltung – Anz differenziert in „Anschaulichkeit, Suggestion, Spannung, Witz in der sprachlichen Formulierung“ – dazu kommen. Für die unterschiedliche Bewertung entwickelt Anz folgendes Erklärungsmodell:

 

Ein Wertungsdissens kann u.a. resultieren aus: [...] divergierenden Zuschreibungen von Textmerkmalen (auch Interpretationen eines Textes oder bestimmter Textteile), [...] divergierenden Wertungskriterien (axiologischen Werten), [...] divergierenden Verwendungsweisen der die Wertungskriterien bezeichnenden Begriffe, [...] divergierender Hierarchisierung und Kombination der Wertungskriterien, [...] divergierenden Wirkungen des Textes auf das wertende Subjekt.

 

Der letzte Punkt ist der alles umfassende – letztlich ist, das scheint in der Literaturkritik offenbar manchmal vergessen zu werden, Erkenntnis immer subjektiv und, in ihrer Vermittlung, ein Angebot (sofern es sich nicht um notwendige Regeln des menschlichen Zusammenlebens handelt, die in Gesetzen festgeschrieben werden).

Ein weiterer Versuch, sich dem Gegenstand in Form einer Aufsatzsammlung kritisch zu nähern, stammt von 1999. Die Herausgeber Wendelin Schmidt-Dengler und Nicole Katja Streitler legen Widerspruch gegen die kritisch-selbstkritischen Reflexionen der Vergangenheit ein: „Die Debatte um den Zustand der Kritik, das larmoyante Klagen über ihren Verfall ist wohl mindestens so alt wie die Kritik selbst.“ Der Band führt andere Argumentationslinien weiter, so begründet Schmidt-Dengler die Unterscheidung von Kritik und Wissenschaft wie folgt:

 

Ich verstehe – rein arbeitshypothetisch, um mich nicht bei – in diesem Zusammenhang – fruchtlosen Debatten aufzuhalten – Literaturkritik als die Summe der in Medien praktizierten Auseinandersetzung mit literarischen Texten, und da im besonderen die Auseinandersetzung in den Printmedien. Als Literaturwissenschaft verstehe ich die Summe der Produktion und Aktivität im Bereich der Unterrichts- und Forschungsinstitutionen wie Universität und Akademien.

 

Da viele Literaturwissenschaftler auch als Kritiker arbeiten und diese Kritiken in allen möglichen periodischen Publikationsorganen veröffentlichen (Peter von Matt, Wulf Segebrecht, Thomas Anz...), wie dies Schmidt-Dengler selbst zwei Seiten weiter thematisiert, bleibt als einzige klare Unterscheidung der Publikationsort – Zeitung und Zeitschrift, Rundfunk und Fernsehen auf der einen, wissenschaftliches Periodikum auf der anderen Seite. Vielleicht ließe sich die Gruppe der Kritiker stattdessen einteilen nach jenen, die verständlich argumentieren, und denen, die kryptisch schreiben; in diese Richtung geht folgende Feststellung: „Die Literaturwissenschaft scheint indes in einen Elfenbeinturm verbannt, aus dem sie hin und wieder heraus darf, wenn Sonntag ist und ein ernsthafter literarischer Gottesdienst angesagt ist.“ Gleich darauf wird die Verständlichkeit des Kritikerstils einer substanziellen Kritik unterzogen, Schmidt-Dengler findet als Charakteristikum ein „Spiel im Phraseologischen“. „Die Redeweise dient dazu, sich nicht festzulegen [...].“

Sigrid Löffler setzt in ihrem Beitrag die Kritik an dem Warencharakter der Kritik fort. Sie schließt an Reich-Ranickis Formulierung vom Kritiker als Anwalt der Literatur an, wenn sie fordert: „Er verteidigt die Literatur, notfalls auch gegen den Autor. Und er sucht das Publikum von der Literatur zu überzeugen, von der er selber überzeugt ist. Er ist der Vermittler zwischen dem Buch und dem Publikum.“

Damit wäre am Ende des 20. Jahrhunderts die Bedeutung der Kritik zumindest für das Sozialsystem Literatur wieder hergestellt – es sei denn, man beginnt zu fragen: Was ist denn überhaupt ‚die Literatur’? Was muss verteidigt werden – mit welchen Mitteln? Und wozu? Es scheint, als ob sich hier die Katze einmal mehr in den Schwanz beißt.

Seit den 60er Jahren wurde die Verwissenschaftlichung der germanistischen Literaturwissenschaft vorangetrieben, das dürfte ein wichtiger Grund sein, weshalb die zwei Königskinder Literaturwissenschaft und Literaturkritik nur noch selten zueinander kommen. Ob es früher anders war? Wahrscheinlich steht aus heutiger Perspektive das Vergangene in zu verklärtem Licht. Nicht zu leugnen ist aber, dass zwischen der einer ausgefeilten literaturwissenschaftlichen Methodik geschuldeten Technokratenprosa und dem essayistischen Stil der Kritiker ein Graben klafft, den nur noch wenige zu überbrücken vermögen. Damit soll weder die eine noch die andere Partei genommen werden, vielmehr – und nun setzte ich mich zwischen die Stühle – scheint mir, dass eigentlich beide Seiten nur voneinander lernen könnten, vorausgesetzt, sie wollten das auch.

Ansätze dafür sind ja gegeben, einige werden noch vorgestellt. So gibt es Anzeichen, dass der französische Sprachphilosoph Roland Barthes von der Literaturwissenschaft und der Kritik gleichermaßen stark rezipiert worden ist. (Auf Barthes wird im Kapitel Literaturkritische Positionen eingegangen.) Es ist nicht möglich, hier alle von Kritikern – die meisten sind studierte Germanisten – anerkannten Theorien und Methoden zu erläutern. Nur ein paar Bemerkungen sollen folgen, denen man den Vorwurf machen kann, dass sie viel zu knapp ausfallen, während die Alleswisser meinen werden, dass sie ohnehin überflüssig sind. Auch das gehört zum Geschäft.

Ein – freilich auf die innere und äußere Organisation des Betriebs beschränktes – Erklärungsmodell der Literaturkritik liefert die Systemtheorie, eine Einführung findet sich in dem (auf der Systemtheorie beruhenden) Konzept der Empirischen Literaturwissenschaft von Helmut Hauptmeier und Siegfried J. Schmidt. Literatur wird als „gesellschaftliches Handlungssystem“ definiert:

 

Ein Handelnder (im folgenden Aktant genannt) handelt mit einem oder in bezug auf ein sprachliches Gebilde, das er nach seinen Vorstellungen für literarisch hält, anderen als literarisch anbietet bzw. als literarisch bewertet. Der literarische Text spielt also nur da eine Rolle, wo er tatsächlich in Handlungen von Aktanten vorkommt: als produzierter, vermittelter, rezipierter oder verarbeiteter Text. Nur in solchen Text-Handlungs-Konstellationen „lebt“ ein Text als literarischer Text, weil ihm Aktanten Bedeutungen zuordnen, ihn bewerten, ihn für „schön“ oder „wichtig“ halten.

 

Das ist zwar nur teilweise richtig – ein Text lebt, wie wir eigentlich seit Hans Robert Jauß und Wolfgang Iser wissen, nicht durch Handlungen, sondern durch die Lektüre. Dennoch gibt das etwas angejahrte Modell wichtige Aufschlüsse über die Rollenverteilung im Sozialsystem Literatur, das als Subsystem zur Gesamt-Gesellschaft betrachtet werden kann. Die in Wechselbeziehungen zueinander stehenden Handlungsrollen im Sozialsystem Literatur sind Literaturproduktion, Literaturvermittlung, Literaturrezeption und Literatur­ver­ar­bei­tung. Autoren und Verleger produzieren einen Text, Verlage vermitteln ihn aber auch, ebenso Kritiker, die ihn zunächst rezipieren und dann zu einer Kritik ver­arbeiten. Die Handlungsrollen lassen sich also nicht eindeutig Berufsfeldern zuordnen, sie können in rascher Folge wechseln.

Es handelt sich dabei um konventionalisierte Handlungen, die Handelnden folgen bestimmten Gesetzmäßigkeiten. Die wichtigsten werden von Hauptmeier und Schmidt als Ästhetik-Konvention und als Polyvalenz-Konvention be­schrie­ben:

 

Die Ästhetik-Konvention besagt: Wer im Literatur-System bzw. in bezug auf literarische Texte handelt, der soll sprachliche Handlungen mit Behauptungsanspruch in literarischen Texten nicht in erster Linie danach beurteilen, ob sie in seinem Wirklichkeitsmodell wahr oder falsch sind, sondern literarische Texte und ihre Bestandteile solchen Bedeutungsregeln und Bewertungskategorien unterziehen, die in seinem Verständnis als poetisch wichtig gelten. Nicht die auf das gesellschaftlich gültige Wirklichkeitsmodell bezogene „Wahrheit“ macht einen Text für einen Aktanten zu einem literarischen Text, sondern seine als poetisch wichtig festgestellten und bewerteten Qualitäten.

 

Mit anderen Worten und vereinfacht gesagt: Die Bewertung literarischer Texte ist subjektiv. Das bedeutet in seiner Konsequenz allerdings eine Übereinkunft über einen groben Maßstab:

 

Die Polyvalenz-Konvention besagt: Aktanten im Literatur-System haben die Freiheit, als literarisch eingeschätzte Texte so zu behandeln, wie es für ihre Bedürfnisse, Fähigkeiten, Intentionen und Motivationen optimal ist. Sie erwarten, daß sie demselben Text unter wechselnden Bedingungen unterschiedliche für sie relevante Lesarten und Bewertungen zuordnen können und räumen dies auch anderen Aktanten im Literatur-System ein.

 

Von der Vieldeutigkeit (Polyvalenz) eines Texts kann man aber nur sprechen, wenn die Übereinkunft darüber, dass er vieldeutig ist, möglich ist. Ein Zei­tungsartikel wird nach allgemeinem Konsens nicht als vieldeutig gelten, oder es ist ein schlechter Zeitungsartikel. Ein Gedicht wird als vieldeutig gelten – oder es ist ein schlechtes Gedicht. Damit wird allerdings ein Bewer­tungs­maß­stab eingeführt: Nur literarische Texte, die als vieldeutig rezipiert werden kön­nen, sind gute literarische Texte. Hier findet sich der Übergang von den Er­klä­rungs- zu den Wertungsmodellen – die Gegenstand eines eigenen Kapitels sein sollen.

Die systemtheoretische Beschreibung des Feldes der Literaturkritik lässt sich sinnvoll ergänzen durch eine kommunikationstheoretische, mit anderen Worten: Handlungen voll­zie­hen sich durch Sprache. Auf diesem Wege ist Peter Uwe Hohendahl zu einer knap­pen Definition gekommen: Literaturkritik ist „die öffentliche Kom­mu­ni­ka­tion über Literatur“.

Dem ließe sich noch eine nicht-öffentliche Kom­mu­ni­ka­ti­on an die Seite stellen, wobei wir wieder bei der noch folgenden Ergänzung der Per­spektive durch Wertungshandlungen wären. Wenn Adrian seinem Freund Bern­hard ein Buch empfiehlt mit den Worten: „Tolle Lektüre, das musst Du le­sen!“, oder wenn er es ihm gar zum Geburtstag schenkt, dann ist das eine litera­tur­kritische Aussage, auch wenn es sich um einen Akt interpersonaler Kom­mu­ni­kation handelt, der beim Verschenken (sollten keine Erläuterungen das Geschenk begleiten) sogar non-verbal ist. Allein die Geste transportiert die Bedeutung ‚tolles Buch, musst Du lesen’ – sofern die beiden Freunde sind und in­ten­tionales Handeln vorliegt (also nicht einfach irgendein Buch wegen seines schö­nen Titelbildes aus dem Regal gegriffen wurde).

Damit nehmen die beiden Freunde teil an einem Diskurs über Literatur, der auf ganz unterschiedlichen Ebenen geführt wird. Unterscheidet man nach der An­zahl der Rezipienten, dann finden sich Ebenen vom Zweiergespräch bis zur li­te­ra­turkritischen Berichterstattung im Fernsehen. Verwendet man den Begriff des Dis­kurses im Sinne von Jürgen Habermas oder Michel Foucault (das ist al­ler­dings auch die einzige Gemeinsamkeit zwischen beiden), dann ermöglicht die Dis­kursanalyse „die Einsicht in den Zusammenhang von sprachlicher Mitteilung und gesellschaftlicher Funktion“.

 

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Die kritische wie die wissenschaftliche Beschäftigung mit Literatur basiert auf einem möglichst umfangreichen literarhistorischen und methodischen Hinter­grund­wissen. Man kann einen Text nur einordnen und bewerten, wenn man Entwicklung und Spezifika literarischer Sprache kennt. Daher sollte sich jeder, der literaturkritisch tätig sein will, ein entsprechendes, möglichst großes Hintergrundwissen erarbeiten, also vor allem viel einschlägige Primär- und Forschungsliteratur lesen und sich Kontextwissen über das Gelesene aneignen.

Literaturkritik steht in einem komplexen Wechselverhältnis von gesell­schaft­lichen Rahmenbedingungen, Rollen und individuellen Prägungen oder Zielen. Das hat wohl mit dazu beigetragen, dass die Auseinandersetzung mit Litera­tur­kri­tik stets zwischen dem Konstatieren ihrer Krise und der Be­tonung ihrer unverzichtbaren Leistungen oszilliert.

 

Bei diesem Beitrag handelt es sich um Kapitel 2 in dem Buch:
Stefan Neuhaus: Literaturkritik. Eine Einführung. Göttingen: Van­den­hoeck & Ruprecht 2004 (UTB 2482).
Dort finden sich auch die Literaturnachweise.