Der Maschinengermanist in der Streuobstwiese
Ich trug im Sommer 2013 ein sperriges Tablett mit Kaffee und Kuchen vor mir her, als mir ein älterer, noch unbekannter Herr in der Caféteria des Schiller-Nationalmuseums in Marbach freundlich die Tür zur Terrasse aufhielt. Mit Blick auf das Neckartal und schwäbische Streuobstwiesen kamen wir für die nächste Stunde spontan ins Gespräch – über Anthologien. Für Hans Braam war die Anthologie die Streuobstwiese unter den literarischen Gattungen. Ihre Leistung für die Kulturlandschaft werde notorisch unterschätzt, befand er. Wer sich jemals intensiver mit dem Wesen der Anthologie oder Chrestomathie beschäftigt hat, mag ihm Recht geben. Die überzeitlich-kanonische Funktion dieser literarischen Großgattung hat niemand so empirisch fundiert untersucht wie Hans Braam.
Als Kenner und Liebhaber von Lyrik-Anthologien war Braam weit über Marbach hinaus ein Begriff. Regelmäßig quartierte sich der pensionierte Berufschullehrer sommers im Collegienhaus des Deutschen Literaturarchivs ein, um die in den Beständen des DLA vorhandenen Gedicht-Anthologien auszuzählen und auszuwerten. Rund 60.000 Gedichte von 6.000 Autoren in 600 Gedichtsammlungen waren es am Ende, notierte der mit Hans Braam vertraute Lutz Hagestedt in seinem Nachruf für die Rheinische Post, die auch in Kleve erscheint, wo Braam herstammte und wo er bis zu seinem Tod am 20. Januar 2017 seinen Lebensmittelpunkt hatte.
Als Hagestedt mir auf Nachfrage offenbarte, wie er und Braam zueinander kamen, wurde mir klar, dass es dieses Braamsche Momentum der Erstbegegnung gab: „Hans Braam lernte ich am 6.9.2009 zufällig im Marbacher Collegienhaus kennen. Ich hatte gerade gefrühstückt, als er mich im Treppenhaus ansprach und mich ins Gespräch zog – anderthalb Stunden stand ich dort mit der Butterdose in der Hand (was er aber gar nicht zu bemerken schien). Meinen Namen kannte er, da er meine Anthologie bei Patmos (Die Lieblingsgedichte der Deutschen) eingearbeitet hatte.“
Sein Werdegang
Zur Lyrik, überhaupt zur Literatur, kam der 1939 geborene Braam keineswegs selbstverständlich. „Eigentlich sollte ich, einziges Kind meiner Eltern, die Schreinerei meines Vaters übernehmen“, verriet er mir, als wir uns schon eine Weile kannten. Nach der Zimmerei-Lehre noch ein Studium? Das war Luxus – wenn überhaupt, kam nur eines mit Bau und Holz in Frage. Und so studierte Braam, der zunächst das Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg nachholen musste, ab 1963 Gewerbelehramt Bau/Holz und Deutsch in Köln und Aachen. Nach dem Studium erarbeitete er Lehrpläne für den Zweiten Bildungsweg für das NRW-Kultusministerium und wurde zwischenzeitlich Assistent für Neuere Literaturgeschichte an der RWTH Aachen.
„Die Aachener“, erzählte Braam, „wurden damals Maschinengermanisten genannt, hauptsächlich, weil es ein Seminar für elektronische Datenverarbeitung gab. Die Reihe der Indices zur Deutschen Literatur, deren Hauptinitator Helmut Schanze war, erschien in mehreren Bänden.“ Während die Maschinengermanisten von heute sich in Organisationen wie DARIAH vernetzen, boten Leute wie Helmut Schanze oder Manfred Kammer Seminare zu Datenbanken mit Volltextrecherche an. Sie veröffentlichten eine UTB-Einführung in die Textverarbeitung und machten ihre Studenten „mit den DOS-Programmen der Mormonen vertraut“, so Braam. Namentlich einem Randell Jones von der Brigham-Young-University in Salt Lake City haben wir es demnach zu verdanken, dass der Zimmerer aus Kleve, der ab 1978 als Berufsschullehrer tätig war, in seiner Freizeit damit begann, eine Datenbank zu deutschen Gedichten in Anthologien zurechtzuzimmern.
Braams Gedichte-Datenbank
Diese seit 1987 betriebene Statistik wurde sein Lebenswerk, von dessen Existenz der Rest der Welt im Jahr 2004 erfuhr. Damals erschien bei Kröner – mit einem Vorwort von Helmut Schanze – die Sammlung Die berühmtesten deutschen Gedichte. Basis dieser Metaanthologie ist Braams Auswertung von 200 Lyrikanthologien, beginnend mit Christian Weises Curiöse[n] Gedancken von Deutschen Versen (1693), endend mit Robert Gernhardts Anthologie Hell und schnell. 555 komische Gedichte aus fünf Jahrhunderten (2004). Wer in dem Kröner-Bändchen bis ans Ende blättert, landet abschließend bei der „Rangfolge der Berühmtesten Gedichte nach Abdruckhäufigkeit“. Matthias Claudius führt (mit „Der Mond ist aufgegangen“) vor Goethe („Wer reitet so spät…“) und noch dreimal Goethe. Auf Platz 6 folgt immerhin Klopstock („Willkommen, o silberner Mond“). Dieses Chartsystem der deutschen Lyrik, ermittelt durch Hans Braam, lässt sich auch für unterschiedliche Epochenzeiträume generieren und ist insofern ein aussagekräftiger Kanonanzeiger.
Braam registrierte, sortierte und dokumentierte Gedichte anhand ihres Vorkommens in einschlägigen Gedichtsammlungen. Er hat damit eine wichtige, wenn nicht gar die wichtigste Kanonisierungsinstanz für den Rang von Lyrik ausgewertet. Mit seinem quantifizierenden Tun löste Braam bei klassischen Literaturwissenschaftlern manchmal Befremden aus, teilweise wurde er wohl auch belächelt: „Herausgeber von Anthologien, hatte ich den Eindruck, standen für ihre Tätigkeit eher nicht so in hohem wissenschaftlichen Ansehen, und ich meine manche verwunderte Blicke bemerkt zu haben, dass sich die Gedichte auf den oberen Rängen befanden, die man auch selbst als die wichtigsten und besten angesehen hatte.“
Erst in dem Maße, in dem heute niemand mehr auf Informatiker herabschaut, weil sie unseren digitalen Alltag programmieren, hat sich auch das Standing der Maschinengermanisten in den Geisteswissenschaften gewandelt. Es ist, besser gesagt, noch mitten im Wandel begriffen.
Empirische Literaturwissenschaft, also jene Fachrichtung, die unter dem gleichnamigen Rubrum Eingang in den Fachlexika gefunden hat, wurde als abstrakt-programmatische Disziplin forschungspraktisch nur wenig produktiv – auch wegen ihres terminologischen Apparates. Braams Datenbank zum Vorkommen von Gedichten in Lyrik-Anthologien wiederum praktizierte eine echte Form empirischer Literaturwissenschaft, drohte aber ohne jede Anbindung an Institute und Curricula marginalisiert zu bleiben.
Vor diesem Hintergrund kann die Zusammenarbeit von Hans Braam und Lutz Hagestedt gar nicht überschätzt werden. Erst ihre in Koautorschaft entstandenen Aufsätze[1] lassen den rezeptionsgeschichtlichen und literatursoziologischen Wert von Braams Datenbank so richtig evident werden. In ihrem zuletzt erschienen Beitrag für German Life and Letters schreiben Braam und Hagestedt:
„Herausgeber von Anthologien sind Literaturvermittler und -verhinderer in einer Person. […] In der Herausgabe […] manifestieren sich nicht nur literarische Freund- und Seilschaften, sondern es bilden sich – darüber hinaus – auch Konkurrenzen ab […]. Wer ist vertreten, wer nicht; wem gebührt – zahlenmäßig und repräsentativ – der erste Rang, und wem der letzte? Das Literatursystem setzt ja auf Selbstverwaltung, Selbstkritik, Selbstdisziplinierung und Selbsterfindung – mit dem Ziel, der Vereinzelung zu entkommen.“[2]
Praktisch angewandte Kanonforschung
Braams Lyrikdatenbank ist eine Metadatenbank. Und sie ist ein Stück praktischer Kanonforschung, weil sie Fragen des Literarischen Feldes (Hierarchisierung, Positionierung, Degradierung) für Gedichtsammlungen exemplifiziert: „Die spezifische Existenzform von Lyrik im Rahmen einer poetischen Blumenlese eröffnet ihr einen hohen Stellenwert im literarischen Kommunikationsprozess, und die Anthologie lässt uns die Frage nach dem Gebrauchs- und Wiedergebrauchswert der Lyrik anders beantworten, als wenn sie, die Lyrik, bloß und ausschließlich im Rahmen des Autor- Œuvres verbliebe […].“[3]
Die schiere Existenz eines Gedichts in einer Gedichtsammlung repräsentiert, mit Pierre Bourdieu gesprochen, also einen Akt der Konsekration. In diachroner oder synchroner Hinsicht (man kann Anthologien sowohl über größere Zeiträume und/oder als Konkurrenzunternehmungen in ein- und derselben Epoche betrachten) ergibt sich, eingepflegt in eine Datenbank, das statistische Moment des Belegs. „Sobald aber der Aspekt der Zählbarkeit von Gedichten auftritt, wird auch der Rang eines Dichters im literarischen Feld messbar“, schreiben Braam und Hagestedt, und spezifieren: „Die Zahlenspalten dokumentieren für jeden Autor dessen konjunkturellen Verlauf.“[4]
Auf Nachfrage lobt Hagestedt, der mit Hans Braam zusammenarbeitete, die Leistungsfähigkeit von dessen Lyrikdatenbank und ihre Aussagekraft als Quelle. Braam habe statistisch belegen können, „wo sich Paradigmenwechsel vollziehen (etwa im Übergang vom vaterländischen zum ästhetizistischen Platen, angeregt etwa durch Thomas Manns Tod in Venedig). Gemeinsam verfassten wir dann einen kleinen Claudius-Essay, dessen Ergebnisse ihn selbst überraschten. Die Demonstration der Methode gelang vielleicht am besten beim Else-Lasker-Schüler-Aufsatz.“
„Braam“, so Hagestedt weiter, „demonstrierte und erzählte viel: Vom ‚Nazi-Loch‘ in der Heine-Rezeption, der Kanonisierung von Rückerts Amaryllis durch Borchardts Anthologie Ewiger Vorrat, deren Verstärkung durch Koeppen (in der Frankfurter Anthologie) und durch Enzensbergers Parodie (‚Amara, du nix gut‘) im Wasserzeichen der Poesie; er demonstrierte mir, wie das Thema Liebe allmählich in die Schulanthologien einzog (vorher verpönt) und zeigte mir die hochkanonisierten Autoren im Vergleich.“
Zuletzt befeuerte Braam 2016 die Schweinfurter Orientalismus-Tagung Weltpoesie allein ist Weltversöhnung, zu der Ralf Georg Czapla aus Anlass des 150. Todestages von Friedrich Rückert eingeladen hatte. Er munitionierte das Symposium mit aktuellen Rückert-Befunden, hatte er doch gerade erst den sechsten Band (Sinngedichte) von Johann Heinrich Füßlis Allgemeine[r] Blumenlese der Deutschen (1788) in seine Datenbank eingearbeitet und konnte zeigen, dass sich unter den circa 4000 Zwei- bis Sechszeilern, die Füßli verzeichnet, viele Rückert-Belege finden, die seit dem 19. Jahrhundert in unsere Lesebücher hineingewirkt haben.
Das Erbe
Ein heuristisches Problem, das Datenbanken stärker betrifft als alle Zettelkastensysteme: Außer für denjenigen, der sie programmiert hat, können sie hermetisch bleiben. Das wusste auch Hans Braam, der eigenen Aussagen zufolge schon auf dem Germanistentag in Augsburg (1991) begann, „Kontoauszüge“ seiner Datenbank bereitzustellen. Sprich: Ausdrucke seiner Daten, aus denen die Häufigkeit bestimmter Gedichte und/oder Autoren ablesbar war. Und nicht nur das: Geübte Leser seiner Kontoauszüge konnten auch vielfältige Vergleiche von mehreren Autoren und Gedichten herstellen, nicht zuletzt im Wandel der Zeit.
Das Braam-Prinzip des Kontoauszugs zu konkret angefragten Autoren, Gedichten oder Volltext-Stichwörtern erinnert strukturell an das Auskunftei-Wesen, von dem Anton Tantner in seiner viel beachteten Studie Die ersten Suchmaschinen handelt. Zwar mag Braams Datenbank digital organisiert gewesen sein; insofern sie praktisch nur von einer einzigen Person – ihm selbst – bedient wurde, verwies ihre usability aber zwangsläufig zurück in die vordigitale Ära der Auskunftei.
Braams Datenbank konnte viel, doch sie konnte es den nicht mit ihr Vertrauten nicht so leicht zeigen: „Für jedes der Gedichte ist mittels einer Reflex-Programmfunktion die Zeit der Nachweise in Bereiche aufteilbar. Man beschränkt sich bei Betrachtung der Autoren und Gedichte also nicht auf einen Wert, sondern kann ablesen, wie sich Gedichte über mehrere Jahrzehnte oder Jahrhunderte im Vergleich mit anderen in Anthologien präsentieren“, erklärte Braam. In seinen Worten klang das stets eingängig, doch auf ungeübte Leser mochten die endlosen, mehrspaltigen Zahlenkolonnen seiner Kontoauszüge ein bisschen so anmuten wie die FAZ an dem Tag, als Frank Schirrmacher seitenlang das menschliche Genom im Feuilleton abdruckte.
Braam wusste, dass bei der Visualisierung seiner Daten Luft nach oben war. Optische Konzepte, wie sie die heutige Digitalavantgarde mit ihren Showcase-Postern praktiziert, hätten ihm gewiss imponiert, wenngleich ihn seine eigene Lebenserfahrung Skepsis lehrte: „Ein Versuch, bei den RWTH-Windkanal- und -strömungstechnikern, Intensitäten zu visualisieren, hat damals nicht weiter geführt“, beschied mir Braam einmal auf Nachfrage.
Indes war er sich sehr wohl bewusst, dass seine Datenbank ihn nur dann überlebt, wenn sie auch für Dritte verwendbar würde. Nach einer nicht nachhaltigen Kooperation mit der Uni Freiburg starteten im Jahr 2014 Gespräche für eine Integration in die Datenbanken des Deutschen Literaturarchivs in Marbach. Mittlerweile wird die auf DOS basierende Datenbank von Braam dort als Braams Gedichtedatenbank dokumentiert und zurzeit in eine zeitgemäße, online benutzbare Version überführt.
Textmassen nicht lesend bewältigen, sondern sie mit Informatikhilfe auslesen, um Datensätze und im Idealfall auch neue Formate wissenschaftlichen Outputs zu erzeugen – das steht als Distant Reading derzeit hoch im Kurs. Braam praktizierte diese Methode bereits, bevor Franco Moretti sie zu einem weltweit gehypten Turn der Literaturwissenschaft machte. Braam gehörte zur Generation der Maschinengermanisten, deren Forschung man künfig unbedingt zu den Pionierleistungen der digital humanities zählen sollte.
Marc Reichwein, 15.05.2017
Hinweis: Alle nicht anders nachgewiesenen Zitate stammen aus persönlichen Korrespondenzen von Hans Braam und Lutz Hagestedt mit dem Verfasser. Die Abbildung zeigt Hans Braam 2014 im Marbacher Collegienhaus (Photo: Marc Reichwein).
Anmerkungen:
[1] Vgl. Braam, Hans/Hagestedt, Lutz: „Und mehr, als Ein Zerrissen Lied/Entströmte seiner Brust!“. Aspekte der Chamisso-Rezeption in Moderne und Gegenwart. In: Rovagnati, Gabriella (Hg.): Philologia sanat. Studien für Hans-Albrecht Koch zum 70. Geburtstag. Frankfurt am Main etc.: Peter Lang 2016, S. 257-286; Braam, Hans/Hagestedt, Lutz: Die Rückkehr der „Verscheuchten“. Die Kanonisierung von Else Lasker-Schüler in deutschen Lyrikanthologien. In: Was tun Sie da in … Wien? 10. Almanach der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft. Hrsg. von Hajo Jahn. Wuppertal: Hammer 2013. S. 365–411; Braam, Hans/Hagestedt, Lutz: Vater im Haus der Dichtung. Matthias Claudius in deutschsprachigen Anthologien. In: Claudius-Gesellschaft: Jahresschriften der Claudius-Gesellschaft. Band 18 (2009), S. 32-41.
[2] Braam, Hans/Hagestedt, Lutz: Lyrische Wunderkammern der ‚Sattelzeit’: Gedichtsammlungen als Instrument bürgerlicher Kanonstiftung. In: German Life and Letters 70-1 (January 2017), S. 79-99, hier 96.
[3] Ebd., S. 82.
[4] Ebd., S. 84 f.