Die Neunte Kunst
Es wäre wohl eine große Genugtuung für Francis Lacassin. 2016 installierte die Universität Lancaster die erste Professur für grafische Fiktion und Comic-Kunst. Nach Jahrzehnten der Abwertung und Bekämpfung scheint der Comic, den Lacassin schon 1971 in seinem Essay Pour un neuvième art: La bande dessinée[1] als neunte Kunst ausgerufen hatte, damit endgültig im Bildungskanon angekommen. Im deutschsprachigen Raum wird die Akademisierung federführend von der Comfor, der Gesellschaft für Comicforschung, vorangetrieben. Auch die Literaturkritik nimmt sich vermehrt der neunten Kunst an – dabei war sie einst ihr größter Feind.
Von „Schmutz und Schund“ zu Spiegelmans Maus
Comics haben eine historisch mehr als ungünstige Ausgangsposition, erst mit dem Siegeszug der Popliteratur, mit dem eine Aufwertung der U-Kultur und vorher als trivial abgetaner Genres einhergeht, wird auch der Comic salonfähig. Bis dahin war es ein langer Weg.[2] Dem regelrechten Feldzug in den 1950ern gegen „Schmutz und Schund“, der in erster Linie pädagogisch-moralischer Natur war und die Jugend vor sittlichen Gefährdungen schützen sollte, was unter anderem zur Gründung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften führte,[3] folgte eine Phase der vorsichtigen Annäherung. Die Auffassung, Comics seien minderwertige, hauptsächlich von Kindern und Jugendlichen bzw. ungebildeten Schichten konsumierte Massenware, hielt sich indes hartnäckig. Kritik beschränkte sich auf eine dogmatische Verurteilung der Gattung. Während populäre Comicreihen wie Hergés Tim und Struppi oder Goscinnys und Uderzos Asterix Kultstatus errangen und durchaus lobende Erwähnung im Feuilleton fanden, während auch Superheldencomics wie Superman wahrgenommen und auf ihre gesellschaftspolitische Relevanz abgeklopft wurden, weigerte sich die Kritik standhaft, Comics als adäquaten Gegenstand einer literarischen und ästhetischen Wertung zu betrachten. Etwas leichter hatten es Comics, die eine Nähe zur Karikatur aufwiesen, etwa jene Gerhard Seyfrieds.
Eine Zäsur in der Einordnung und Bewertung von Comics stellt Art Spiegelmans Maus – Die Geschichte eines Überlebenden dar (im Original erschien der erste Band 1980, auf Deutsch 1989), der erste Comic, dem im Feuilleton breite Aufmerksamkeit zuteilwurde und der, ebenfalls eine Premiere für ein Comicbuch, 1992 mit einem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde. Maus widersetzte sich allen Vorurteilen, denen die bis dahin vor allem mit flattrigen Superheldenheftchen assoziierten Comics ausgesetzt waren und ebnete der Gattung den Weg ins literarische Feld: „Erstmals in ihrer Geschichte kam selbst die altehrwürdige ‚New York Times‘ nicht umhin, auf einer ganzen Seite ihrer ‚Book Review‘-Beilage einen Comic zu rezensieren.“[4] Schon 1981 schreibt Wolfram Knorr in der Weltwoche:
Bildergeschichten müssen nicht immer nur komisch und trivial sein; sie müssen ihr Zielpublikum nicht immer nur bei den Jugendlichen suchen, die zu faul zum Lesen sind. Comics können auch anspruchsvoll sein und sich intelligent mit ernsten Themen befassen. Art Spiegelman tut es. In letzter Zeit hat sich die Comic-strip-Kultur auf dem deutschsprachigen Markt, ignoriert oder unbemerkt vom gehobenen Kulturbetrieb, erstaunlich entfaltet. Comics für Erwachsene, die bisher nur in Frankreich, Italien oder den USA zu Hause waren, beginnen sich hier zu etablieren.[5]
Auch das deutschsprachige Feuilleton würdigte erstmals einen Comic mit umfangreichen Besprechungen, u. a. in der FAZ, der Zeit und der NZZ.
Von einer regelmäßigen Comic-Kritik war man aber noch weit entfernt. Das Zeit Magazin startete 1992 eine Reihe, in der eine neue Generation von Comic-Zeichnern vorgestellt wurde, als Zeichen dafür, dass der Comic, „einst als trivial verschrien, […] längst zum Klassiker geworden“[6] war. Auch andere Zeitungen begannen, Comics mehr Platz einzuräumen, sowohl für den Abdruck von Primärtexten als auch in Form regelmäßiger Sonderseiten und eigener Rubriken. Von einer nennenswerten, regelmäßigen Comic-Kritik, die nicht nur fallweise Einzeltexte würdigt, kann man aber erst nach 2000 sprechen. Eine Vorreiterrolle nahm dabei ausgerechnet die konservative FAZ ein, die 2001 damit begann, deutschsprachige Comicserien abzudrucken, was das Prestige des Comics deutlich zu steigern vermochte und Comicautoren wie Nicolas Mahler, Volker Reiche oder auch Reinhard Kleist zu Bekanntheit verhalf. Mittlerweile stagniert der Aufstieg des Comics im Feuilleton indes oder erfährt sogar einen kleinen Rückschritt, so wurde die Reihe in der FAZ aus Kostengründen 2014 eingestellt und auch andere Zeitungen haben ihre Fixplätze für Comics zum Teil wieder gestrichen. Ein Blick in die Bestände des Innsbrucker Zeitungsarchivs (IZA) soll klären, wie es um die neunte Kunst im Feuilleton momentan bestellt ist.
Und jetzt?
Das Innsbrucker Zeitungsarchiv verzeichnet zwischen 2001 und 2015 rund 1500 Besprechungen zu Comics, dazu kommen noch etwa 1100 Artikel allgemein zum Thema.[7] Die Zahl der in diesem Zeitraum tatsächlich erschienenen Artikel ist etwas höher anzusetzen, da in den ersten Jahren am IZA noch nicht konsequent alle Comic-Rezensionen archiviert wurden, was die Unsicherheit über die Zugehörigkeit zum literarischen Feld spiegelt. Davon kann mittlerweile keine Rede mehr sein. Im Untersuchungszeitraum zeigen sich deutliche Tendenzen: Zum einen lässt sich eine schrittweise Annäherung an das literarische Feld konstatieren, das in der Anerkennung der Graphic Novel als literarischer Gattung mündet. Außerdem wird der Gattung immer mehr Platz eingeräumt und es findet eine Verschiebung von legitimierenden Hintergrundberichten hin zur Kritik von Einzelwerken statt. Entscheidende Fragen sind, wo Comic-Kritik im Feuilleton angesiedelt ist, welche Selektionskriterien angewendet werden und welche Wertungskriterien zum Einsatz kommen.
Wo?
Von der einstigen Verweigerungshaltung ist nichts mehr zu spüren – je aktueller, umso breiter aufgestellt ist die Comic-Kritik. Im Untersuchungszeitraum sind Rezensionen aus 29 verschiedenen Periodika erfasst, wobei manche Zeitungen und Zeitschriften deutlich comicaffiner sind als andere, so gibt es zum Beispiel in der Welt, im Tagesspiegel oder im Schweizer Bund eigene, regelmäßig bestückte Comic-Rubriken. Auch die österreichische Presse, die Süddeutsche Zeitung und die Stuttgarter Zeitung zeigen reges Interesse, in anderen, vor allem kleineren regionalen Zeitungen hingegen sind Comicbesprechungen eher die Ausnahme. Die Spezifika der Gattung stellen die Kritik nicht nur vor Herausforderungen, sie werfen zuallererst die Frage nach der Zuständigkeit auf. Lacassin etwa siedelt den Comic ganz selbstverständlich bei den bildenden Künsten an. Will man die Zugehörigkeit von Comics zum literarischen Feld anhand der feuilletonistischen Rezeption bestimmen, so ist die Antwort eindeutig. Comicbesprechungen sind, sofern sie nicht eine eigene Rubrik füllen, auf den Literaturseiten der Feuilletons platziert. Auch die verantwortlichen RedakteurInnen und KritikerInnen sind meist vorwiegend literaturkritisch tätig. Damit teilen Comics das Schicksal anderer stiefmütterlich behandelter Gattungen oder gar Medien wie Filmen oder TV-Serien: Von der Literaturkritik so nebenbei mitbetreut, fehlt es Besprechungen angrenzender Bereiche im deutschsprachigen Raum oftmals an fachlichem Unterbau, was zu einer Fokussierung auf den Inhalt führt, die Form außer Acht lässt und gerade bei einer Gattung, die vom Wechselspiel zwischen Text und Bild lebt, problematisch ist. Dem kann man freilich entgegenhalten, dass auch die klassische Buchrezension formale Aspekte häufig nachrangig behandelt.
Was?
Für die Comic-Kritik sind in erster Linie Langcomics im Buchformat von Interesse, Comicreihen und -hefte spielen kaum eine Rolle. Einige wenige Serien wie Asterix oder die Donald-Duck-Comics werden fortlaufend verfolgt und mit Hintergrundberichten, Interviews oder Porträts der AutorInnen und ZeichnerInnen gewürdigt, nicht aber mit Rezensionen. Auch Mangas werden zwar als Phänomen wahrgenommen, Kritiken zu Werken gibt es aber nur wenige. In diesem Bereich dominieren eindeutig Autorencomics. Können sich Comics also mittlerweile am Rand des literarischen Feldes behaupten, sieht sich die Comic-Kritik dennoch einem ständigen Legitimierungszwang[8] ausgesetzt, auch hier finden sich Überschneidungen mit anderen populären Genres wie zum Beispiel Fernsehserien. KritikerInnen sehen sich genötigt, eine Metaebene einzuziehen, die das Besprochene dem Trivialen enthebt. In beiden Fällen wird ausgerechnet der Roman als Referenzobjekt herangezogen, der als großes narratives Projekt als Wertungsmaßstab gesetzt wird. So erklärt sich auch der Begriff der Graphic Novel, der gemäß seiner konzeptuellen Unschärfe zum Teil recht willkürlich verteilt wird. Auffallend ist jedoch, dass der Begriff nicht als Gattungskategorie Verwendung findet, sondern vielmehr ein erstes Selektions- und Wertungskriterium darstellt, das die bezeichneten Werke von der im Bourdieu’schen Sinn als illegitim geltenden Übergattung des Comics distinguieren soll. Überwunden ist das Misstrauen gegenüber Comics noch nicht, wie beispielhaft Anton Thuswaldner formuliert:
Mit den Graphic Novels sind die Comics dem Jugendalter entwachsen. Erzählt haben die bunten Bildgeschichten immer schon, meistens sogar das Blaue vom Himmel. Comics dienen der Zerstreuung, der leichten Unterhaltung, sie machen uns eine Welt vor, die mit unserer nichts zu tun hat und die wir deshalb entspannend finden dürfen. Es herrschen andere Gesetze und fremde, wilde Gebräuche, wir sollen lachen und staunen, zum Grübeln kommen wir nie.[9]
Comics, so Thuswaldner, „stehen zu Recht unter Trivialitätsverdacht“.[10] Die Graphic Novel aber sei „nicht länger nur dazu da, ein lesefaules Publikum bei Laune zu halten“. Auch die Süddeutsche Zeitung konstatiert einen Trend:
Die Literarisierung des Comics ist nicht aufzuhalten – wobei keineswegs entschieden ist, ob nun die Comics, wie gern gesagt wird, die Hochkultur ‚erobern‘, oder ob sie doch eher eingemeindet werden. Eine Domestizierung der wilden ‚Neunten Kunst‘ ist jedenfalls nicht zu übersehen.[11]
Die besprochenen Comics, die fast alle die Adelung zur Graphic Novel erfahren haben, lassen sich bis auf wenige Ausnahmen zwei Bereichen zuordnen: Neben politisch engagierten Texten dominieren Adaptionen kanonisierter Texte der Weltliteratur, von Shakespeare bis Kafka. Die 2011 in der Bibliothek der Süddeutschen Zeitung gestartete zehnbändige Reihe Graphic Novels ist nicht nur ein deutlicher Hinweis auf die schrittweise Kanonisierung von Comics, sondern auch darauf, welche Comics im deutschsprachigen Feuilleton als beachtenswert gelten. Um diese überblicksmäßigen Beobachtungen zu überprüfen, wurden alle im IZA archivierten Besprechungen aus dem Jahr 2013 gesichtet und analysiert.
Analyse 2013
Das Corpus umfasst ausschließlich Artikel, die sich eindeutig der Textsorte Rezension zuordnen lassen. Nicht mitgezählt wurden daher Porträts, Interviews mit ComicautorInnen oder -zeichnerInnen, Besprechungen von Comicverfilmungen oder überblicksmäßige Artikel zu Comics, die keinen dezidiert wertenden Charakter haben. Für das Jahr 2013 verzeichnet das IZA 211 Rezensionen zu Comics aus insgesamt 21 deutschsprachigen Tageszeitungen, Wochenzeitungen und Magazinen, wobei diese ungleichmäßig verteilt sind. Besonders comicaffin zeigen sich die Süddeutsche Zeitung mit 29 oder der Tagesspiegel mit 18 Besprechungen. Auch die Länge divergiert deutlich, so dominieren im Tagesspiegel Kurzkritiken zwischen 200 und 600 Wörtern, die als Empfehlung auftreten, während sich zum Beispiel in der FAZ wesentlich längere Kritiken mit bis zu knapp 2000 Wörtern finden. Ob Comicrezensionen damit im Schnitt kürzer sind als andere, lässt sich im Rahmen dieser Untersuchung nicht feststellen. Festhalten lässt sich nur, dass es sehr viele Besprechungen gibt, die in der Länge mit umfangreichen Buchbesprechungen konkurrieren können. Einige wenige Comics schaffen es, in mehreren Zeitungen besprochen zu werden. Spitzenreiter 2013 waren die Erinnerungs-Graphic-Novel Das Erbe der israelischen Autorin Rutu Modan sowie Chris Wares Jimmy Corrigan mit Besprechungen in jeweils neun verschiedenen Zeitungen. Noch mehr Besprechungen schaffte nur Asterix bei den Pikten, allerdings bestätigt sich hier, dass Bände von Comicreihen eher in Mischformen zwischen Rezension und Hintergrundbericht, Porträt oder Interview besprochen werden. Autorencomics, die mehrfach besprochen werden, sind eher Ausreißer, die meisten tauchen nur einmal auf.
Den Eindruck, dass politisch engagierte Texte und Klassikeradaptionen dominieren, bestätigt das Corpus der Rezensionen von 2013. Innerhalb dieses Rahmens sind wiederum einige wenige Themen extrem präsent, was zum einen auf Trends hindeutet, zum anderen aber auch auf die Selektionskriterien der Kritik. Der Comic, insbesondere die Graphic Novel, scheint eine ideale Form für Erinnerungsliteratur in ihren kollektiven und individuellen Ausprägungen zu sein. Auch hier bleibt Spiegelmans Maus wegweisend und stilprägend. Die ernste Thematik, von Spiegelman in eine schonungslose Bildsprache übersetzt, führte nicht nur zu einer Kontroverse darüber, wie der Holocaust angemessen dargestellt werden kann, sie wurde vielmehr zu einem Merkmal der Graphic Novel schlechthin. Der zweite, sehr häufig als Vorbild- und Referenztext erwähnte Comic ist Marjane Sartrapis 2000 erschienene Graphic Novel Persepolis, die klassische Entwicklungs- und Emanzipationsgeschichte einer jungen iranischen Frau. Der Erfolg von Persepolis bestätigt und verfestigt die mit Maus beginnenden Traditionen des in repressiven Systemen angesiedelten, autobiographischen bzw. biographischen Erinnerungscomics. Im Vergleich mit den Gegenständen der herkömmlichen Literaturkritik sind die besprochenen Comics wesentlich internationaler und breiter gefächert, gleichzeitig finden sich kaum deutschsprachige Werke. Neben Texten aus den Comichochburgen Belgien und Frankreich dominieren Texte aus politischen Krisenregionen. Überproportional besprochen werden Comics aus Israel und dem Nahen Osten. Der Holocaust und der Nahostkonflikt sind die am häufigsten auftauchenden Themenkomplexe, was die starke Präsenz israelischer Comics erklärt. Fast die Hälfte der Besprechungen sind Comics mit einer explizit politischen Thematik gewidmet.
Die Auswahlkriterien sind überwiegend inhaltlicher Natur. Von allen gesichteten Rezensionen bezieht sich eine einzige vorrangig auf die ästhetische Qualität der Bilder und des visuellen Erzählens. Wenn Grünewald festhält, „dass die Wort-Bild-Einheit der meisten Comics eine klare Zuordnung und damit Zuständigkeit weder zur Bildenden Kunst noch zur Literatur erlaubt und sie mit vertrauten Zugriffsweisen und Wertungskriterien nur ungenügend gefasst werden können“[12], so zeigt die Analyse der Rezensionen deutlich, dass die literarische Kritik sich in der Wertung und Beschreibung der Comics offensichtlich zuständiger fühlt. Die Zeichnungen werden meist beiläufig in wenigen Sätzen und rein deskriptiv behandelt, auf eine handwerkliche und ästhetische Bildkritik wird verzichtet. Da Comics Kohärenz weniger über den Text als über die Bildfolge herstellen, werden in Folge die narrativen Strategien von der Kritik oft vernachlässigt. Nur wenige wissen so souverän mit dem Medium umzugehen wie Jonas Engelmann in diesem Beispiel:
Die Einsamkeit durchzieht in Jimmy Corrigan alle Zeitebenen. In der Reduzierung und Präzision der Zeichnungen wird die Brutalität der Einsamkeit noch verstärkt. Fast ironisch wirkt es da, wenn im letzten Bild des Comics ausgerechnet ein Schneegestöber, die kalte Realität des Winters also, mit der Reduziertheit der Zeichnungen bricht und so ein wenig Hoffnung für den Protagonisten aufscheinen lässt. […] Solche Überschreitungen sind dann auch das Thema, das Ware jenseits der tatsächlich erzählten Geschichten dem Leser nahezubringen versucht: die Überschreitung der herkömmlichen Vorstellung eines Comics, von Erzählstrukturen und Seitenlayouts. Die Superhelden tauchen immer wieder als gebrochene Helden auf, als Liebhaber der Mutter, Selbstmörder und Albtraumfiguren. Diese Umkehrung des Superhelden geht einher mit der Umkehrung der Erzählform dieses Genres: Nicht das Tempo steht im Mittelpunkt, sondern die Verlangsamung, manchmal scheint Jimmy Corrigan sich dem Stillstand anzunähern, dem Nullpunkt des Comics. Unübersichtliche Seitenaufteilung, ungewöhnliche Bild-Anordnungen, Unterbrechungen: Ware setzt alles daran, dem Leser ein flüssiges Lesen zu erschweren.[13]
Häufiger allerdings wird es den LeserInnen über die obligatorische Abbildung von Beispielpanels selbst überlassen, sich ein Bild zu machen, was zwar wirkungsvoll ist, aber auch den deskriptiven Grundtenor vieler Rezensionen unterstreicht.
Ein weiteres Spezifikum der Comic-Kritik ist die explizite Bezugnahme auf die Gattung – das hat sich auch 2013 noch nicht geändert. „Comics – unsereins kennt noch Zeiten, als das ein Schimpfwort war,“ beginnt z. B. Irmtraud Gutschke ihre Besprechung von Rutu Modans Das Erbe, um dem entgegenzuhalten, es sei „ein Vorurteil, Comic als etwas Minderwertiges anzusehen. […] Längst hat sich daraus eine eigene Kunstform entwickelt, werden auf anspruchsvolle Weise auch politische Inhalte inszeniert.“[14] Bei der beständigen Legitimierung von Comics und der damit einhergehenden Selbstlegitimierung ihrer Kritik, stellt sich die Frage, welche Rezipienten hier anvisiert werden und welche Funktionen die Kritik zu erfüllen sucht. Den versierten Comic-LeserInnen muss der Comic als Gattung ja weder erklärt noch schmackhaft gemacht werden. Die Verteidigungshaltung lässt darauf schließen, dass hier eher ein neues Publikum gewonnen werden soll und dass man – immer noch – von einer niedrigen Akzeptanz ausgeht. Bernhard Flieher überträgt in den Salzburger Nachrichten seine eigene Rezeptionserfahrung auf die LeserInnen:
Die Übung fehlt. Kein Wunder. Wenn einem auf die Finger gedroschen wird, dann lässt man das Heftl lieber fallen. Comics waren lang verpönt. Das wirkt nach. Immer noch werden sie in bildungsbürgerlichen Schichten umweht vom Geschmack des Schund. Comics? Pfui! Und jetzt, da Comics doch zur Literatur zählen, fehlt die Übung beim Lesen.[15]
Man wird den Eindruck nicht los, dass hier noch die eigenen Ressentiments der KritikerInnen implizit mitschwingen, denn ganz einsichtig ist das in Hinblick auf den sowohl ökonomischen als auch symbolischen Kapitalzugewinn des Comics in den letzten Jahren nicht. Eva-Marie Magel ruft den Comic-Roman in der FAZ gar zum „Format der Stunde“[16] aus. Dass Comics in der Kritik immer noch ein Sonderstatus zukommt, zeigt sich auch an der durchwegs wohlwollenden Grundhaltung der Besprechungen. Verrisse gibt es praktisch keine, hervorgehoben werden die Stärken der Comics, ihre künstlerischen Qualitäten (allerdings ohne diese näher zu verifizieren) und ihre gesellschaftspolitische Relevanz. Den wichtigsten Wertungsakt, der der eigentlichen Besprechung vorausgeht, stellt die Auswahl der rezensierten Texte dar. Was besprochen wird, wurde schon für positiv befunden. Dass die analysierten Kritiken so deutlichen Empfehlungscharakter haben, erklärt sich als Reaktion auf den langen Kampf um Anerkennung, aber auch auf den vergleichsweise beschränkten zur Verfügung stehenden Platz für Comics im Feuilleton, der dann lieber dazu genützt wird, AutorInnen zu fördern als ihnen zu schaden. Dazu kommt, dass Verrisse den Selbstlegitimierungsstrategien der Comic-KritikerInnen zuwiderlaufen. Dabei könnten gerade negative Besprechungen zeigen, dass man Comics ernst nimmt, während die beständige Hervorhebung neu entdeckter Qualitäten paternalistische Züge trägt.
In Folge konzentriert sich die Kritik in Abgrenzung zum negativen, trivialen Image von Comics auf Werke, die ernste, politische Themen verhandeln und auf satirische oder groteske Texte mit philosophischem Überbau. „Sieh uns an! Die Graphic Novel zeigt, was sie kann: Politisch, witzig, philosophisch“,[17] schreibt etwa die Zeit treffend. Neben Adaptionen kanonisierter Texte der Weltliteratur von Don Quichotte über Kafkas Der Proceß bis zu zeitgenössischen Texten wie Marcel Beyers Flughunde sind auch Künstler-, Wissenschaftler- und Politikerbiographien hoch im Kurs. Das Leben von Schiele, Kafka, Munch, Wagner, Freud, Sophie Scholl, Darwin oder auch Barack Obama wurde in Panels gefasst – auch hier zeigt sich wieder, dass die Visualität den Comic zum idealen Erinnerungs- und Aktualisierungsmedium macht, was auch die Kritik zu würdigen weiß. Comics, das zeigt die Analyse der Rezensionen, werden stärker an ihrer Funktionalität gemessen als andere literarische Texte. So lobt Ralph Trommer in der taz beispielsweise, „dass es nicht nur der Literatur obliegt, gesellschaftlich relevante Themen künstlerisch anspruchsvoll aufzubereiten.“[18] Zu diesem Ergebnis kommt auch Stephan Ditschke: „In den Augen ihrer Kritiker vermitteln sie Wissen, entweder über zeitgeschichtliche, sozialgruppenspezifische oder über fremdenkulturelle Zusammenhänge.“[19]
Fazit
Die Comic-Kritik hinkt ihrem Gegenstand ein wenig hinterher. So selbstbewusst wie dieser mittlerweile auftritt, bestätigt und gestärkt durch Erfolge am Buchmarkt, sind die KritikerInnen meist noch nicht. Die Breite der Comiclandschaft bildet die Feuilleton-Kritik nicht ab. In Selbstversicherung der eigenen Seriosität wird mantrahaft die Intellektualität der Texte, ihre Funktion als Erinnerungsmedium, als bedrückendes und verstörendes Abbild von Repression, Krieg und Vernichtung und als Medium politischen Protests betont. Von einer geschlossenen Comic-Kritik kann eigentlich keine Rede sein: Während sich die Graphic Novel im literarischen Feld etabliert hat und auch im Feuilleton mittlerweile einen Fixplatz einnimmt, haftet das jahrzehntelang kultivierte Schmuddelimage dem Comic noch immer ein wenig an – und sei es nur insofern, als sich KritikerInnen bemüßigt fühlen, ebendieses zu negieren. Der Comic bleibt im Feuilleton eine markierte Gattung, zu der die besprochenen Texte entweder in abgrenzende oder in verteidigende Beziehung gesetzt werden. Fehlt es der Kritik insgesamt noch an Selbstverständnis, so gibt es auch wunderbare Gegenbeispiele, in denen nichts von der Unschlüssigkeit im Umgang mit Comics und ihren spezifischen narrativen Strategien zu merken ist und die sich der Kritik eines Werks und nicht einer Gattung verschrieben haben.
Veronika Schuchter, 27.07.2016
Anmerkungen:
[1] Francis Lacassin: Pour un neuvième art: La bande dessinée. Paris: Folio 1971.
[2] Zur Geschichte des Comics vgl. Bernd Dolle-Weinkauf: Comics. Geschichte einer populären Literaturform in Deutschland seit 1945. Weinheim u. Basel: Beltz 1990.
[3] Vgl.: Dietrich Grünewald: Comics. Tübingen: Niemeyer 2000 (Grundlagen der Medienkommunikation Bd. 8), S. 77.
[4] Cuno Affolter u. Urs Hangartner: Eine Maus steht im todernsten Umfeld. In: Weltwoche v. 27.4.1989, o. S.
[5] Wolfram Knorr: Alpträume in Mauschwitz. In: Weltwoche v. 29.4.1981, o. S.
[6] O. A. Comic. Der Kleine Jäger. In. Zeit Magazin v. 02.10. 1992, o. S.
[7] Das IZA sammelt aktuell insgesamt 30 Tages und Wochenzeitungen, siehe https://www.uibk.ac.at/iza/
[8] Vgl. dazu ausführlich: Stephan Ditschke: ‚Die Stunde der Anerkennung des Comics‘? Zur Legitimierung des Comics im deutschsprachigen Feuilleton. In: Thomas Becker (Hg.): Comic. Intermedialität und Legitimität eines popkulturellen Mediums. Essen u. Bochum: Ch. A. Bachmann 2011, S. 21-44.
[9] Anton Thuswaldner: Graphic Novels. In: Die Furche (booklet) v. 5.1.2011, S. 4-6.
[10] Ebd.
[11] Martina Knoben: Alte Meister in Neuen Bildern. In: Süddeutsche Zeitung (Wochenende) v. 31.12.2011, S. V2/11.
[12] Grünewald: Comics, S. 79.
[13] Jonas Engelmann: Auch unten ist er allein. In: der Freitag v. 21.03.2013, S. 17.
[14] Irmtraud Gutschke: In Gesichtern ‚lesen‘, Gesten deuten. In: Neues Deutschland v. 14.09.2013, S. W4.
[15] Bernhard Flieher: Die Eroberung der Schaufenster durch Sprechblasen. In: Salzburger Nachrichten v. 13.08.2014, S. 7.
[16] Eva-Marie Magel: Hauptsache er liest, alles andere wird sich finden. In: FAZ v. 30.11.2013, S. L11.
[17] O. A.: Sieh uns an! In: Zeit (Literatur) v. 12.03.2015, S. 28.
[18] Ralph Trommer: Meister der leisen Töne. In: die tageszeitung v. 04.11.2013, S. 15.
[19] Ditschke: ‚Die Stunde der Anerkennung des Comics‘?, S. 33.