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„Ich hätte gern noch mehr Literaturkritik gemacht“

Ein Gespräch mit Peter von Matt über „Methodenheinis“ in der Germanistik, die Koryphäe Emil Staiger und den Kick, als Literaturwissenschaftler für Zeitungen zu schreiben.

Von 1976 bis 2002 wirkte Peter von Matt als Ordinarius für deutsche Literatur an der Universität Zürich. Wie kaum ein zweiter Vertreter seines Fachs steht er für eine Symbiose zwischen Fachpublikum und Öffentlichkeit, Literaturwissenschaft und Literaturkritik: Am Rande eines Tischgesprächs für die Tageszeitung Die Welt stellte sich Peter von Matt auch fachspezifischen Fragen. Unter anderem äußerte er sich zu

seiner Vorliebe für motivgeschichtliche Studien

Methodenschulen in der Germanistik

Emil Staiger

Dürrenmatt vs. Frisch und aktuellen Max-Frisch-Biografien

sowie seiner Affinität zur Literaturkritik

 

Herr von Matt, erst der Liebesverrat (1989). Dann Verkommene Söhne, missratene Töchter (1995), später die Intrige (2006). Wie kam es zu Ihrer Vorliebe für motivgeschichtliche Studien?

Peter von Matt: Ich habe gesehen, dass man Literaturgeschichte nicht mehr im herkömmlichen Sinn betreiben kann. Von Günther zum jungen Goethe, vom jungen zum späten Goethe, dann die Romantik, dann 19. Jahrhundert I, 19. Jahrhundert II, alle Autoren abhandeln und bei jedem sagen, ob er gut oder schlecht ist, das geht einfach nicht mehr. Literaturgeschichte läuft inzwischen auf so vielen Ebenen, da muss man Verlagsgeschichte machen, Mediengeschichte, Geschichte der Drucktechnik, Zeitung. Da kann man keine herkömmliche Literaturgeschichte, den großen Köpfen nach, erzählen und die „poetae minores“ womöglich an einem Nachmittag.

Was war Ihre Lösung?

Mein Empfinden war immer: Den Studenten fehlt die historische Dimension, und zwar die ganz große historische Dimension. Man muss nicht einfach ins frühe 18. Jahrhundert oder so, sondern soweit zurück wie möglich. Die ganze Bibel steckt in der deutschen Literatur. Und die ganze Antike steckt auch in der deutschen Literatur. Und das muss man dann eben vernetzen. Meine Lösung war nicht, einfach ein Motiv zu suchen nach dem Motto: Der erzählte Regenschirm von Homer bis Günter Grass. Mich faszinierten die konstanten Konflikte, nicht die sogenannten Motive.

Sie meinen die Konflikte, die literarisch über alle Zeiten hinweg produktiv sind?

Weil sie im Grunde biologisch bedingt sind. Es gibt ja im Menschenleben Konfliktphasen, die nicht zu vermeiden sind: Symbiose mit der Mutter, Lösung von der Mutter, der Beginn der Sexualität, die burschenschaftliche Abenteuerlichkeit beim Erwachsenwerden, der Beginn der Lebensrolle, das Werben und Suchen um die Frau, nach der richtigen Frau; die Auseinandersetzung mit dem Vater. Das alles sind Konflikte, die sich überlagern. Und wenn man einen solchen Konflikt nimmt und den in der Menschheitsgeschichte verfolgt, dann hat man ein dramatisches Muster. Damit ist die Voraussetzung zur Forschung gegeben: einerseits eine Konstante und andererseits deren epochenspezifische Verwirklichungen. Und das hat mich fasziniert. Mit der Zeit wurde das eine Art Hang, das so zu machen.

Gab es für diese Art von Literaturwissenschaft nicht auch Anfeindungen?

Es gab sicher solche, die gefunden haben, das sei gar nicht richtige Germanistik, was ich mache. Aber das hat mich schon bei der Literaturgeschichte des menschlichen Gesichts (1983) nicht weiter bekümmert, weil ich dachte: Jetzt kann ich endlich so schreiben wie es mir gefällt. Ich muss ja vor keiner Kommission mehr bestehen. Die Studenten fanden’s interessant, sind gekommen. Die Kollegen, die die Nase gerümpft haben, haben selber keine Bücher geschrieben. Ich wollte aber Bücher schreiben und gelesen werden und etwas für Literatur tun und das geschichtliche Bewusstsein.  Ich hab geschrieben aus der Leidenschaft zu den Texten heraus und zu den Urdramen der Menschheit. Diese kann man dann verfolgen bis in die einzelnen Wörter und Metaphern hinein.

Es gibt nur wenige Germanisten, die ihr Fach so konsequent anschaulich verstehen. Haben Sie sich aus der Theoriebildung und den Methodenschulen eigentlich bewusst herausgehalten?

Literaturwissenschaft  und Psychoanalyse (1972) war schon so meine methodische Phase, war auch wichtig, dass ich da von der Staiger-Schule wegkam und ein anderes methodisches Fundament hatte. Und dann hätte ich auch für den Rest meines Lebens der ‚Psychoanalyse-von-Matt’ bleiben können. Das hat mich am Anfang schon sehr fasziniert, Freud war für mich eine ganz, ganz wichtige Figur, auch in der Art wie er geschrieben, gedacht, die Dinge betrachtet hat. Ich hab dadurch auch im Umgang mit Texten anders lesen, anders beobachten gelernt... Aber ich wollte mit der Zeit von der Terminologie weg. Ich habe gemerkt, jede Terminologie wird nach fünf Jahren ranzig. Und dann stehst du da mit deinen schönen Büchern oder Aufsätzen, und wer sie aufschlägt, sagt: „Ach mein Gott, tönt ja grauenhaft…“.

Aber ohne Methodengerüst muss man doch gehörig Selbstbewusstsein für den eigenen Standpunkt haben. Allgemein klammert sich an den Hochschulen doch alles an der Terminologie fest.

Ohne methodische Schulung geht es nicht. Und eine Zeitlang muss man seine Methode auch ausstellen. Dann muss man die Theorie zurücknehmen um der produktiven Praxis willen. Die Theorie steckt dann in deren Folgerichtigkeit und in der Evidenz der Resultate. Man kann nicht in die Wissenschaft gehen als einer, der alle Methodenreflexion ablehnt nach dem Motto: Ich lese etwas und dann sag ich, was mir gefallen hat.

Das würde als unwissenschaftlich gelten.

Das wäre die Amateursebene. Man muss also einmal theoretisch durchtrainiert werden. Aber man kann nicht einfach alle fünf Jahre wieder das System ändern, sonst wird man irgendwo ein Hampelmann, der nur noch schaut: was ist im Moment angesagt? Wen muss man zitieren? Immer noch Adorno oder Adorno nicht mehr? Benjamin etwas weniger, dafür mehr Žižek? Oder möglichst viel Agamben? Das ist nicht Wissenschaft, sondern Folklore.

Das heißt Methoden bleiben irgendwo beliebig, austauschbar?

Es braucht schon methodisches Bewusstsein und Selbstkontrolle und Reflexion auf das, was man macht. Aber die Methoden sind auch eine Gefahr. Sie schützen vor der chaotischen Dimension der Literatur. Denn die Literatur hat eine subversive und chaotische Dimension. Und die radikalen Methodenheinis sind immer schon geschützt. Die sitzen wie in einem Panzer, fahren durch die literarische Landschaft und walzen nieder, was da kreucht und fleucht und wächst und sprießt, und ihnen kann nichts geschehen.Sie haben immer ihr Rüstzeug. Aber sie gehen eben auch immer die gleichen Wege. Sobald von irgendeinem amerikanischen Department so ein neuer Turn kommt, wird er an der Marquise von O. durchexerziert, immer die Marquise von O. von vorne bis hinten und wieder. Jedes Post-Movement wurde an der Marquise von O. durchgespielt, weil Kleist natürlich toll ist. Darüber besteht ja Konsens. Doch dabei ist auch der Kanon geschrumpft. Und ich wollte den Raum der Literatur immer erweitern, wollte Texte die man noch nicht gelesen hat. Statt des ewigen Taugenichts auch einmal die Meerfahrt von Eichendorff.

Ihre These wäre also: Die starke Aufmerksamkeit für Methoden vollzieht sich zulasten des literarischen Kanons?

Die methodisch exemplarischen Analysen sind großartig, wenn sie von den ganz großen Köpfen gemacht werden. Jakobson und Levi-Strauss über Baudelaire zum Beispiel, oder de Man über Rilke, Bachtin über den Roman… Aber wenn dann der Oberassistent von Freiburg und der Oberassistent von Tübingen zum fünfzigsten Mal Mörikes Lampe durchexerzieren, dann macht mir das einfach keine Freude mehr. Literatur ist für mich etwas so Vitales...

Und das wird durch zuviel Methodik erstickt?

Es ist ganz schwer, mit rigiden Methoden auf die Punkte zu kommen, um die es wirklich geht. Die Methode deckt oft gerade die Stellen zu, an denen die Literatur nicht aufgeht. Und eben dort, wo sie nicht aufgeht, ist Literatur am Spannendsten! Wo nicht alles sauber verläuft, sondern plötzlich ein Satz dasteht, der wie aus einer anderen Welt kommt! Da stößt man gelegentlich auf unglaubliche Dinge. Wenn ein relativ braver Autor plötzlich etwas sagt, das einem den Atem verschlägt, das vielleicht sogar quersteht zum ganzen Werk. Das ist der Punkt, wo’s passiert! Und das sieht man überhaupt nicht, wenn man immer nur nach einem bestimmten Schema, nach dem Rassen-, Frauen-, Kinder- oder Lesbendiskurs liest... Dann sieht man nur noch diese Diskurse. Die Methoden haben alle einmal etwas gekonnt und uns die Augen geöffnet. Aber wenn sie dann zum Generationenkult werden…

Apropos Kult, Kultfiguren. Als Ordinarius in Zürich waren Sie Nachfolger von Emil Staiger, der Ikone der so genannten werkimmanenten Methode.

Wobei das schon die Optik der 1968er ist, das als Methode zu bezeichnen... Staigers Ruhm bestand eigentlich darin, dass er alle offiziellen Methoden von früher abgelehnt und gesagt hat: Zuerst und zuletzt geht es um Literatur. Es geht um die Begegnung mit den Werken. Und da war konnte er schon wahnsinnig gut sein. Aber er war gleichzeitig von einem verbissenen, geradezu abstrusen Antimodernismus besessen, der hat ihm zuletzt auch das Genick gebrochen bei dieser unsäglichen Rede...

Sie spielen an auf die berühmt-berüchtigte Rede, die den „Zürcher Literaturstreit“ ausgelöst hat…

…und eigentlich viel Lärm um nichts war. Aber Staiger war fast religiös fixiert auf die deutsche Klassik. Danach ging es für ihn mit der Literatur nur noch bergab. Alles, was noch irgendwie untergründig mit der Klassik zusammenhing, das konnte er hinreißend vermitteln. Also auch noch Gottfried Keller,  C. F. Meyer, das konnte er unglaublich vergegenwärtigen…

Den Realismus des 19. Jahrhunderts mochte er also noch akzeptieren.

Und als allerletztes Hofmannsthal. Das war das letzte, was er noch gelten ließ. Doch danach war’s für ihn fertig. Es hatte für ihn eigentlich gar keinen Sinn, dass die Autoren  immer noch weiterschreiben wollten. Das führte ihn zum absurden Versuch, die ganze Gegenwartsliteratur zu entwerten, indem er sie als eine einzige „Schweinerei“ hinstellte.

Auf der Homepage der NZZ kann man Staigers Polemik übrigens nachhören.

Wenn Sie diese Rede hören – die kam ja beim Publikum wunderbar an. Da hat keiner Buhh gemacht. Staiger konnte triumphierend nach Hause gehen.

Erst Frischs Replik machte aus Staigers Polemik den Zürcher Literaturstreit.

Frisch, das ist das Lustige, schrieb keine „Schweinereien“ im Sinne Staigers. Er war ja eigentlich ein, man muss fast sagen: puritanischer Autor. Er hat nie eine Sprache für die Sexualität gefunden. Eine Sprache für die Liebe und die Beziehungskonflikte ja, aber nie eine Sprache für die Sexualität. Das Sexuelle blieb bei ihm in ganz subtilen Andeutungen. Und wenn er dann lesen musste, dass die ganze moderne Literatur eine einzige Schweinerei sei, dann musste er denken: Offenbar gehöre ich nicht einmal zur modernen Literatur. Wenn du keine Schweinereien schreibst, gehörst du nicht zur modernen Literatur. Und wenn du es tust, bist du ein widerlicher Kerl.

Frisch sah sich als Gegenwartsautor doppelt verunglimpft.

Ja. Und das hat er nicht ertragen. Und so kam es zur Polemik gegen Staiger. Sag doch, wen du meinst, forderte er, nenn endlich Namen. Staiger wurde nämlich nie konkret. Er hat nur in einem Fall durchblicken lassen, wen er meinte. Peter Weiss, weil er de Sade und den Auschwitz-Prozess auf die Bühne brachte.

Und warum hatte Staiger so ein Problem mit der Gegenwartsliteratur?

Die Zeit vor, mit und nach Goethe war seine Welt. Über Gegenwartsliteratur, hat er gesagt, kann man noch gar nicht reden, da gibt's keine Methode, kein Bezugssystem, das ist Literaturkritik. Staiger hat den Feuilletonchef der NZZ, Werner Weber, der ihm im Zürcher Literaturstreit die Stange gehalten hat, später aus Dank zum Professor gemacht. Und das vor der Fakultät wie folgt begründet: Die jungen Leute wollen Gegenwartsliteratur. Doch Gegenwartsliteratur kann man nicht wissenschaftlich erforschen; Gegenwartsliteratur ist Gegenstand der Literaturkritik. Also brauchen wir eine Professur für Literaturkritik, und für die kommt nur Werner Weber in Frage. Das Ironische war, dass Werner Weber von dem Zeitpunkt an, da er Professor war, keine einzige Literaturkritik mehr geschrieben hat. Er hat über Friedrich Schlegel gelehrt, über Fontane, gelegentlich auch über Gegenwartsliteratur. Aber er selber hat kein einziges Buch mehr besprochen.

Webers Berufung zeugt immerhin davon, dass Staiger für sich selbst erkannt hat, nicht mehr so richtig am Puls der Zeit zu sein.

Nur hat er das eben nicht sich, sondern der Zeit angekreidet. Es war für ihn ein Symptom für den miesen Zustand der Zeit. Und es hat ihn schwer getroffen, dass er von einem Sockel der absoluten Autorität heruntergedonnert ist.

War Staiger als Ordinarius nach dem Zürcher Literaturstreit eine „lame duck“?

Nicht nur. Es kam sehr auf die Studentenschaft an. Es war relativ grotesk. Die fortschrittlichen Studenten gingen alle zu Wolfgang Binder. Der war von Tübingen gekommen, ein Hölderlin-Forscher, sehr sympathischer Mensch und guter Germanist. Im Grunde sogar noch reaktionärer als Staiger, jedoch vorsichtiger. Staiger hatte immer etwas Naives, ist mit seinen Dingen reingeplatzt und hat nicht gemerkt, in welchem Glashaus er sitzt. Binder war da behutsamer. Und die beiden haben sich absolut verstanden, im Grundsätzlichen.

Zum 100. Geburtstag von Emil Staiger haben Sie in der NZZ geschrieben, dass seine Vorlesungen bis zu seiner Emeritierung ein Ereignis blieben, zumindest beim sprichwörtlichen Zürcher Pelzmantel-Publikum.

Bei den Studenten aber auch. Denn er war natürlich rhetorisch begabt. Wenn er bei seinen Themen war, über Mörike sprach oder über das Vorspiel der Goethezeit oder über Lessing oder über Schiller, dann war das einfach toll. Und auch die Linken sind dann immer mal wieder hingegangen, insofern war er nicht einfach ein verdorrter Baum.

Dieses Jahr wird der 100. Geburtstag von Max Frisch gefeiert. Wenn alle feiern, obliegt es der Kritik zu stören. Manfred Papst, der Kritiker der NZZ am Sonntag, meinte im Vorfeld des Jubiläums, sprachmächtiger und phantasievoller sei eigentlich doch Friedrich Dürrenmatt gewesen.  Ist Dürrenmatt womöglich der große Abwesende im Frisch-Gedenkjahr? Tatsächlich wurden Frisch und Dürrenmatt doch als die beiden Schweizer Dioskuren wahrgenommen.

Das ist in der Schweiz schon lange so, dass diejenigen, die etwas gegen Frisch haben, sagen: Dürrenmatt ist eigentlich der Richtige.

Aber der hat sich doch auch an der Schweiz gerieben.

Natürlich. Im (kritischen) Verhältnis zur Schweiz sind sie ja fast identisch. Dürrenmatt hat zum Teil viel böser über die Schweiz gesprochen, viel verächtlicher als Frisch, aber Frisch war präziser. Er hat die Dinge und die Leute mehr beim Namen genannt, Dürrenmatt hat immer eine ungeheure Konstruktion draus gemacht, eine Vision...

Er hat das eingebunden in größere Gedankengebäude und Grotesken…

Ja. Und das führte dazu, dass man Dürrenmatt eigentlich so als einen lustigen Kerl empfand. Frisch, der durchaus ein lustiger Kerl war, hat man zum Miesepeter stilisiert. Er war allerdings am Ende seines Lebens schwer gekränkt und erbittert über die jahrzehntelange Bespitzelung durch die politische Polizei...

Die Fichen-Affäre.

Ja. Das war ja wirklich ein unglaublicher Skandal. Eines seiner letzten Projekte war ja, seine Fichenakte zu kommentieren und so zu veröffentlichen, aber irgendwann ist ihm dann der Ekel über den Kopf gewachsen. Nur: Warum soll die Schweiz einen ihrer wirklich großen Namen, von denen sie auch als Land profitiert hat, heute nicht feiern? Wieso muss man jetzt kommen und sagen: Naja, der war ja eigentlich doch nicht ein so guter Schriftsteller. Dürrenmatt war besser...

Und beim Dürrenmatt-Jubiläum heißt es wahrscheinlich: Frisch war besser...

Es ist die absurdeste Form der Argumentation. Wie wenn man Tolstoi gegen Dostojewski ausspielt, Schiller gegen Goethe, Keller gegen Meyer. Wenn man schon zwei hat, soll man sich doch an zweien freuen und nicht sagen, ja aber der eine ist besser. In der Kunst gibt es einfach einen Grad, wo man nicht mehr gegeneinander abwägen kann. Ich kann auch nicht sagen: Ein Giacometti ist nichts im Vergleich mit einem Picasso. Das geht nicht.

Was sagen Sie zu den aktuellen Biografien von Volker Weidermann und Julian Schütt?

Ganz interessant ist es, diese Biografien vom Grundsätzlichen her zu studieren: Was kann eine Biografie, was kann sie nicht, was sollte sie können? Den Biografien selber fehlt diese Reflexionsebene ja meistens vollständig. Zum Beispiel die Frage, wie verhält sich die Biografie zur Wertung? Ist die Wertung etwas, das völlig außerhalb des Biografischen passiert? Oder dürfen biografische Aspekte in die Wertung mit einfließen? Darf ich ein Buch gut finden oder rühmen, weil es in der und der Weise gerade mit der Biografie verbunden war, oder widerspricht das der Wertung? Darf ein Biograf überhaupt die Werke werten?

Und da sind Schütt und Weidermann im Vergleich sehr interessant.

Das Attraktive an Weidermann ist das vollkommen unbekümmerte Herangehen an das Werk, das Zutrauen zu seiner eigenen Begeisterung. Und dort wo er begeistert ist, ist die Sache auch gut. Er hatte mich gebeten, das eine oder andere mit Blick auf sachliche Fragen anzuschauen, also zum Beispiel im Zusammenhang mit den faschistischen Bewegungen in der Schweiz um 1933/34. Da war ihm natürlich vieles nicht bekannt. Und da hab ich ihn auch auf einige Dinge hingewiesen. Aber ich hab ihm auch gesagt (lacht): Sie kommen mir vor wie ein Sheriff. Beim einen Werk ziehen Sie den Colt und „Bong“ ist es erschossen. Und dann kommt das nächste Werk, da lassen Sie ihn stecken und rufen: „Grandios“. Dann kommt wieder eines: „Bong. Absoluter Mist!“

Weidermann kennt kein Dazwischen.

Es gibt bei ihm nie die Überlegung, dass ein Werk jetzt vielleicht für die Bühne nicht tauglich ist, dafür aber wahnsinnig interessant von der Problemstellung her. Er hat einfach immer diese Kritikerhaltung: Das ist gut, und das ist nicht gut. So: Daumen hoch oder runter. Das ist natürlich sein Beruf.

Das ist sein Beruf, und Germanisten können diese Herangehensweise nicht immer leicht akzeptieren.

Ich war von der Frisch-Seite her sehr froh um dieses Buch, weil es etwas so Unverbrauchtes hat, dieses Unbekümmerte, indem es einfach sagt: Leute, das ist ein toller Autor, auch wenn er gelegentlich Mist baut. Und ich bin auch der Meinung, dass in der Literaturkritik selber, also in ihrer Praxis, die „Ja, aber“-Kritiken das Trostloseste sind. Man rühmt ein bisschen, und dann sagt man: „Ja, aber es ist schon auch so, dass der zweite Teil viel zu lang ist, es gibt Dehnungen drin usw.“

Sie plädieren gegen ewig abwägende Halb-Halb-Kritiken?

Man kann auch ausgewogen sein, indem man einfach sagt: „Das ist ein tolles Buch.“ Das hat Reich-Ranicki immer vertreten, und da hat er eben auch recht: Entweder ja oder nein. Von der Aufgabe der Literaturkritik her ist das besser. Lieber zu sehr rühmen oder zu sehr verreißen als dieses immer Lauwarme, von dem niemand etwas hat. Aber das ist jetzt ein eigener, schwieriger Punkt, wenn man das jetzt (theoretisch) beweisen müsste.

Weidermann ist frisch und munter im Beurteilen. Nun kann man sich natürlich fragen: Kann ich in einer Biografie wirklich alles wie ein Literaturkritiker mit ja oder nein beantworten? Zum Beispiel das frühe Frisch-Buch, das ich herausgegeben habe: Antwort aus der Stille. Das ist ja sehr verrissen worden, und auch Weidermann findet, dass es absoluter Ramsch ist.

Er schreibt (sinngemäß): Bei aller Liebe zu Peter von Matt und Anerkennung seines Urteils, aber: „Alles, was schön ist an den späten großen Büchern Frischs, alles, was später klar ist und zwingend und eindringlich und kühn, ist hier klein, süßlich, übertrieben, formlos, stark gefühlt und schwach gedacht. Ein klassisches Zu-Früh-Werk.“

(lacht): Ich versteh mich mit Weidermann gut, er ist mir so sympathisch. Das stört mich auch nicht. Aber (ernster) da wäre jetzt einfach grundsätzlich zu überlegen. Eine Biografie hat mehrere Aufgaben. Man kann diese Aussage, das sei einfach ein Mist, durchaus begründen aufgrund stilkritischer Überlegungen.  Da hat sich ein junger Autor an einen Epochensound angepasst, irgendwo zwischen Wiechert und Hesse. Das tönt heute tatsächlich verschmockt.  Aber. Es sind alle Themen von Frisch drin! Es gibt keinen frühen Text, der die Themen von Frisch, die bis zum letzten Tag seines Lebens seine Themen waren, in einer solchen Komprimiertheit und in seiner solchen Radikalität bereits formuliert.

Das gesteht aber auch Weidermann zu…

Er deutet es an...

Er sagt: Hier ist es zwar schon drin, aber später bekommt man es noch viel besser.

Eben, und das ist biografietheoretisch sehr interessant. Auch wenn es später besser ist: Ist es in einer Biografie denn nicht wichtig, dass es vorher schon da ist und wie es exponiert wird?

Noch einmal zurück zur Rolle des Literaturkritikers, über die wir vorhin gesprochen haben. Ihnen ist diese Rolle ja auch vertraut. Sie haben immer viel für Zeitungen geschrieben.

Ich habe denen immer gesagt, ich schreibe gern, aber ihr müsst mir Zeit lassen. Die haben das nicht immer verstanden und gedacht: Universität, die leben in einer anderen Welt, typisch, die brauchen gleich immer zwei Monate oder so... Dabei wissen die gar nicht, wie es an einer Uni so zugeht, mitten im Semester, mit all den Sitzungen, Kommissionen... Da war Reich-Ranicki anders. Als Profi hab ich den außerordentlich schätzen gelernt.

Er, der nie studiert hat, hatte Verständnis für Ihren Alltag als Universitätsprofessor?

Er hat gesagt: „Okay, wenn Sie das bis dahin nicht liefern können, dann besprechen Sie etwas anderes. Das können Sie dann liefern, wann Sie wollen.“ Reich-Ranicki hatte dann auch diese Serien angefangen („Romane von gestern – heute gelesen“) und mich gefragt: „Möchten Sie da mitmachen? Kommt nicht so sehr darauf an, wann, sondern dass...“ Ich hätte gerne noch mehr Literaturkritik gemacht.

Die Mehrzahl der Hochschulgermanisten macht sich ja überhaupt nie mit der „Journaille“ gemein …

Die können’s nicht! Denn Sie müssen ja was Kleines ebenso gut wie etwas Längeres schreiben können. Und je kürzer die Texte sind, desto schwieriger ist der Job. Aber das ist auch genau das, was mich zum Beispiel an Wörterleuchten (2009) fasziniert hat. Du hast ein kleines Gedicht, und du hast zwei Seiten. Das ist die Challenge.

Ganz ähnlich hat sich vor einiger Zeit Hans Ulrich Gumbrecht im Umblätterer geäußert. Worin liegt der Kick, auch mal für Zeitungen zu schreiben?

Du musst eben substanzielle Informationen geben und dich nicht mit Nebensächlichkeiten aufhalten. Und gegen alle Lehren der Postmoderne ist das Ich im Text dann  halt irgendwann mit dem Autor gleichgesetzt. Da muss man (als Literaturwissenschaftler) auch mal in Kauf nehmen, dass die Leute kommen und sagen: Hat der noch nie was vom lyrischen Ich gehört und vom „Tod des Autors“? Hat er schon, aber wenn die Droste sagt: Lebt wohl, dann kann man nicht sagen, das hat jetzt mit der Droste selber gar nichts zu tun. Das hat natürlich was mit der Droste zu tun.

Lesen Sie denn auch gern Kritiken, verfolgen Sie das aktuelle Feuilleton?

In den Zeitungen schon – vor allem, wenn ich von den Büchern mindestens schon gehört habe. Man kann nicht alles lesen. Und auch das 19. Jahrhundert bietet literaturkritisch Spannendes, etwa wenn man die zeitgenössische Rezeption von Kellers Sieben Legenden studiert. Was es damals für glänzende Kritiker gegeben hat! Der Ferdinand Kürnberger zum Beispiel: Was der über die Sieben Legenden schreibt, die ja von Fontane glatt verrissen wurden. Es seien sieben Tauben, denen Keller die Köpfe umgedreht habe, meinte Fontane. Und wie Kürnberger dagegen die Modernität dieser Texte erkannte und bekannte! Ich lese die heutige Kritik immer auch daraufhin, wie sie es macht.

Wenn das kein Schlussplädoyer für die Literaturkritikforschung ist. Herr von Matt, herzlichen Dank für das Gespräch!

 

Das Gespräch führte Marc Reichwein im Mai 2011
marc_reichwein@yahoo.de

Abbildung: © Annette Pohnert/Carl Hanser Verlag (2006)