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Jury-Entscheidungen

Anton Thuswaldner blickt auf die BachmannpreisträgerInnen der vergangenen Jahrzehnte zurück

 

Haben Sie sich schon öfter gewundert über literarische Auszeichnungen? Fragten Sie sich manchmal, warum gerade dieser Autor, diese Autorin mit dem Nobelpreis für Literatur bedacht wurde? Schüttelten Sie auch schon ratlos über den einen oder anderen Büchnerpreisträger den Kopf? Leuchtete Ihnen immer ein, warum ausgerechnet dieses eine Buch den Deutschen Buchpreis erhielt? Nein? Dann stehen Sie nicht allein. Denn dass Juroren immer dem qualitativ höchst stehenden Text einen Preis zukommen lassen, ist ein edles Gerücht. Das weiß jeder, der aus der Nähe beobachtet hat, wie Juryfindungen zustande kommen. Das Sittenbild der Juroren unterscheidet sich kaum von jenem der Schlosser, Mikrobiologen oder Büglerinnen.

Der quälende Endspurt um den Bachmannpreis, dem man Jahr für Jahr als Beobachter wahrnehmen darf, zeigt das. Ein paar Tage lang finden ernsthafte Diskussionen statt, alle durchaus nachvollziehbar und überprüfbar an Texten, die dem Publikum vom ORF zur Verfügung gestellt werden. Wenn ein Juror danebenliegt, wenn er bloß polemisiert und nichts zur Sache beizutragen weiß, dann wird er sofort entlarvt. Schnell wird aus einem Volker Hage ein Holger Vage. In der Folge hat er es schwer, weiter ernst genommen zu werden. Die Gespräche über Literatur sind durchaus spannend, dreht es sich doch nie um einen einzelnen Text allein, sondern ein ästhetisches Konzept wird verhandelt. Ein Weltbild, eine Ideologie, ein Bewusstsein, eine Gefühlslage, ein Standpunkt, eine Sicht auf die Wirklichkeit werden stets mitdiskutiert, wenn es um den konkreten Fall eines literarischen Stückes von einer halben Stunde Lesezeit geht. Und dann kommt der Tag der Entscheidung. Juroren geben sich feierlich, sind festlich gewandet und strahlen, weil sie ihrer Bedeutung sicher sind. Honoratioren gratulieren, Sponsoren lassen sich hofieren, Autoren und Autorinnen hoffen. Eine Stimmung aus einerseits erhabener Größe und andererseits ironischem Selbstverständnis, dass doch alles nur ein Spiel, ein immerhin äußerst wichtiges Glasperlenspiel ist, greift um sich. Mit einem Schlag aber versteht der neutrale Beobachter gar nichts mehr. Die Juroren verkünden in klugen, gewandten Sätzen, wem sie die Preise zukommen lassen wollen, und man bekommt den Eindruck, dass sie alles, was sie Tage zuvor an Argumenten für und gegen Texte vorgebracht haben, vergessen haben. Das ist auch tatsächlich so. Am Ende geht es nicht mehr um Qualität, sondern um Macht. Jeder Juror lädt nämlich zwei Kandidaten ein. Er steht lieber wider besseren Wissens zu ihnen, als dass er mit der Wahl eines Autors, einer Autorin eines Kollegen diesem Recht geben würde. Und so kommen am Ende abenteuerliche, fragwürdige, gar unverständliche Entscheidungen zustande.

Die Veranstaltung um den Ingeborg Bachmannpreis ist ein Spießrutenlauf gleichermaßen wie eine Verheißung. Es gibt Jahre, in denen sich Juroren auf Kosten von Literaten zu profilieren trachten und andere, in denen es um die Sache, die Literatur und ihren Zugriff auf unsere Welt, geht. Neben vorsichtig abwägenden Kritikern und scharfsinnigen Tüftlern trifft man auf eitle Tröpfe und Kleindarsteller. Ganz gleich, wie die Jury auch immer zusammengesetzt sein mag und wie die einzelnen Mitglieder miteinander harmonieren, am Ende wird ein neuer Held der Literatur ausgerufen, aber die meisten bleiben auf der Strecke. So ist das. Der Literaturbetrieb spielt Kapitalismus, und der kennt keinen Spaß. Der Sieger bekommt alles: Geld, einen Namen und die Aufmerksamkeit der Medien. Die Literatur des Preisträgers ist maßgebend und verbindliche Vorgabe für das Schreiben, das sich auf der Höhe der Zeit befindet. Wie also sehen im zeitlichen Abstand die fachkundigen Entscheidungen aus?

Im Sommer 1989, wenige Monate bevor die DDR zusammenkrachte, wurde Wolfgang Hilbig mit dem Bachmannpreis ausgezeichnet. Vier Jahre zuvor hatte er mit einem Fünfjahresvisum die DDR verlassen, die Beschwernisse eines Lebens in Fesseln hatte er in den Westen mitgenommen. Das machte seine Prosa zu einem Dokument aus der Hölle einer abgestürzten Existenz, sprachintensiv und von insistierender Düsternis. Noch heute überfallen Hilbigs Texte den Leser mit ungeheurer Wucht. Auf den ersten Blick ist zu vermuten, dass in den achtziger Jahren ein DDR-Bonus wirksam war. Zwischen 1986 und 1989 rissen Literaten mit DDR-Vergangenheit den Bachmann-Preis an sich. Sie alle hatten etwas zu sagen, es brannte ihnen unter den Nägeln, sodass ihre Literatur existentiell grundiert war. Wie Hilbig zählen auch Angela Krauß (Bachmannpreis 1988) und Katja Lange-Müller (1986) zu festen Größen. Bei Krauß ist es das Prinzip Sehnsucht, das ihr Schreiben antreibt, bei Lange-Müller eine Erinnerungsversunkenheit. Aber vermag noch jemand etwas mit dem Namen Uwe Saeger anzufangen (1987)? „Irgendwie ist Schreiben ein Abarbeiten von Schmerzen“, schrieb er einmal. Das ist so ungenau formuliert, dass es irgendwie nicht verwundert, dass der Autor mit diesem Anspruch zwar kurzfristig Juroren beglücken konnte, doch heute aus dem Blickfeld verschwunden ist. Uwe Saeger war ein Autor für eine bestimmte Zeit, die inzwischen abgelaufen ist.

Keine Frage, die Tage der deutschsprachigen Literatur waren für Entdeckungen gut. Zwischen 1997 und 2001 herrschte wahre Goldgräberstimmung. Die Preisträger von damals waren nahezu unbekannte Größen, sie alle arbeiten inzwischen Buch um Buch an einem Werk, das noch lange nicht abgeschlossen ist. Norbert Niemann (1997), Sibylle Lewitscharoff (1998), Terézia Mora (1999), Georg Klein (2000), Michael Lentz (2001) – diese Namen stehen für Höchstleistungen deutscher Gegenwartsliteratur ein. Wer weiß, ob sie ihren Weg so zielstrebig gemacht hätten, wenn ihnen nicht die Starthilfe des Bachmannpreises zuteil geworden wäre. Dabei handelt es sich um Glücksfälle, denn es hätte alles ganz anders kommen können. Das zeigen die eklatanten Fehlgriffe.

Birgit Vanderbeke trat 1990 so frisch und forsch auf, war ein bisschen witzig und ein bisschen böse, alles sehr gemäßigt, sodass sie die Jury für sich einnahm. Sie fühlte sich bestätigt, und so schreibt sie fortan Prosa, die aus Versatzstücken gefertigt ist. Oder man sehe sich das traurige Beispiel der Alissa Walser (1992) an. Ihr jüngster Roman Am Anfang war die Nacht Musik beginnt so: „An diesem Wintermorgen geht der bekannteste Arzt der Stadt, verfolgt von seinem Hund, die Treppe vom Schlaftrakt zu seinen Praxisräumen hinab.“ Wenn Ihnen der Satz bekannt vorkommt, haben Sie recht. Er ist eine geringfügige Variation des Anfangssatzes von Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt. So wie Kehlmann möchte Walser auch schreiben, so viel zur Identität einer Autorin, die einen historischen Roman schreibt so einfühlsam, als wäre sie Zeugin der Ereignisse.

Nun gut, schlechte Bücher sind keine Tragödie, aber es geht noch schlimmer. Der Bachmannpreis kann eine wahre Plage sein, wenn man sich den Fall Franzobel anschaut. Er ist gewiss der meist überschätzte Schriftsteller unserer Zeit. Er ist flott und dynamisch, ein Adabei des Literaturbetriebs. Er schreibt Kasperliaden mit dem Anspruch, politisch zu sein. Aber kann man politische Literatur schreiben, ohne zu denken? Der Fall Arigona Zogaj hat es Franzobel angetan. Aber was macht er daraus! „Sie war eine moderne Anne Frank. Nur Tagebuch schrieb sie keines“, so führt er sie ein. Zu Österreich fällt ihm ein: „Fährt man mit der Bahn, muss man sich auf dem Bahnsteig in die Raucherzone stellen. Wie ein Käfig ist das. Und hat man keinen Pass, ist man rechtlos wie ein Jude im Dritten Reich.“ Wir haben es nicht nur mit einem Fall von miserablem Stil zu tun, sondern auch einem von ausgesprochener Dummheit.

Bei Franzobel hat der Bachmannpreis den Drang gestärkt, eine Person des öffentlichen Interesses zu werden. Er publiziert in rasender Folge seine Arbeiten. Andere haben sich nach dieser Auszeichnung ins Schweigen zurückgezogen. Im Jahr 2002 bekam Peter Glaser den Preis für eine Erzählung, im nächsten Jahr erschien diese zusammen mit anderen im Band Geschichte von Nichts. Jetzt lebt er als Blogger im virtuellen Netz. Oder Inka Parei: 2003 erlas sie sich den Preis, zwei Jahre später erschien der Roman Was Dunkelheit war. Seither ist es dunkel geworden um diese Autorin. Wem es im Jahr 2006 übertrieben erschien, dass Kathrin Passig den Bachmannpreis bekam, der muss sich heute bestätigt fühlen. Mit Literatur hat ihr Schreiben nichts im Sinn. Sie arbeitet gern im Team an kuriosen Büchern mit Titeln wie Verirren. Eine Anleitung für Anfänger und Fortgeschrittene oder Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin.

Eine Jury kommt manchmal einer Ansammlung seltsamer, exotischer Vögel gleich. Nicht jeder Vogel interessiert sich für Literatur. Einmal, als es einen Preis zu vergeben gab, der die Karriere eines jungen Menschen zu beflügeln vermag, fiel auf, dass sich einer auf den Roman einer Autorin versteifte, der guten Gewissens nie und nimmer hätte in Betracht gezogen werden dürfen. Als die Entscheidung gefallen war und man beim Essen noch einmal auf die zur Wahl gestandenen Autorinnen und Autoren zu sprechen kam, schwärmte dieser eine Juror von der unglaublichen Schönheit der jungen Dame, die er zu seinem Leidwesen nicht durchbringen hatte können. Schon einmal war mir dieser so leicht erotisierbare Juror merkwürdig aufgefallen. Im Radio rezensierte er das Konzert der Popsängerin Shakira. Rezensierte? Er schwärmte, er glühte, er loderte vor Begeisterung, nein, nicht wegen der doch recht durchschnittlichen Musik, sondern wegen des Hüftschwungs. Und wenn er einmal groß ist, wird er als Juror in einer Misswahl sitzen.

Erstaunlich eigentlich, dass sich doch immer wieder Bücher und deren Verfasser durchsetzen, die unverwechselbar, einzigartig und wichtig sind.

Anton Thuswaldner, 12.06.2011
anton.thuswaldner@aon.at