Alles nur „bäh!!!!“?
Von Sternen und Daumen in der Laienkritik. Von Veronika Schuchter
Freundlich formuliert ist er kein Profi, weniger freundlich formuliert ist er schlichtweg ahnungslos. Er steuert auf Amazon die 841ste „Joanne K. Rowling ist besser als Kafka“-Lobpreisung bei, während er Tranströmer, Haderlap und andere Ausgezeichnete, mit spärlichen fünf Rezensionen vor sich hin dümpelnde AutorInnen, verächtlich links liegen lässt: Die Rede ist vom Laienkritiker.
Er ist der Schrecken des etablierten Feuilletons und der Held der geknechteten Massen, die endlich auch überall ihren Senf dazugeben, Pardon, einen Diskursbeitrag leisten wollen. Seine Rezensionen bereiten dem geplagten professionellen Leser durch ihren abwechslungsreichen und kreativen Umgang mit Orthografie und Syntax sehr viel Freude. Dass der Begriff „Rezension“ im Bereich der Laienkritik sehr weit gefasst wird, zeigt die Tatsache, dass neben Büchern auch Spüllappen und andere Utensilien ‚rezensiert’ werden können. (Der Toilettensitz „Tiger 2520 WC-Sitz“ bringt es mit stolzen 39 „Kundenrezensionen“ auf mehr als so manches Buch). So weit, so polemisch, ein wahrer Kern steckt allerdings drin.
Harry Potter und der Halbblutprinz, der vorletzte Band der Erfolgsreihe von Joanne K. Rowling, bewog seit Erscheinen der deutschsprachigen Ausgabe 2007 gezählte 574 Kunden dazu, auf der Verkaufsseite des Online-Riesen Amazon eine Rezension zu verfassen. 359 davon bewerteten den Roman mit der Bestnote von fünf Sternen. Herta Müllers Atemschaukel, ebenfalls 2007 erschienen, bringt es im gleichen Zeitraum auf ganze 18 Besprechungen, während Charlotte Roches Schoßgebete in nur drei Monaten 243 Rezensenten an die Computertastatur lockte (Feuchtgebiete schafft mittlerweile über 1800), größtenteils um ihrer Empörung Luft zu machen (Stand der Erhebung: 15.11.2011). Was einen Leser dazu veranlasst, zu 573 Buchbesprechungen noch eine 574ste hinzuzufügen, lässt sich nur vermuten. Weder scheint es sehr plausibel, dass er oder sie meinte, eine noch völlig unbedacht gebliebene Information von exzeptioneller Bedeutsamkeit für andere potenzielle Leser geben zu müssen, noch ist anzunehmen, dass hier tatsächlich adressatenzentriert gearbeitet wird.
Nun ist es zugegeben einfach, stümperhafte, von Fehlern nur so strotzende und inhaltlich naive Kritiken zusammenzutragen und sich auf Kosten der Laienkritiker zu amüsieren. Außer Frage steht auch, dass sie en gros qualitativ deutlich vom Feuilleton abweichen und die Maßstäbe, die an professionelle Kritik angelegt werden, nicht erfüllen können, auch wenn Amazon durchaus sehr genaue Vorgaben zur Gestaltung von Kritiken gibt, wie die Aufforderung, „stets konstruktiv und sachlich“ zu bleiben, sich auf das Produkt zu konzentrieren und „eine gepflegte Wortwahl und Ausdrucksweise“ zu verwenden, ein-Wort-Bewertungen hingegen nach Möglichkeit zu vermeiden. Abgesehen davon, dass eine dichotome Wertung nach dem gut/schlecht Schema sich von vornherein selbst disqualifiziert, ist Qualität nicht der einzige Maßstab, der von Interesse sein sollte. Die Frage ist also, was können Laienkritiken leisten, was professionelle Kritiken nicht können? Und zweitens: Was treibt Laienkritiker an?
Identifikation und Abgrenzung
"Fast wird man wehmütig, wenn man nach all den Jahren nun also die letzte Seite zu Ende liest und das Buch schließlich zuklappt. Es ist – pathetisch ausgedrückt – die Wehmut der letzten Seite, die es wohl nur bei wirklich großen, bei wahrhaft epischen Werken gibt." (M. Kolbenschlag, Stand: 15.11.2011).
Diese wahrhaft pathetische Rezension von Harry Potter ist ein paradigmatisches Beispiel für identifikatorisch geprägte Laienkritiken.[1] Die Kritik wird zu einer Prolongierung des Leseerlebnisses, sie zögert die Trennung vom geliebten Text hinaus und ist nicht an den Leser gerichtet, sondern in erster Linie egozentrischer Natur. Die traditionellen Funktionen von Literaturkritik wie Information, Orientierung und Wertung treten bedingt durch die schier unüberschaubare Flut in den Hintergrund. Wie das nächste Beispiel zeigt, sind Kundenrezensionen nicht nur von mangelnder Distanz zum besprochenen Text durchdrungen, was bei einer nicht professionellen Kritik ja nicht verwerflich ist, sie sind zudem in vielen Fällen komplexe Kommunikationsakte, die unterschiedliche Funktionen erfüllen:
"Jeder kann Harry Potter lesen und das Phänomen erfahren, wenn sie / er bereit ist, zu lesen, zu erleben, dass diese Geschichten etwas tun, was man nicht erwartet. Nämlich uns auf einer Ebene zu erreichen, die wir vorher aus Büchern nicht gekannt haben. Es ist wahr, dass Mrs. Rowling nicht zu den Literaturprofessoren dieser Welt gehört, Sie schreibt nicht wie Kafka. Wozu auch, wenn man solches Talent hat? Geschichten wachsen zu lassen ist eine Gabe, die nur wenigen von uns gegeben ist und hier haben wir es mit der vielleicht talentiertesten Person dieser Art zu tun. Nun ist das Abenteuer vorbei. Was bleibt, ist das Wissen, das es nicht weitergeht, das eine Frau Wort gehalten hat, als sie begann, eines der grössten Werke der Literatur zu schaffen, wenn es auch nicht so geschrieben ist, dass nur die wenigsten ihm folgen können. Was bleibt ist, dass die Gefahren überstanden sind, obwohl man selbst die ganzen Jahre über im Sessel sass oder auf dem Sofa lag, während einem nichts passieren konnte und es irgendwie sogar bedauert. Es bleibt der Kloss im Hals, dass Freunde gegangen sind, von denen man nur wieder hört, wenn man ins Bücherregal greift und von vorne zu lesen beginnt." (Alf „Hundesammler“: Harry Potters Hinterlassenschaft. Stand: 16.11.2011)
Auch in dieser Kritik schwingt mehr mit als nur die eigene Meinung zu einem literarischen Text. Zum einen wird die immense Identifikation mit dem Text und seinen Figuren hervorgehoben, zum anderen wird hier die Schrankenlosigkeit des Mediums genützt, um der institutionalisierten Kritik eins auszuwischen: Die Autorin Rowling wird in Opposition zur scheinbar abgehobenen Literatur wie jener von Kafka gebracht, analog dazu stilisiert sich der Rezensent zum Oppositionellen des professionalisierten Kulturbetriebs. Mit Erfolg: 74 von 82 Kunden fanden die Besprechung hilfreich, weshalb diese von Amazon an oberster Stelle von allen gereiht wird, die fehlerhafte Syntax und Orthografie scheinen demnach weiter nicht zu stören. Das Misstrauen gegen Feuilleton und Literaturwissenschaft scheint ein typisches Merkmal von Laienkritiken zu sein:
"Harry Potter als Idee, als Reihe, ist sicher ein literatischer Meilenstein (auch wenn jetzt manche aufschreien werden, die unter Literatur alles verstehen, was entweder von Goethe und Schiller stammt oder bei Suhrkamp veröffentlicht wurde)." (A.G.A.: Vielleicht ein anderes Ende als einst vorgesehen. Stand: 16.11.2011)
Reflektiert wird hier nicht, was die professionelle Literaturkritik tatsächlich über Harry Potter geschrieben hat, wurde dieser doch durchwegs positiv und auch differenziert besprochen. Die beiden zitierten Laienkritiker verteidigen vielmehr den eigenen Geschmack gegen ihre Vorstellung von einem elitären, herablassenden Zirkel, der phantastische, identifikatorisch geprägte Texte von vornherein verurteile, womit sie bei Weitem nicht alleine sind.
Der angemessenere Ort für solche ‚Besprechungen‘, im wahrsten Sinne des Wortes, wären wohl Fan-Foren. Die Besprechung inhaltlicher Details, wie sie in Kundenrezensionen gebräuchlich sind, können kaum als sachdienlicher Hinweis aufgefasst werden, der die Qualität des Buches beschreibt und die Kaufentscheidung erleichtert. Wirkungsbezogene Argumente übertreffen die Zahl der objektbezogenen deutlich. Laienkritiken dieser Art sind Akte der Selbstversicherung: Der Rezensent fügt sich mit seinem Text in eine Gemeinschaft ein, die er vom hierarchischen Literaturbetrieb, wie er ihn sich vorstellt, abgegrenzt wissen will. Kafka, Goethe und Schiller dienen als Chiffre für die Höhenkammliteratur, welche ‚die anderen‘ lesen, die „Literaturprofessoren“. „Es ist wahr, dass Mrs. Rowling nicht zu den Literaturprofessoren dieser Welt gehört“, heißt es da, gerade so, als hätte das Feuilleton oder die Wissenschaft ihr daraus einen Vorwurf gemacht (abgesehen davon verfügt Ms. Rowling über ein abgeschlossenes Studium). Bücher, die nicht die Erwartung einer identifikatorischen Lektüre erfüllen, werden als „leeres, auf Intellektualität zielendes Abrakadabra“ abgetan, in diesem Fall Felicitas Hoppes Johanna, ohne dass tatsächlich auf den Text eingegangen wird.
Auch wenn immer wieder durchaus ernst zu nehmende Besprechungen auftauchen, wäre es daher insgesamt wünschenswert, auf Verkaufsplattformen vom Begriff ‚Rezension‘ Abstand zu nehmen.
Territorialverteidigung
Auf der anderen Seite steht dem Aufbegehren der Laienkritik die vehemente Revierverteidigung des Feuilletons gegenüber. Dabei geht es nicht um die Laienkritik an sich, den Nutzen für die Literatur oder den Schaden, den sie davon trägt, es geht nicht einmal um die Qualität von Rezensionen oder darum, Wertungskriterien zur Diskussion zu stellen und einen gewissen Standard einzufordern. Vielmehr geht es – zugespitzt formuliert – darum, die eigene Haut zu retten. So wie viele Laienrezensenten den Literaturbetrieb undifferenziert als feindlich betrachten, so wird in den Printmedien die Laienkritik über einen Kamm geschoren und als Speerspitze gegen den Online-Journalismus instrumentalisiert, gerade so, als könne Literaturkritik im Netz gar nichts anderes als Laienkritik sein. Dahinter steckt die nachvollziehbare Angst, Diskursmacht einzubüßen und an der Front gegen das wuchernde Ungeheuer Internet weiter an Boden zu verlieren. Ein tatsächlicher Relevanzverlust der arrivierten Kritik kann ganz sicher nicht der Laienkritik angelastet werden. Dabei wäre es sinnvoller, sich der eigenen Stärken zu besinnen, die nicht darin bestehen, keine Kaufempfehlungen zu geben oder nur dem eigenen Geschmack zu huldigen, sondern die Textsorte Rezension als eigene Kunstform etabliert zu haben, die über einen Selbstwert verfügt, den sie auch online weiter vertreten kann.
Selbstdarstellung und Beliebigkeit
Mitunter kommt die Laienkritik recht professionell daher und versucht sich der arrivierten Kritik anzunähern oder sie gar zu imitieren:
"Der Friedhof in Prag ist sowohl Fabulierkunst auf langatmigem Niveau als auch eine Warnung vor vereinfachenden Parolen, politischer Verhetzung und Verführung durch Desinformation. Doch der Leser wird sich nicht des Eindrucks erwehren können, dass er all das schon einmal gehört oder gelesen hat. Umberto Eco hat einen Roman verfasst, der eher wie eine Kompilation von bereits Vorhandenem und längst Bekanntem wirkt, denn als originelle literarische Produktion. Diesmal benötigt der Leser viel Geduld mit dem Autor."(Kreisel, Michael: Buchkritik - Umberto Eco - Der Friedhof in Prag. In: InKulturA-online. Stand: 15.11.2011)
Geduld mit dem Autor scheint indes auch für den Leser der Kritik angebracht, denn was er für Ecos Roman konstatiert, liest sich wie eine Montage geläufiger Kritikerfloskeln. Eigene Blogs, wie der hier zitierte InKulturA online, sind qualitativ meist besser als der durchschnittliche Beitrag auf Verkaufsplattformen, sie sind allerdings auch noch stärker auf den Kritiker selbst bezogen. Die auf der Seite angeführten Bewertungskriterien suggerieren Objektivität, doch Kategorien wie „Zeitverschwendung“, „Durchschnittsware“ und „Hier stimmt alles: Inhalt, Form und Darstellung“ sind Luftblasen, wenn die angelegten Parameter im Dunkeln bleiben. Auswahl und Bewertung orientieren sich nur am Geschmack des Rezensenten, so dass über Literatur wenig, über den Autor indes viel ausgesagt wird. Getroffene Wertungen werden meist nicht begründet und bleiben stark oberflächlich. Der Mehrwert gegenüber dem Feuilleton ergibt sich aus der Kommentarfunktion und dem Forum, also aus dem kommunikativen Potential des Mediums Internet, nicht aber aus Spezifika der Laienkritik, die, je länger man danach sucht, immer schwieriger zu bestimmen sind. Insgesamt lässt sich ein Hang zu Subjektivität und identifikatorischer Lektüre feststellen, objektivierbare Kriterien lassen sich daraus aber nicht ableiten.
Meinungspluralismus und Glaubwürdigkeit
Die gängige Praxis von Nicknames im Internet bringt nicht nur den Nutzen mit sich, dass man durch die Anonymität geschützt seine Meinung kund tun kann, auch wenn diese kontrovers ist; sie birgt auch die Gefahr, dass dieser Schutz als Deckmantel missbraucht wird, zum einen von Trollen, die (so scheint es zumindest) an der Laienkritik kaum Interesse zeigen, zum anderen von Professionellen, die sich als Laienkritiker ausgeben, um ihre Produkte positiv zu bewerten oder von anderen positiv bewerten zu lassen. Auf zahlreichen Seiten im Internet wird auf gefälschte Kundenrezensionen auf Online-Verkaufsportalen hingewiesen. Dabei wird nicht nur das eigene Produkt gelobt, sondern es werden Konkurrenzprodukte gezielt in Misskredit gebracht. Dass Schriftsteller Selbstrezensionen verfassen, soll ja schon früher vorgekommen sein, aber wohl nicht in so großem Stil wie heute.[2]
Die Problematik der Laienkritik, so wird immer deutlicher, ist nicht eine Problematik der Kritik, sondern eine des Mediums an sich. Das Netz kann Demokratisierung und Meinungspluralismus sichern, Anonymität, leichte Zugänglichkeit und fehlende Selektion führen gleichzeitig zu einem Verlust an Glaubwürdigkeit. Diese Faktoren haben ganz sicher Einfluss auf Vieles, was im Internet publiziert wird, so auch auf die Laienkritik. Dass Laienkritik auf das Internet beschränkt ist, bedeutet zunächst jedoch nur, dass dieser Form außerhalb des Netzes kein Platz eingeräumt wird, was man gut oder schlecht finden kann, der Unterschied zur professionellen Kritik kann aber ganz sicher nicht über die Form der Publikation beschrieben werden. Wenn Laienkritik mit Literaturkritik im Internet gleichgesetzt wird und ihr so die Bürde des gesamten Netzes auf die Schultern gehievt wird, so entspringt dies meist einer reservierten Haltung zum Medium selbst, was nur deutlich macht, dass eine stärkere Differenzierung von Nöten ist.
Was Laienkritik gegenüber der professionellen Kritik zu leisten imstande ist, wird nur zum Teil genutzt und stellt keine Analogie zur Divergenz von Print und Netz dar, auf die so gerne insistiert wird. Das Internet wird nicht als sinnvolle Ergänzung und Erweiterung betrachtet, sondern als Gegenöffentlichkeit zum Feuilleton in Stellung gebracht. Anstatt Nischen zu besetzen und die Aufmerksamkeit auf kleine, spezielle Publikationen zu lenken, die im Feuilleton keinen Platz finden, werden die gleichen Bücher besprochen. Diese Defizite der Print-Literaturkritik zu nützen ist indes nicht die Aufgabe der Laienkritik, sondern der gesamten Literaturkritik. Ein positives Beispiel ist die Plattform webcritics. Die Qualität der Kritiken divergiert, Mainstream und Nischenprodukte halten sich die Waage, zudem sind keine Nicknames erlaubt. Der Leser hat den Mehrwert, dass er gezielt nach einem bestimmten Genre suchen kann und auch kleinere Verlage und Trivialliteratur zum Zug kommen. Der Science-Fiction-Leser ist hier etwa deutlich besser bedient. Der Begriff des Laien verkehrt sich ins Gegenteil, gerade der Laie kann sich auf einem bestimmten Gebiet als Experte hervortun. Dass sein Schreibstil oft amateurhaft bleibt, tut dem positiven Effekt keinen Abbruch. Deutlich wird auch, dass das Medium Internet nicht nur Autodidakten eine Publikationsmöglichkeit bietet, sondern dass in einigen Fällen gar nicht mehr zwischen professionellen und Laienkritikern unterschieden werden kann, denn auf vielen Plattformen sind auch GermanistInnen und andere einschlägig Erfahrene am Werk, die sich von arrivierten Kritikern nur darin unterscheiden, dass sie keinen ökonomischen Nutzen daraus ziehen, was man wiederum als Qualitätskriterium sehen könnte. Der wichtigste Mehrwert von Laienkritiken ist eben ihre Glaubwürdigkeit, die sich daraus ergibt, dass die Liebe zur Literatur als wichtigster Antrieb vorausgesetzt werden kann.
Fazit
Es bleibt festzuhalten, dass es die Laienkritik nicht gibt. Was unter dem Begriff subsumiert wird, ist mindestens genauso divergent wie die Bandbreite an professioneller und institutionalisierter Kritik. Es gibt Kundenrezensionen, Blogs, Fanseiten und Plattformen, einsame Wölfe und Teamplayer, Anonymität und Signatur, Gate Keeper und Schrankenlosigkeit. Will man all diese Bereiche doch in Beziehung setzen, so lässt sich sagen, dass die Laienkritik trotz allem, was man gegen sie einwenden kann, die Diskussion belebt und deutlich kommunikativer angelegt ist als die etablierte Kritik.
Der Begriff des Laienkritikers steht von vornherein auf wackeligen Beinen, zumal KritikerIn kein Lehrberuf ist. Wie soll man bestimmen, wer ein Laie ist, wenn nicht mal klar ist, was einen Profi ausmacht? Niemand käme auf die Idee, Reich-Ranicki als Laienkritiker zu bezeichnen, dabei ist ausgerechnet das Gesicht der Literaturkritik in der öffentlichen Wahrnehmung ein Autodidakt und damit strenggenommen ein Laie. Stattdessen sollte die Aufmerksamkeit weniger dem Verfasser als den Funktionen von Kritiken gelten und die sind sowohl bei professionellen als auch bei laienhaften Rezensionen durchwegs heterogen und bedürfen einer gesonderten Untersuchung. Wichtiger wäre es also zu fragen, welche unterschiedlichen Bedürfnisse haben die LeserInnen von Kritiken und wo können sie diese am besten befriedigen?
Nichtsdestotrotz bergen bestimmte Mechanismen die Gefahr, undifferenzierter Meinungsbildung und mutwilliger Meinungsäußerung Vorschub zu leisten, was weder den besprochenen/bewerteten Texten noch den Adressaten etwas bringt. Nicht der Laie ist der Feind des etablierten Kritikers, Undifferenziertheit ist der Feind der Kritik. Diese Form des Meinungspluralismus verflacht so zusehends zum Einheitsbrei und führt insgesamt zu einer Verflachung des Diskurses. Wenn zu jedem Bild, Buch, Beitrag oder was sich sonst im Netz alles so bewerten lässt, ein nach oben oder unten gerichteter Daumen dazu einlädt, sich als ‚Kritiker‘ zu betätigen, kann die etablierte Kritik nur gewinnen, denn ernst nimmt das niemand mehr. Auch hierbei geht es nicht um die Laienkritik selbst, sondern um den inflationären Gebrauch von Begriffen wie Kritik und Rezension und um Instrumente, die suggerieren, man könne in Sekundenschnelle ein Urteil fällen, ohne sich wirklich mit dem Gegenstand beschäftigt zu haben. Nicht jede Meinungsäußerung verdient sich gleich das Prädikat Kritik.
Indes finden sich in der Laienkritik viele Perlen, die beim Lesen Spaß machen und auch schlechte Besprechungen können sehr hilfreich sein. Manchmal sagt „bäh!!!“ mehr aus, als der Artikel eines professionellen Kritikers.
Veronika Schuchter, 12.03.2012
[1] Zu Kundenrezensionen rund um Harry Potter vgl. Stefanie Heinen: Kampf um Aufmerksamkeit. Die deutschsprachige Literaturkritik zu Joanne K. Rowlings „Harry Potter“-Reihe und Martin Walser „Tod eines Kritikers“. Berlin: LIT Verlag, 2007. (Literatur – Kultur – Medien, Bd. 8).
[2] Vgl. Thomas Anz; Rainer Baasner [Hrsg.]: Literaturkritik. Geschichte, Theorie, Praxis. München: Beck, 2007, S. 190. Im Jahr 2004 veröffentliche Amazon unbeabsichtigt eine Liste mit Rezensentennamen, auf der sich auffällig viele Schriftsteller tummelten.