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Gute Literatur?

Anmerkungen zu einer einfachen Frage, die ziemlich komplexe Antworten fordert. Von Brigitte Schwens-Harrant

 

Ein großartiger Dichter sei er, jubelten viele, endlich erhalte Bob Dylan den Preis, der ihm schon längst gebühre. Fehlentscheidung, gaben sich andere entsetzt, diese Songtexte seien doch keine Lyrik, schon gar nicht nobelpreiswürdige. Selten wird derart sichtbar, wie unterschiedlich Wertungen in Bezug auf Literatur ausfallen können, auch unter den sogenannten professionellen Lesern, den Literaturkritikern. Eine solche Vielfalt ist allerdings nicht neu. Deshalb verstummt der Vorwurf nicht, Literaturkritik sei bloß beliebiges Gerede. Bedeutet aber die Tatsache unterschiedlicher Ergebnisse von Bewertungen von Literatur wirklich  Beliebigkeit? Und was heißt eigentlich „gut“ in Bezug auf Literatur?

Wer „gut“ sagt, sortiert wie Aschenputtel, die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Gute Literatur grenzt sich also ab von einer „nicht guten“, einer „schlechten“ Literatur. Das war und ist für die einen „Trivialliteratur“, für die anderen sind es „Produkte aus der Unterhaltungsindustrie“, „Dienstleistungsprosa“ oder „Kitsch“. Sie können diese Liste selbst beliebig erweitern oder Begriffe daraus streichen, je nachdem wie Sie es sehen – und schon werden die Unterschiede deutlich. Spricht, wer „gute Literatur“ sagt, ein „Macht-Wort“, überlegt Anna Mitgutsch in dem soeben erschienenen Sammelband Einfache Frage: Was ist gute Literatur?  Und die Autorin fragt weiter: „Ist schlechte Prosa, schlechte Lyrik überhaupt Literatur? Ist gute Literatur nicht eine Tautologie? […] Ist der Begriff Literatur – im engeren Sinn als sprachliches Kunstwerk – nicht schon ein Qualitätsbegriff?“

Was ist gute Literatur? Nicht nur die Autoren und Literaturwissenschafter ringen in dem genannten Band mit der Frage, die so einfach klingt und so schwer zu beantworten ist. Vielleicht, diese Vermutung taucht da und dort auf, lässt sich am ehesten im formal-ästhetischen Bereich, im Handwerklichen eine Antwort finden auf die Frage, ob ein Text gut ist. Oder, um es andersherum zu formulieren: Vielleicht lässt sich im Bereich der Sprache – und Literatur ist vor allem Sprache (und damit auch Struktur, Bild, Rhythmus …) – am ehesten festmachen, was warum misslungen ist, was warum nicht passt. Gesetzt den Fall, man könnte sich hinsichtlich der Norm (Aber was bedeutet Norm in Bezug auf Literatur? Wird nicht oft gerade die Abweichung, also das Brechen von Normen als Kriterium für gute Literatur genannt?) und hinsichtlich der Frage, ob diese Norm jeweils erfüllt ist, überhaupt je einigen. Was zu bezweifeln ist.

Aber. Aber, fragt Andrea Winkler zurecht, erweist sich nicht „jeder, absolut jeder Satz als anfechtbar, es sei denn, ein Zusammenhang trägt ihn, der es ihm möglich macht, der Anfechtung standzuhalten? Ich fürchte, dass es sich so verhält, und ich fürchte, dass es nicht die Sätze allein sind, auf die es ankommt ...“ Und, mit Lydia Mischkulnig gesprochen: „Das Schreibhandwerk zu beherrschen, ist sicher kein Nachteil, doch sich nur darauf zu verlassen bzw. daraus die Definition für gute Literatur abzuleiten“, funktioniert wohl auch nicht. Die Frage nach guter Literatur ist auch eine ethische Frage. Eine philosophische. Eine soziale. Eine politische. Sie steht in Relation.

Ein beliebtes Kriterium etwa ist „Innovation“. Texte sind dann gut, heißt es, wenn sie einen neuen Ton vernehmen lassen oder eine neue Form probieren. Innovation aber kann ich nur behaupten, wenn ich andere Literatur kenne, wenn ich weiß, was bisher war; Innovation ist also ein relationaler Begriff, er bezieht sich auf anderes, er verweist aber auch auf mich, die ich nie einen reinen Text, sondern immer den von mir gelesenen Text bewerte.

Die Kriterien erweisen sich als leserabhängig. Siegfried J. Schmidt präzisiert daher die Frage „Was ist gute Literatur“ und fragt genauer: „Was halten wir aus welchen Gründen in konkreten Praxen für Literatur, und nach welchen Kriterien und aus welchen Gründen halten wir etwas für gute Literatur?“ Zudem müsse man jeweils auch nach dem Interesse dessen fragen, der eine solche Frage überhaupt stellt. Wer will das wissen und wozu? Nun wird die Frage richtig spannend, sie führt hinaus aus dem Bereich der Literatur. Ein Blick in die Geschichte zeigt, wie sehr sich Beurteilungskriterien je nach Umständen verändert haben. Wer fordert etwa wann und warum, dass erzählt werden soll oder nicht erzählt werden darf, dass Literatur realistisch zu sein habe oder bitte gerade nicht?

Die Kriterien, nach denen Literatur beurteilt wird, sind also – bei aller Intersubjektivität – relational und relativ. Wozu dann die Frage nach guter Literatur überhaupt stellen? Warum nicht einfach lesen und lesen lassen, und zwar unkommentiert? Weil es gerade auch der Streit ist, der Kunst zu Kunst macht. Auch der Streit um die Kriterien. Wo diskutiert und argumentiert wird, was Kunst ist und was nicht, was gelungen ist und was nicht, dort passiert Kultur. Und so ist die Diskussion über Literatur immer auch Ausdruck der Bedeutung, die eine Gesellschaft der Literatur gibt.

Man kann die Frage nach guter Literatur nicht normativ, sondern nur diskursiv beantworten, ist Siegfried J. Schmidt überzeugt. Im Sammelband „Einfache Frage: Was ist gute Literatur?“ ringen die Autoren bezeichnenderweise in Korrespondenzen um Antworten, also in Dialogform. Als Dialog könnte man auch das gesamte öffentliche Gespräch über Literatur bezeichnen. Zu diesem Gespräch, an dem sich auch Institutionen beteiligen, gehören auch öffentliche Auftritte der Autoren, etwa Lesungen. Die Frage, was gute Literatur ist, setzt sich dort fort, in der Art und Weise der Vermittlung. Teresa Präauer etwa wendet sich in dem jüngst erschienenen Band „Zwischen Lesen und Schreiben“ gegen „Anmoderationen, die den Text erklären wollen, ihn überfrachten oder unterjochen“: „Wenn ein Abend sehr gut läuft, dann liegt das auch an der Moderation. Jemand, der den Raum für den Text öffnet, fürs Zuhören. Jemand mit Klugheit, Charme, Witz, Genauigkeit, der sich trotzdem auch, uneitel, zurücknehmen kann.“

Vor einigen Jahrzehnten noch – insofern haben jene recht, die die Beliebigkeit beklagen – war alles viel, viel einfacher. Da gab es ein paar (männliche) Autoritäten, die für alle wussten, wo’s lang zu gehen hatte. Angesichts dessen erscheint der gegenwärtige Pluralismus von Argumenten dann doch als nicht aufzugebender Reichtum (wie unangenehm stößt hingegen oft das einhellige Bejubeln eines Buches auf). Wie man um ästhetische Fragen ringt (die eben nie nur ästhetische Fragen sind), hat dabei durchaus auch politische Relevanz. Schon Virginia Woolf hat jedenfalls davon abgeraten, sich unter der Autorität zusammenzuscharen und „wie Schafe im Schutz einer Hecke“ niederzulegen.

 

Brigitte Schwens-Harrant, 17.07.2017

Zuerst erschienen in: „Booklet“, Beilage zu „Die Furche“, Nr. 45 vom 10.11. 2016, S. 2­­–3.