Einige Überlegungen zur Theorie der Literaturkritik
Literatur kritisieren kann jeder. Meist geschieht dies mündlich als pauschale Lesempfehlung: „Das musst Du lesen!“, „Das ist ein spannendes Buch!“, „Das ist ein interessantes Buch!“ Solche Gemeinplätze sind keine fundierte Auseinandersetzung mit einem Buch und wollen es auch gar nicht sein, vielmehr spielt das Buch hier eine Rolle als Gegenstand von Kommunikation, mit der beispielsweise erreicht werden soll, die eigene Rolle in einer Gruppe als kundiger Leser zu festigen. Nach der Sprechakttheorie ließe sich von einem perlokutionären Akt sprechen, da mit der Aussage nicht nur eine bestimmte Handlung empfohlen (das Buch zu lesen), sondern eine bestimmte Wirkung hervorgerufen wird. Positive wie negative Kritik an Literatur ist also zunächst ein kommunikativer Akt; sie kann sich aber auch direkt in einer Handlung manifestieren. Indem ich ein bestimmtes Buch kaufe, ziehe ich es einem anderen vor; indem ich als Lektor eines Verlags ein bestimmtes Buch in mein Programm aufnehme, unterziehe ich es einer positiven Kritik (oder einer negativen, wenn ich es ablehne).
Handeln und Sprechen sind Bestandteil eines gesellschaftlichen Zusammenhangs. So besteht ein Verlag aus Menschen, eine eine Gruppe bilden; auch Lektoren lassen sich als eine bestimmte Gruppe in der Gesellschaft identifizieren. ‚Leser’ ist die Bezeichnung für die größte gesellschaftliche Gruppe, die sich mit Literatur beschäftigt. Aus ihr lässt sich eine zahlenmäßig kleine Gruppe der ‚professionellen Leser’ bilden, deren Profession, also deren Beruf es ist, sich mit Literatur zu beschäftigen. Das sind die eben erwähnten Lektoren, aber auch Deutschlehrer, Bibliothekare, Universitätsdozenten, Buchhändler...
Das heißt nicht, dass professionelle Leser immer alles besser wissen. Die Zahl der Fehlurteile ist Legion, insbesondere bei Literaturkritikern fällt es auf, weil sie sich durch die massenhafte Verbreitung ihrer Urteile besonders exponieren. Etwa Iris Radisch, wenn sie in der „Zeit“ vom 25. August 1995 über Günter Grass’ Roman Ein weites Feld behauptet: „Dieses Buch ist unlesbar.“ Und doch hat es mehr als eine halbe Million Leser gefunden, zumindest haben es so viele Menschen gekauft... Und Grass hat wenige Jahre später den Nobelpreis für Literatur erhalten, nicht nur, aber auch für diesen Roman.
Dass die Meinungen über Literatur oft weit auseinandergehen, hat viele Gründe, zwei der wichtigsten dürften sein:
1. Literatur im üblichen Verständnis als fiktionale Literatur oder Dichtung zeichnet sich durch Deutungsoffenheit aus, im Gegensatz zur Sachbüchern oder journalistischen Texten, die versuchen, Realität möglichst genau abzubilden. Wäre Literatur nicht deutungsoffen, würde sie veralten; keiner würde mehr Goethe, Schiller, Heine, Fontane oder Thomas Mann lesen.
2. Wer was zur Literatur sagen oder schreiben darf, ist nicht festgelegt; es gibt zwar Volontariate für Journalisten, aber keine verbindlichen Vorschriften, wer Literaturkritiker werden darf. Anders als in anderen Berufen, etwa im Handwerk – nicht jeder darf die elektrischen Leitungen im Haus legen (auch wenn solche Vorschriften manchmal umgangen werden). Bei anderen professionellen Lesern gibt es schon verbindliche Vorschriften: Deutschlehrer kann nur werden, wer Lehramt studiert hat, und der Universitätsdozent folgt einem bestimmten Laufbahnmodell.
Literatur hat, das wird hier deutlich, auch etwas mit Freiheit zu tun. In der untergegangenen DDR war die Literatur die Gegenöffentlichkeit, da es keine freien Medien gab. Die typische Mehrfachcodierung erlaubte es, in literarischen Texten politische Botschaften zu ‚verstecken’. Die Meinungsfreiheit in der Demokratie erstreckt sich nicht nur auf den Journalismus, sondern auch auf die Literatur.
Die Geschichte der Rezeption von Literatur pendelt zwischen Freiheitsbestrebungen und Normierungsversuchen. Literatur lebt von der Innovation, ihre maximale gesellschaftliche Wirkung erreicht sie, wenn sie Tabus bricht und Skandale auslöst (vgl. hierzu demnächst: Johann Holzner & Stefan Neuhaus, Hg.: Literatur als Skandal. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007). Nicht nur Politiker, auch professionelle Leser tendieren oft zur Normierung, manche müssen es sogar – etwa der Lektor, der ein bestimmtes Programmprofil zu wahren hat. Wenn es aber um die öffentliche Kritik an Literatur geht, sollte man sich mit Pauschalurteilen zurückhalten, die einen Ausschließlichkeitsvermerk tragen.
Warum das so ist, hat bereits Roland Barthes in seinem 1966 in Frankreich und 1967 auf Deutsch erschienenen Büchlein Kritik und Wahrheit erläutert (Frankfurt/Main: Suhrkamp). Sein Buch war eine Streitschrift, gerichtet gegen die Streitschrift eines Kollegen namens Raymond Picard, den heute kaum jemand mehr kennt – im Unterschied zu Roland Barthes. Picard wollte seine eigene Interpretation der Werke Racines als verbindlich verstanden wissen. Barthes sah dies anders, proklamierte die „Offenheit des Werkes für eine nie endende Interpretation“ (so der Übersetzer Helmut Scheffel im Vorwort des Büchleins) und wurde dafür von Picard beschimpft. Barthes sah sich zu der Feststellung veranlasst: „Im Staat der Literatur wird die Kritik nicht weniger gezügelt als die Polizei [...] (S. 23).“ Und er fügte erläuternd hinzu:
Jeder Versuch, aus dem Material der Sprache literarischer Werke eine zweite Sprache zu schaffen, eröffnet allerdings einen Weg voller unkontrollierbarer Relais, das unendliche Spiel der Spiegel, und diese Aussicht ist verdächtig. Solange die traditionelle Funktion der Kritik darin bestand, Urteile zu fällen, konnte sie nicht anders als konformistisch sein, nämlich konform mit den Interessen der Richter. Aber die wirkliche Kritik an den Institutionen und den Schreibweisen besteht gar nicht darin, zu urteilen, sondern darin, sie zu unterscheiden, sie voneinander zu trennen, sie zu verdoppeln. Um subversiv zu wirken, braucht die Kritik nicht zu urteilen; sie braucht nur von der Sprache zu sprechen, statt sich ihrer einfach zu bedienen (S. 23f.).
Damit benennt Barthes auch eine gesellschaftliche Funktion der Literaturkritik wie der Literatur – beide sollen, so könnte man verallgemeinernd sagen, die Entwicklung der Gesellschaft kritisch begleiten.
Barthes unterscheidet zwischen Literaturkritik und Literaturwissenschaft: „diese behandelt die Bedeutungen, jene bringt welche hervor“ (S. 75). Anders formuliert: Literaturkritik weist Texten bestimmte Bedeutungen zu. „Der Kritiker verdoppelt die Bedeutungen“ (S. 76), indem er in seiner Sprache über die Sprache des Textes legt. Dabei ist es eine „Notwendigkeit“ für den Kritiker „zu berücksichtigen, daß im literarischen Werk alles bedeutungsvoll ist“ (S. 77). Die Aufgabe der Wissenschaft sieht Barthes darin, alle möglichen Bedeutungen des Werks auszuloten, sich also nicht auf die eine Bedeutung festzulegen, die es nicht geben kann. Die Interpretation steht zwischen diesen beiden Positionen; Kritiker interpretieren ein Werk ebenso wie Wissenschaftler, wenn sie eine bestimmte Bedeutung herauspräparieren.
Die Grenzen zwischen Kritik und Wissenschaft sind durchlässig, sie verschwimmen beim näheren Hinsehen. Kaum ein Kritiker ist nicht studierter Philologe, viele Wissenschaftler sind profilierte Kritiker für Tages- und Wochenzeitungen. Im englischsprachigen Raum gibt es ohnehin keine Unterscheidung zwischen Kritik und Wissenschaft, ‚literary criticism’ schließt beides ein. „Literary criticism is the study, discussion, evaluation, and interpretation of literature”, heißt es in der englischsprachigen Ausgabe des Internet-Lexikons „Wikipedia“ (http://en.wikipedia.org/wiki/Literary_criticism, abgerufen am 1. März 2007). Die Frage, was Literaturkritik ist oder sein kann und wie sie sich entwickelt hat, ist schon Gegenstand von vielen wissenschaftlichen Monographien, Sammelbänden und Aufsätzen gewesen (nur auf drei neuere sei hier stellvertretend hingewiesen: Wolfgang Albrecht: Literaturkritik. Stuttgart u. Weimar: Metzler 2001; Thomas Anz u. Rainer Baasner, Hg.: Literaturkritik. Geschichte, Theorie, Praxis. München: C.H. Beck 2004; Stefan Neuhaus: Literaturkritik. Eine Einführung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004).
Insofern kann man Barthes’ Definitionsversuch dahingehend erweitern, dass sich alle, die Literatur kritisieren und interpretieren, über die prinzipielle Deutungsoffenheit von Literatur im Klaren sein sollten. Sie sollten wissen: Es kann auch Leser geben, die den Text ganz anders lesen als ich; und sie sollten dies in irgend einer Form im Text mitteilen. Das muss nicht explizit geschehen, man darf durchaus von den Lesern der Kritiken ein gewisses Maß an Vorbildung und Intelligenz erwarten (solche Erwartungshaltungen sind natürlich auch abhängig vom Medium). So kann durch Überzeichnung deutlich werden, dass man es mit einer polemischen Kritik zu tun hat – die dann nur so ernst genommen sein will, wie es einer Polemik generell zusteht.
Ein guter Kritiker ist sicher auch der Kritiker, der gut schreiben kann, aber das allein reicht nicht aus. Kritiker sollten die Texte ernstnehmen, die sie kritisieren, und die Leser, deren legitimes Interesse es ist, sich Orientierung zu verschaffen. Wenn man einem Leser nur mitteilt, dass man diesen oder jenen Text gut oder schlecht findet, kann der Leser wenig damit anfangen. Nur wenn es eine nachvollziehbare Begründung gibt, kann er sich eine eigene Meinung bilden – und das zu erreichen sollte in einer demokratischen Gesellschaft immer das höchste Ziel jeder publizistischen Tätigkeit sein.
[Sammelbezeichnungen wie ‚Leser’ verstehen sich als geschlechtsneutral.]
Stefan Neuhaus
Univ.-Prof., Dr. phil., Dr. h. c.
Institut für deutsche Sprache, Literatur und
Literaturkritik
Leopold-Franzens-Universität
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