Seher, Emphatiker, Gnostiker
Daniela Strigl über Literaturkritik und Literaturtheorie
1. Status Quo: „Ich seh, ich seh, was du nicht siehst“
Eigentlich wollte ich hier überprüfen, inwieweit die Moden der literarischen Theorie auch in der Kritik ihre Spuren hinterlassen haben. Und auf welche Weise theoretische Positionen – ob deklariert oder nicht – kritische Urteile beeinflussen. Aber bei etlichen Probebohrungen auf dem Feld der deutschsprachigen Literaturkritik waren theoretische Fundierungen kaum auszumachen – wenn man von Organen wie dem Merkur absieht, die eine Zwitterform von Kritik und Essay pflegen. Offenbar erschöpft sich das mediale Rezensionswesen als kritische Praxis. Es scheint, als hätten Kritikerinnen und Kritiker alle Hände voll zu tun, das Gestrüpp der Neuerscheinungen zu lichten: Da ist die Machete gefragt, nicht das Skalpell. Die Denkweisen des Poststrukturalismus mögen die Germanistik erreicht haben – die deutsche jedenfalls, die österreichische schon weniger – im Feuilleton sind sie noch nicht angekommen. Natürlich gibt es Ausnahmen, es sind vor allem Grenzgänger und Grenzgängerinnen zwischen Literaturwissenschaft und -kritik. Es gibt zum Beispiel Franz Schuh, jemanden, der theoretisch überaus bewandert ist, der aber als Kritiker literarisch schreibt.
Im Mainstream der Kritik konnten sich bestenfalls gewisse Übereinkünfte etablieren, zeitgeistbeförderte Prinzipien: Man geht von einem grundsätzlichen Deutungspluralismus aus, davon, daß die Verpflichtung auf Sinn oder gar Sinnstiftung von einem Kunstwerk nicht zu verlangen, davon, daß eine rein werkimmanente Interpretation unbefriedigend sei. Wenn neuere Positionen der Literaturwissenschaft in das Tagesgeschäft eingesickert sind, dann als Versatzstücke. Die Literaturkritik pflegt den Eklektizismus. So steht an der Spitze der Hitliste feuilletonistischer Gemeinplätze wohl der von Roland Barthes und Michel Foucault diagnostizierte „Tod des Autors“ (oder ist es Rimbauds Dictum „Ich ist ein anderer“?). Weniger wirksam wurde das Bild des Kritikers, das Barthes 1964 in seinem Essay Was ist Kritik? gezeichnet hat:
"Man kann sagen, daß die Aufgabe des Kritikers rein formeller Natur ist: Es geht nicht darum, in dem behandelten Werk oder untersuchten Autor irgend etwas Verstecktes, Tiefes, Geheimes zu entdecken, etwas, das uns bis heute entgangen wäre (durch welches Wunder? Sind wir etwa scharfsinniger als unsere Vorgänger?), sondern darum, wie ein guter Tischler zwei Teile eines komplexen Möbelstücks vorsichtig und geschickt einander anzupassen: die Anpassung der Sprache, die ihm seine Zeit liefert (Existentialismus, Marxismus, Psychoanalyse), an die Sprache, d.h. an ein formales System von logischen Zwängen, das der Autor in seinem historischen Kontext entwickelt." [1]
Die jeweilige theoretische Position des Kritikers erscheint hier als zeitbedingte sprachliche Eigenart, als eine Art Fremdsprache unter vielen. Der Methodenpluralismus oder auch -relativismus, der aus dieser Auffassung resultiert, hat in trivialisierter Form gewiß Eingang in die literaturkritische Praxis gefunden. Die pragmatische Sicht des Kritikers als Sprach-Tischler, der im Grunde nichts anderes als Übersetzungsarbeit (zwischen der Sprache der Entstehungszeit und der des heutigen Interpreten) leistet, hat sich im Feuilletonalltag nicht durchgesetzt. Zum einen, weil Barthes hier natürlich Werke der Literaturgeschichte im Blick hat, zum anderen, weil formale Aspekte gegenwärtig überhaupt eine geringere Rolle spielen als etwa thematische.
Wenn eine Strömung tiefere Spuren im Bewußtsein der Rezensenten hinterlassen hat, dann vermutlich der Feminismus. Das heißt nicht unbedingt, daß literarische Werke stets nach Gender-Gesichtspunkten analysiert würden, sondern eher, daß sich ein Sensorium für die geschlechtsspezifischen Arbeitsbedingungen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern entwickelt hat.
Mit diesem sehr kursorischen Befund will ich die angewandte Literaturkritik nicht abwerten – er schließt auch meine eigene Arbeit mit ein. Vielleicht bewahrt sich die Kritik ja ohne Festlegung auf eine der gängigen Theorien die nötige Bewegungsfreiheit. Auf jeden Fall aber verschiebt sich der Blickwinkel: Die einem bekannten Gesellschaftsspiel entlehnte Behauptung „Ich seh, ich seh, was du nicht siehst“ artikuliert weniger die Position des auf hohem theoretischen Roß sitzenden Kritikers gegenüber seinem Leser oder auch dem Autor; eher dürfte das der philosophisch versierte Literaturwissenschaftler dem Kritiker zurufen.
2. Ein Fallbeispiel – das Feuilleton debattiert sich selbst
"It is only shallow people
who do not judge by appearances.
The mystery of the world is the visible,
not the invisible."
Oscar Wilde
In einem sehr allgemeinen Sinne ist Theorie natürlich für jede Form von Kritik unerläßlich. Theorie kommt ja von „theoreo“, anschauen, betrachten. Und um etwas unterscheiden zu können, muß ich es zunächst in seiner Gesamtheit wahrnehmen, muß ich es sehen. So gründet jede literaturkritische Äußerung auf einem bestimmten Bild von Literatur, auf einer bestimmten Wahrnehmung des Verhältnisses von Literatur und Wirklichkeit. Das wird in der Literaturkritik immerhin gelegentlich problematisiert, von liebgewordenen Denkmustern nimmt sie aber ungern Abschied. So feiert der totgesagte Autor fröhliche Urständ. Der von T. S. Eliot bis Roland Barthes formulierte Anspruch, der Kritiker möge sich bei der ästhetischen Beurteilung eines sprachlichen Kunstwerks nicht von der Biographie des Autors ablenken lassen, wird im Feuilleton weitgehend ignoriert. So hat etwa auch ein theoretisch so beschlagener und interessierter Literaturkritiker wie Richard Reichensperger die Mythen seiner Lieblingsdichterinnen und -dichter stets biographisch konstruiert. [2]
Im Frühling 2006 hat ein Buch im deutschen Feuilleton eine überraschend heftige Debatte über das Selbstverständnis der Literaturkritik ausgelöst: Volker Weidermanns Lichtjahre, mit dem Untertitel Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute. Weidermann, Feuilletonchef der programmatisch ‚jungen’ Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, selbst Mitte Dreißig, portraitiert darin 135 Autorinnen und Autoren der deutschsprachigen Literatur und versteht sein Werk als eine Art Fortsetzung von Heinz Schlaffers Kurzer Geschichte der deutschen Literatur, in der, bei aller gebotenen Kürze, jedenfalls die Nachkriegsliteratur zu kurz kommt.
Gleich nach Erscheinen von Lichtjahre im März kam es im Literarischen Colloquium Berlin zu einer öffentlichen, vom Deutschlandfunk übertragenen Diskussion mit dem Autor. Daran nahmen die Kritiker Christoph Bartmann und Ulrich Greiner teil, Gastgeber und Moderator war der Literaturkritiker Hubert Winkels. Die durchaus höfliche diskursive Herrenrunde, die sich Weidermanns Buch vornahm, wurde von so manchem Zuhörer nur mehr in der Metaphorik eines Raufhandels wahrgenommen: "Du bist doch ein richtiges Arschloch! Einen Autor mit seinem neuen Buch fertig zu machen! Drei gegen einen. Hinterhältig und feige." Das sagte der Autor Maxim Biller zu Hubert Winkels, der insofern aus der Moderatorenrolle fiel, als er sein Unbehagen am Buch des Gastes jedenfalls nicht verhehlen mochte. [3]
Warum, das erklärte Winkels zwei Wochen später in der Zeit ausführlich: Der Autor von Lichtjahre erzähle "nach den Kriterien Lebendigkeit, Lebensnähe, Leidenschaft und Lässigkeit. Aber leider geht es nur am Rande um Literatur, das heißt um Texte, um Machart, Form, Sprache und Dramaturgie. Man kann das so machen, aber der Preis ist hoch, und er ist sichtbar." Winkels benutzt den Anlaßfall, um eine Zweiteilung der Kritikerzunft zu konstatieren: in "Emphatiker" und "Gnostiker":
"Die Emphatiker sind die mit dem unbedingten Hunger nach Leben und Liebe; Gnostiker sind die, denen ohne Begreifen dessen, was sie ergreift, auch keine Lust kommt; die sich sorgen, falschen Selbstbildern, kollektiven Stimmungen, Moden und Ideologien aufzusitzen." [4]
Nun ist "Gnostiker" ein religionsgeschichtlich belasteter Begriff für einen Typus, den man einfach den "Rationalisten" nennen könnte – was für Winkels aber wohl einen pejorativen Beigeschmack hat. Die Kategorisierung von Kritikern hat Tradition, es ist ein Geschäft, das naturgemäß wiederum von Kritikern betrieben wird, die, wenn sie schon beim Unterscheiden sind, gleich die eigene Zunft unter die Lupe nehmen. 1960 hat Walter Höllerer fünf Kritikertypen ausgemacht – darunter den "Schade, daß-Typ", den "Darüber-hinaus-Typ" und den "Wie-wir-gezeigt-haben-Typ". [5] 1996 unterscheidet Jörg Lau den "entflammten Novizen" und den "satten Libertin", den "Ex-Kumpel" und den "enttäuschten Liebhaber", den "Detektiv", den "Anwalt" und den "Systematiker". [6] Franz Schuh hat vermutet, daß die Häme, mit der Kritiker über ihre Kollegen zu urteilen pflegen, eine Spezialität des deutschen Sprachraums sei. Allerdings war auch T. S. Eliot in dieser Hinsicht keineswegs zimperlich. [7]
Hubert Winkels mißt seine geballte Verachtung nur einer der beiden von ihm eingeführten Fraktionen zu, den "Emphatikern", den "Leidenschaftssimulanten und Lebensbeschwörern", die "Stadionberichte aus dem literarischen Leben liefern"; zu den "Gnostikern" zählt er sich schließlich selbst. [8] Winkels’ polemische Strategie zielt darauf ab, den rebellisch-vitalistischen Kraftlackel-Gestus der "Emphatiker" (etwa nach dem Vorbild des frühen Brecht) als affirmative Haltung zur kapitalistisch organisierten Welt des Entertainment zu entlarven: Ihr Vorbild sei der Gefühls- und Betroffenheitskult des Fernsehens, die dort praktizierte Personalisierung und Exaltiertheit: "Ihr Basisprogramm ist durch und durch performativ, selbst in Buch und Zeitung."
Hubert Winkels’ Angriff entfachte eine Debatte, an der sich alle wesentlichen Zeitungen Deutschlands ausführlich und durchaus emphatisch beteiligten. Sekundiert hatte ihm in derselben Ausgabe der Zeit der Literaturchef Ulrich Greiner unter dem Titel Abglanz des Gelebten. Volker Weidermann betreibt Biografismus als Literaturgeschichte. [9] Ina Hartwig legte in der Frankfurter Rundschau noch eins nach, unter der Überschrift Ich und der Dichter. Achtung, Achtung: Die Ganzkörperliteraturkritik übernimmt:
"Ulrich Greiner hat Weidermann in der Zeit ‚Biographismus’ vorgeworfen. Ist, was Weidermann über Celan schreibt, nicht vielmehr biographische Suggestion? Oder wenn Ingeborg Bachmanns Lebensende bedichtet wird mit den Worten: ‚Der Tod kam nachts. Sie hatte Beruhigungsmittel genommen. Legte sich ins Bett. Allein. Mit einer brennenden Zigarette. Das Bett fing Feuer. Das Nachthemd fing Feuer. Ingeborg Bachmann ist verbrannt.’ Nein, das ist nicht biographisch, auch nicht biographistisch, sondern schlicht Tratsch. Man könnte auch sagen: Schriftstellerlebensgeschichtskitsch, und zwar auf Kosten von Lebenden, Toten und auf Kosten der seriösen Literaturkritik."[10]
Die Trennlinie, die gezogen wird, und zwar von beiden Seiten des Grabens aus, ist also die zwischen Seriosität und Unterhaltsamkeit. Selbst wohlmeinende Kritiker von Weidermanns Buch kommen nicht umhin, auf dem Wege der Popularisierung Substanzverlust festzustellen. So lobt Volker Hage im Spiegel, der Autor wage "Meinungen, klare, kräftige Urteile" und sein Buch lese sich gut. Seine Absage an Abstraktion und Begrifflichkeit sei aber doch bedenklich. [11] Tatsächlich tritt Weidermann mancherorts die Flucht des Kritikers nach vorn, in die Sprachlosigkeit an. Da heißt es bei ihm etwa über einen Roman von Undine Gruenter: "[...] ein so zartes und leises Buch, dass alle Begriffe, die es zu fassen versuchen, so klotzig und schwerfällig wirken." Und über Judith Hermanns Debut Sommerhaus, später: Was da alles drinstecke, "das kann man eben nicht heraustragen in einen Zeitungsartikel hinein". [12]
Man könnte sagen, Volker Weidermann geriert sich als mimetischer, ja mehr noch: als symbiotischer Kritiker, im Grunde eine contradictio in se. Er hat nicht nur ein Faible für Autorinnen mit dem Image eines zerbrechlichen Fräuleins, sondern auch für Autoren mit dem Image des zornigen jungen Mannes, mögen sie auch, wie Wolf Wondratschek und Maxim Biller, in die Jahre gekommen sein. Sie bieten dem Kritiker die Identifikationsfläche für sein überbordendes Ego, ihnen eifert er nach, ihnen nähert er sich an, auch stilistisch. Das Ziel ist, im Sinne der historischen Rollenverteilung zwischen dem Kritiker und dem Dichter, die Vereinigung des Parasiten mit dem Wirt.
Volker Weidermann plazierte seine Antwort auf den Aufstand der "Seriösen" just im seriösen Schwesterblatt F.A.Z. und verfestigte im Grunde nur die im Feuilleton-Streit bereits herausgebildeten Fronten. Schon der Titel Das Lesen ist schön legte mit dem suggerierten Gleichklang von "Lesen" und "Leben" ein Bekenntnis zu dem Weidermann unterstellten Kult des Vitalismus ab. Der kritisierte Kritiker erklärt die Frage nach der Legitimität von Leidenschaft bei der Ausübung des Rezensentenhandwerks für müßig. Es sei das gute Recht, derer, die das wollten, unter sich zu bleiben. Und es sei das gute Recht der anderen zu sehen, "wie man das oftmals trockene Geschäft der Literaturkritik populärer machen kann, wie man die eigene Begeisterung für die Literatur vermitteln kann, ohne immer nur unter sich zu bleiben. Das ist doch das Geheimnis! Das ist doch das Ziel! Denn erst die Leidenschaft macht den Literaturkritiker sehend." [13]
Damit ist der andere Pol zur Theorie benannt: "Sehen" bedeutet hier nicht mehr das Anschauen eines Textes, sondern das Erfassen mit Hilfe eines Sechsten Sinnes, mit Hilfe von Intuition. Nur als Enthusiast (von griechisch "entheazo", gottbegeistert, verzückt sein) hat der Literaturkritiker Anteil am göttlichen Funken, der den Dichter entzündet.
Die Motivation dessen, den seine Leidenschaft "sehend" gemacht hat, ist, auch jenen die Augen zu öffnen, die noch mit Blindheit geschlagen sind. Im Falle von Volker Weidermann sind es die, die der deutschen Literatur der Nachkriegszeit – genauer: bestimmten ihr zuzurechnenden Autoren – nicht die gebührende Aufmerksamkeit zuteil werden ließen:
"Dieser Blindheit gegenüber der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit, gegenüber so großartigen Autoren wie W. G. Sebald, Gert Ledig, Hubert Fichte, Undine Gruenter und vielen, vielen anderen wollte ich begegnen, indem ich die Geschichte der deutschen Literatur als Lebensgeschichte ihrer Protagonisten [...] geschrieben habe." [14]
Auch was die grundsätzliche Abwertung der Theorie betrifft, macht Weidermann die Schriftsteller zu Verbündeten des enthusiastischen Kritikers: Der Erfolg der neuen deutschen Literatur habe sich erst eingestellt,
"[...] seit viele deutsche Autoren die Theorie des Erzählens nicht mehr als Selbstzweck und unter Ausschluß möglichst vieler Leser betreiben, sondern den theoretischen Hintergrund als selbstverständliche Basis ihrer neuen Erzählfreude betrachten". [15]
Weidermann versteht sich auch ausdrücklich als einer, der sich, anders als andere Autoren von Literaturgeschichten, den lebenden Schriftstellern stellt und ihre Kanonisierung wagt. Hierin erweist sich eine erstaunliche Verwandtschaft mit Walter Benjamin, oder vielmehr mit Benjamin in der Pose des schnoddrigen Aktivisten, der in Die Technik des Kritikers in dreizehn Thesen (1927) die Trennung zwischen Kritiker und Literarhistoriker postuliert hat: "Der Kritiker hat mit dem Deuter von vergangenen Kunstepochen nichts zu tun." Und: "Die Nachwelt vergißt oder rühmt. Nur der Kritiker richtet im Angesicht des Autors." Auch Benjamins natürlich politisch gemeinte Definition des Kritikers als eines "Stratege[n] im Literaturkampf" müßte Aktivisten vom Schlage Volker Weidermanns im Lichte eines Plädoyers für das Populäre gefallen, heißt es doch in einer weiteren These: "Wer nicht Partei ergreifen kann, der hat zu schweigen." [16] So verstanden wird die Kritik zum Schreibakt, zur Einmischung in das gesellschaftliche Leben. Ihr Ort ist eben nicht der Elfenbeinturm der Theorie.
Franz Schuh hat angesichts von Jörg Laus Liste der Kritiker-Typen gemeint, diese verdanke sich dem Umstand, daß Kritiker gezwungen seien, sich zu stilisieren (man könnte freilich auch überlegen, ob es nicht auf der anderen Seite einen Zwang zum Klassifizieren gibt). In ihrer Nutzlosigkeit würden die Kritiker Posen einnehmen, die ihre Intimität mit der Literatur vorführen sollen:
"Der sich in seiner Pose selbstbespiegelnde Kritiker will als jemand angesehen werden, dem das Publikum, das Buch, der Autor schon sehr am Herzen liegen, weshalb es auch mehr als recht ist, daß der Kritiker selber ‚vorkommt’." [17]
Die in der Debatte um Lichtjahre aufgestellte Behauptung, der Streit zwischen "Emphatikern" und "Gnostikern" stehe für einen Generationskonflikt, läßt sich leicht durch einen Hinweis auf Marcel Reich-Ranicki widerlegen. Er ist das erklärte Vorbild für Volker Weidermann in Sachen Leidenschaft – auch als Gegenpol zum üblicherweise abgewerteten "germanistischen Seminar" – , und er hat umgekehrt, naturgemäß in den höchsten Tönen, dessen Unternehmen gelobt, genauso wie auch Elke Heidenreich, Reich-Ranickis legitime Nachfolgerin in der literarischen Fernseh-Predigt. [18] Auch das ist wohl typisch für den Stand der Diskussion: Marcel Reich-Ranicki wird als Instanz, die den Lesern die Mühen des Verstehens abnimmt, indem sie sie mit fertigen Urteilen versorgt, [19] von den "fortschrittlichen Kräften" im Literaturbetrieb nicht mehr angegriffen, sondern akklamiert. Seinerzeit kam die Kritik sowohl von Seiten der Autoren, etwa von Franz Josef Czernin, als auch von Seiten der Germanistik. So hat noch 1989 Helmut Arntzen sich die Mühe gemacht, Marcel Reich-Ranicki wegen seiner unreflektierten, ja beliebigen Anwendung einander widersprechender Literaturauffassungen – Realismus und Parabel – zu attackieren und ihm eine triviale Sicht der Sprache als bloßes Instrument vorzuwerfen. [20]
Letztlich ist die Debatte um Lichtjahre insofern erhellend, als sie die Frage nach der Theorie in der Kritik, dort, wo es um den Wettstreit des Performativen mit dem Wort geht, als akademische enthüllt. Nach den Gesetzen der Fernsehästhetik muß der Wahrnehmungsvorsprung des Kritikers rasch wettgemacht sein. Was er sieht, soll den Zuschauern unmittelbar einleuchten: Sein Urteil muß augenfällig sein.
3. Fragmente einer Schule des Sehens
Die Vorstellung, Theorie und Reflexion stünden gleichsam zwischen dem Kunstwerk und dem authentischen Erlebnis, ja sie würden den Weg zu beidem versperren, ist ja nicht neu. In ihrem Buch Against Interpretation (1966) hat Susan Sontag den Drang der Interpreten attackiert, ein Kunstwerk gleichsam in seine Bedeutung zu übersetzen: "The interpreter says, Look, don't you see that X is really – or, really means – A? That Y is really B? That Z is really C?" [21] In Sontags Beschreibung ist der Interpret, der sein theoretisches Modell am Kunstwerk, am Text erprobt, Lehrer in einer Schule des Sehens. Es geht darum, die wahre Bedeutung, den wahren Inhalt oder besser: Gehalt zu erkennen. Sontags Theoriefeindschaft ist nicht naiv: "None of us can ever retrieve that innocence before all theory when art knew no need to justify itself, when one did not ask of a work of art what it said because one knew (or thought one knew) what it did."
Aber wenn man schon den "Zustand der Unschuld vor aller Theorie" nicht erreichen kann, dann kann man wenigstens die ursprüngliche Wirkung von Kunst simulieren. Sontag plädiert gegen die Deutungsmacht von Marxismus und Psychoanalyse und für eine unmittelbare, sinnliche Erfahrung der Welt. So hat sie auch das zitierte Dictum von Oscar Wilde als Motto gewählt. Wenn Sontag sagt, wir müßten lernen, "mehr zu sehen", nennt sie es in einem Atemzug mit "hören" und "fühlen", als einen der fünf Sinne. Interpretation sei die Rache des Intellekts an der Kunst, ja an der Welt, sie trage zu deren Verarmung bei, zur Erschöpfung im Duplikat. Als Hauptschuldige nennt Susan Sontag ausdrücklich die Literaturkritiker. So sei etwa das Werk Kafkas zum "Opfer einer Massenvergewaltigung" durch "drei Armeen" von Kritikern geworden, die es entweder politisch, psychoanalytisch oder religiös interpretiert hätten. [22]
Nun mag der Befund dem sehr ähneln, den vierzig Jahre später die "Emphatiker" der deutschen Literaturkritik erheben. Susan Sontags Schlachtruf: "Erotik der Kunst statt Hermeneutik!" müßte ganz nach Volker Weidermanns Geschmack sein. Die Therapie, die Sontag vorschlägt, ist aber eine andere: Sie will den Primat der Form gegenüber dem Inhalt. Sie will die ästhetische Analyse, die den Blick auch auf die Gattung und den Autor lenkt. Als beispielhaft nennt sie Walter Benjamins Aufsatz über Lesskow. [23]
Und Walter Benjamin, der linke "Stratege im Kulturkampf", hat seinerseits – gegen die von ihm selbst aufgestellten Thesen zur Technik der Kritik – das Kunstwerk als solches begeistert ernst- und gegen die Indienstnahme durch Ideologie in Schutz genommen:
"Für alle Kunstbetrachtung gilt die Maxime, daß eine Analyse, die nicht auf verborgene Beziehungen im Werk selbst stößt, mithin nicht im Werke selbst genau sehen lehrt und nicht nur an ihm – an ihrem eigentlichen Gegenstand vorbeigeht. Es kann auf alle Fälle eine Kritik nicht anerkannt werden, die sich an keinem Punkte mit der Wahrheit, die sich im Werk verbirgt, solidarisch macht." [24]
Über die ästhetische Autonomie des Kunstwerks, über die Wahrheit, die sich im Werk verbirgt, sind mittlerweile die Stürme des Dekonstruktivismus gefegt. Gerade Benjamin ist aber ein gutes Beispiel für die scheinbare Dichotomie zwischen Theorie, Intellekt auf der einen und Enthusiasmus, mystischer Sehergabe auf der anderen Seite. Benjamin hat ja das Kunstwerk vergangener Zeiten als verhüllt angesehen, als etwas, das sich offenbart, wenn in ihm plötzlich unsere Gegenwart sichtbar wird – als ein "Aufflammen der in den Kreis der Offenbarung eintretenden Hülle, als eine Verbrennung des Werkes, in welcher seine Form zum Höhepunkt ihrer Leuchtkraft kommt." Das ist sicher nicht die Sprache der grauen Theorie, das ist der Sprache der Dichtung. [25]
Diese Sprache der Emphase vernimmt man durchaus auch im Gefolge der Poststrukturalisten, nicht nur bei Derrida selbst, sondern auch bei einem Einzelgänger wie Maurice Blanchot, dem Prosaautor und Literaturkritiker, der zum Sichtbarmachen durch Sprache eine völlig gegensätzliche Position einnimmt, der zufolge sprechen "nicht sehen" ist und auch nicht sichtbar machen, weil "die Dinge" sich darin "nicht verbergen, nicht zeigen. Weder verschleiert noch entschleiert: das ist ihre Nicht-Wahrheit." [26] Hier maßt sich einer nicht mehr an, mehr sehen zu können als seine Leser – und sieht so, im Paradox, eben doch mehr.
Ich gebe zu, daß Blanchots radikale Vision eines Schreibens im Nichts und ins Nichts hinein, einer "Écriture blanche", die dem Autor die Auflösung im Sein verspricht und dem Leser keinerlei Erkenntnis, die in präzise Worte zu fassen wäre, daß sich derartiges nicht für das Tagesgeschäft der Literaturkritik empfiehlt. Aber es kann nicht schaden, wenn man dabei die zeitgenössischen Möglichkeiten, über Erkenntnis zu sprechen, zumindest im Auge behält.
So spreche ich hier aus einer Position der lauen Mitte, von der Friedrich Schlegel als Kritiker wenig hielt [27]: Ich habe nie an den Tod des Autors geglaubt, aber ich will auch keine Literaturkritik, die die Literatur in biographische Vignetten auflöst. Ich glaube, daß die Verankerung in der Theorie für die Kritik auch eine Selbstfesselung sein kann, und wünschte mir andererseits mehr produktiven Zweifel am eigenen Handwerk, mehr Skepsis gegen das Zupackende der Zunft. Und vielleicht mehr Sinn dafür, daß der Augenschein, im Sinn von Oscar Wilde, Geheimnis genug ist.
Daniela Strigl, 29.4.2011
d.strigl@univie.ac.at
Der vorliegende Beitrag ist zuerst erschienen in: Germanistik und Literaturkritik. Zwischenbericht zu einer wunderbaren Freundschaft. Hrsg. von Primus Heinz Kucher und Doris Moser. Wien: Praesens-Verl., 2007. (Stimulus. Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Germanistik 2006), S. 35–48
Anmerkungen:
[1] Zit. nach: Tilla Fuchs, Elise Clement: "Qu’est-ce que la critique?" Literaturkritik in Frankreich. In: Positionen der Literaturkritik. Hrsg. von Norbert Miller, Dieter Stolz. Sonderheft der Zeitschrift "Sprache im technischen Zeitalter". Köln 2002, S. 39-71, hier S. 60. Für einen Überblick vgl. auch: Literaturkritik: Geschichte – Theorie – Praxis. Hrsg. von Thomas Anz und Rainer Baasner. München 2004.
[2] Vgl. Richard Reichensperger (rire): Literaturkritik/Kulturkritik. Hrsg. von Claus Philipp und Christiane Zintzen. Wien, New York 2005.
[3] Vgl. Gerrit Bartels: Das Haltbarkeitsfeuilleton schlägt zurück: Ein Kultur- und Richtungsstreit in der Literaturkritik, ausgelöst durch Volker Weidermanns Buch "Lichtjahre". In: taz, 31.3.2006.
[4] Hubert Winkels: Emphatiker und Gnostiker. Über eine Spaltung im deutschen Literaturbetrieb – und wozu sie gut ist. In: Die Zeit, 30.3.2006.
[5] Vgl. Editorial. In: Positionen der Literaturkritik. Sonderheft der Zeitschrift "Sprache im technischen Zeitalter". Hrsg. von Norbert Miller, Dieter Stolz. Köln 2002, S. 7-10.
[6] Zit. in: Franz Schuh: Schreibkräfte. Über Literatur, Glück und Unglück. Köln 2000, S. 45 f.
[7] Vgl. ebenda.
[8] Winkels, Emphatiker und Gnostiker, (zit. Anm. 4).
[9] Vgl. Ulrich Greiner: Abglanz des Gelebten. Volker Weidermann betreibt Biografismus als Literaturgeschichte. In: Die Zeit, 30.3.2006.
[10] Ina Hartwig: Ich und der Dichter. Achtung, Achtung: Die Ganzkörperliteraturkritik übernimmt. In: Frankfurter Rundschau, 4.4.2006.
[11] Vgl. Volker Hage: Lichtjahre auseinander. In: Der Spiegel, 10.4.2006.
[12] Volker Weidermann: Lichtjahre. Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute. Köln 2005, S. 250, 259.
[13] Volker Weidermann: Das Lesen ist schön. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.4.2006.
[14] Ebenda.
[15] Ebenda.
[16] Walter Benjamin: Gesammelte Schriften in sieben Bänden. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1972 ff., Bd. IV/1, S. 108 f.
[17] Vgl. Schuh, Schreibkräfte, S. 47 (zit. Anm. 6).
[18] Vgl. Hage, Lichtjahre auseinander, (zit. Anm. 11).
[19] Vgl. Schuh, Schreibkräfte, S. 66f (zit. Anm. 6).
[20] Vgl. Helmut Arntzen: Literaturkritik? Annotierte Zitate aus einem Buch von Marcel Reich-Ranicki. In: Kunstgriffe. Auskünfte zur Reichweite von Literaturtheorie und Literaturkritik. Festschrift für Herbert Mainusch. Hrsg. von Ulrich Horstmann und Wolfgang Zach. Frankfurt am Main, Bern, New York, Paris 1989, S. 27-33. Sowie Franz Josef Czernin: Marcel Reich-Ranicki. Eine Kritik. Göttingen 1995.
[21] Susan Sontag: Against Interpretation.
[22] Vgl. Susan Sontag: Kunst und Antikunst. Aus dem Amerikanischen von Mark W. Rien. Reinbek bei Hamburg 1968, bes. S. 13 f., 17 f.
[23] Ebenda, S. 18. Vgl. Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows. In: ders.: Gesammelte Schriften in VII Bänden, Bd. II/2, S. 438-465 (zit. Anm. 16).
[24] Benjamin, Gesammelte Schriften in VII Bänden, Bd. VI, S. 178 (zit. Anm. 16).
[25] Benjamin, Gesammelte Schriften in VII Bänden, Bd. I, S. 211 (zit. Anm. 16).
[26] Maurice Blanchot: Das Unzerstörbare: Ein unendliches Gespräch über Sprache, Literatur und Existenz. Deutsch von Hans-Joachim Metzger und Bernd Wilczek. München, Wien 1991, S. 86, 89. Vgl. Auch: Clement Fuchs: "Qu’est-ce que la critique?", S. 39-71, bes. S. 51 ff. (zit. Anm. 1).
[27] Vgl. Bernhard Fetz: Von ästhetischen Kramläden zum Kartell der Langeweile. Friedrich Schlegels Bedeutung für die aktuelle Literaturkritik. In: Literaturkritik. Theorie und Praxis. Hrsg. Von Wendelin Schmidt-Dengler und Nicole Katja Streitler. Innsbruck, Wien 1999. (Schriftenreihe Literatur des Instituts für Österreichkunde 7), S. 41-55.