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Über das Leben und die Literatur

Eine Spurensuche auf den 49. Rauriser Literaturtagen. Von Benjamin Stolz

 

Klaus Seufer-Wasserthal und Walter Langreiter sind bekannte Gesichter bei den Rauriser Literaturtagen. Der Buchhändler und der Wirt der wichtigsten Lesebühne des Ortes haben über die Jahre viele Persönlichkeiten getroffen und Geschichten erlebt.

 

Zwei Gasthäuser, ein Hotel, ein Gemeindeamt und über allem eine Kirche – Rauris unterscheidet sich in seinem Ortsbild nicht wesentlich von anderen kleinen Gemeinden in Österreich, wenn dort nicht gerade die Literaturtage stattfinden. Auf den 49. Literaturtagen von 27. bis 31. März 2019 lesen die eingeladenen Autorinnen und Autoren aus aktuellen Werken, die sich auf verschiedenste Arten in das Thema „Auf.Brüche“ fügen.  Die Dynamik, die eine Lesart des Mottos anklingen lässt, zeigt sich dabei nicht nur zwischen den Buchdeckeln, sondern auch im Ortskern der 3.000-Seelen-Gemeinde, der für die Literaturtage der Alltags-Routine abschwört. Die beiden Gasthöfe Grimming und Platzwirt werden zu Lesebühnen, der Rauriserhof zum informellen Treffpunkt von Künstlern, Studierenden und Bewohnern und das Gemeindeamt, der Sitz des Bürgermeisters, wird zur Buchhandlung.

 

Veränderungen

Im kühlen Hausgang des Amtes sortiert Klaus Seufer-Wasserthal seine Waren. Er ist Leiter der Salzburger Rupertus-Buchhandlung und seit 25 Jahren der Händler, der vor Ort den Büchertisch stellt. Während der Lesungen hat Seufer-Wasserthal Zeit für Gespräche über Bücher, Besucher und die literarische Vergangenheit, die für ihn persönlich mit einem Germanistik-Studium beginnt. „Natürlich hat sich vieles verändert“, erinnert er sich an sein Studium, „wir haben keinen Druck gehabt. Bei uns ist es nicht um irgendwelche Seminarscheine gegangen und um irgendwelche Punkte.“ Buchhändler ist er schließlich wegen seiner Leidenschaft fürs Lesen geworden, doch schnell hat er gelernt, dass er als solcher auch verkaufen muss. Um es mit den Worten eines Arbeitskollegen zu sagen: „Buch hat eine Silbe, Händler hat zwei.“ Für Seufer-Wasserthal verkaufen sich die Bücher bei den Literaturtagen wie von selbst. Ob bei einer Lesung „der Funke überspringt“, zeige sich sofort im Verkauf danach. Das Geschäft läuft gut, doch früher sind ihm die Literaturtage familiärer vorgekommen. Über die Jahre hat der Buchhändler schon einige Freundschaften geschlossen, meist durch lange Gespräche und ein paar Biere im Rauriserhof. „Das ist es, was es ausmacht“, meint er.

 

Legenden

Wenn Klaus Seufer-Wasserthal seine Anekdoten über die auf den Literaturtagen gastierenden Autoren auspackt, erzählt er über sie wie von alten Freunden und über die Geschehnisse wie von fast vergessenen Legenden. Bei den 27. Literaturtagen im Jahr 1997 zum Beispiel hatte es über die Tage immer wieder geschneit. Am letzten Abend waren die Schneemassen so gewaltig, dass kurzzeitig der Strom ausfiel und die Hauptlesung zum Thema „Literatur und Musik“ nach hinten verschoben werden musste. Nach der Lesung im Rauriserhof, es war bereits Mitternacht, begann Liedermacher Konstantin Wecker Klavier zu spielen. Peter Blaikner setzte mit seiner Gitarre in den Blues ein, bald darauf Franz Hohler mit dem Cello und schließlich Jürg Laederach auf dem Saxofon. Hohler soll dazu sogar noch gesungen haben. Nach der Session konnte der erst richtig warm gespielte Konstantin Wecker nicht mehr aufhören. Bis in die frühen Morgenstunden spielte er weiter auf einem verstimmten Pianino hinter der Bar des Rauriserhofs. „Das war richtig stimmig“, schwärmt Seufer-Wasserthal.

 

Bekannte Namen

Fragt man die Menschen von Rauris nach ihren Erinnerungen an die Literaturtage, so erwähnen die meisten von ihnen früher oder später die Namen Thomas Bernhard und Hans Carl Artmann. Thomas Bernhard ist Klaus Seufer-Wasserthal nicht auf den Literaturtagen, sondern im Blumenladen seiner Eltern in Schwanenstadt begegnet. Dort kaufte Bernhard zusammen mit Hedwig Stavianicek zwei Azaleenstöcke. Bernhards Verleger Jochen Jung wollte Seufer-Wasserthal diese Anekdote in einem späteren Gespräch nicht recht glauben. („Was? Der Bernhard und Blumen? Das gibt’s nicht.“) Von einer Anekdote, die die Begriffe „H. C. Artmann“ und „Gulasch“ miteinschließt, weiß er, wie die meisten anderen Gäste, nur aus Erzählungen. Klaus verweist auf den „alten Grimminger“, den Seniorchef der wohl wichtigsten Küche der Rauriser Literaturtage, bevor ein paar Kunden in den Buchladen kommen.  

Walter Langreiter ist der 80-jährige Wirt des Gasthauses „Grimming“ gegenüber dem Gemeindeamt. In diesem Gasthof fanden seit der ersten Stunde der Literaturtage Lesungen statt und Langreiter war von Anfang an beteiligt. Noch heute hilft der Pensionist auf den Literaturtagen seinen Kindern und Enkeln im Service, schüttelt Hände, applaudiert aus der Ecke, wenn der Hauptpreis in seinen vier Wänden vergeben wird. Wenn er einmal Zeit hat, redet er gerne mit Gästen über die alten Zeiten – bevorzugt in der hinteren Stube, ein Stückchen weit weg vom Literatur-Rummel. Vor einem halben Jahrhundert saß er im Gemeinderat, als man Erwin Gimmelsbergers Vorschlag diskutierte, Rauris bekannter zu machen unter dem Motto: Literatur auf dem Lande. „Da haben wir uns einmal gegenseitig angeschaut“, erzählt er lachend. Dass man die Idee trotz anfänglicher Skepsis durchzog, hat seinem Lokal einen kleinen literarischen Kultstatus verschafft.

 

Keine Ahnung, wer der H. C. ist

„Es kann keiner von mir verlangen, dass ich was von der Literatur verstehe“, sagt Walter frei heraus. Seine Aufgabe für die Literaturtage war es, finanzielle Mittel aufzutreiben, den Rauris-Tross zu verköstigen und ein Rahmenprogramm für die Autoren zu bieten. Von seiner Arbeit für das Projekt reut ihn „keine Sekunde“. Auf diesem Weg hatte er bemerkenswerte Begegnungen mit Autoren, allen voran H. C. Artmann. Bei einer Eröffnung etwa kam ein nervöser Mitorganisator in seine Küche und fragte nach „dem H. C.“, auf den man schon geduldig am Mittagstisch wartete. „Ich habe ja keine Ahnung gehabt, wer der H. C. ist.“ Als er schließlich merkte, dass der H. C. der seltsame Kerl mit dem Schweizer Majorsmantel sein müsse, der sich in der hinteren Stube herumtrieb, fragte er ihn, ob er denn nicht essen wolle. „I iss wann i wü“, lautete die schroffe Antwort des Wiener Dandys. Trotzdem war Artmann für den Wirt „kein Unguter.“ Das merkte er beim Autorenkochen in seinem Gasthof. Während Rudolf Bayer, der die Idee dazu hatte, Walters Mutter abverlangte, die für den Pinzgau unüblichen Erdäpfel-Knödel zum Geselchten beizustellen, kochte Artmann ruhig sein bewährtes Erdäpfel-Gulasch und trug die ersten Portionen zu den Tischen. „Der ist so blau gewesen“, erinnert sich Langreiter, „aber es ist alles tadellos gegangen.“ Den Autor, den Walter über die Jahre am liebsten mochte, ist Thomas Bernhard. Nach einer längeren Nacht in einer geselligen Küchen-Runde bestand Bernhard sogar einmal auf Langreiters Anwesenheit bei seiner Lesung am nächsten Tag. Die oft imaginierte Bernhard’sche Mieselgrämigkeit bekam er nie zu spüren. Akzeptiert hätte er sie trotzdem, denn „wer mag schon jeden.“

 

Drama

Künstler im Ort zu haben war für die Rauriser nicht immer leicht. So sorgte etwa die Anwesenheit von Skandal-Künstler Hermann Nitsch 1997 schon im Vorfeld für Unbehagen. Auch als eine Gruppe von Schweizer Schriftstellern das Begräbnis einer alten Bäuerin allzu genau beobachtete und sogar fotografierte, bekam Walter Langreiter zum Vorwurf, was und wen er denn da ins Dorf eingeschleppt habe. Für Querulanten aus den eigenen Reihen hat der Wirt einen Standardspruch auf den Lippen: „Hast du was getan dafür? Nein? Dann bist einmal stad!“ Auch von bösen Gerüchten über „Saufgelage“ hält er nicht viel, aber: „Willst zum Artmann etwa sagen, er darf nichts mehr trinken?“

An einem Abend wäre das gesellige Beisammensein jedoch fast böse ausgegangen. Glück im Unglück hatte die damalige Partnerin Artmanns, die, als Langreiter um fünf Uhr morgens die Runde in der Grimming-Küche auflösen wollte, „den H. C. einfach sitzen“ ließ und mit ihrer Citroën-Ente über eine Böschung in den Straßengraben fuhr. Im Krankenhaus Zell stellte man fest, dass ihr nicht viel fehlte. Nach der Lesung am nächsten Vormittag setzte Langreiter den aufgewühlten und noch betrunkenen H. C. Artmann in ein Taxi Richtung Krankenhaus.

Als Walter Langreiter fertig ist mit seinen Ausführungen, hört man aus dem großen Saal des Gasthauses Stimmen und Applaus. Eine Veranstaltung ist zu Ende und er muss nachsehen, was es für ihn heute noch zu tun gibt.

 

Spuren

Wenn die Preise überreicht worden sind, die im Jahr 2019 an Philipp Weiss und Katherina Braschel gingen, gleitet Rauris zurück in die Ruhe der Nebensaison. Klaus Seufer-Wasserthal lädt für heuer zum letzten Mal die braunen Bücherkartons in seinen Van, und der Wirt Walter Langreiter schüttelt Gästen die Hände, „bis zum nächsten Jahr“. Die einzigen sichtbaren Spuren der „Literatur auf dem Lande“ sind die nach den Hauptpreisträgern benannten Gondeln des Skilifts. Die unsichtbaren sind die Geschichten der Rauriser, in deren Mitte sich einmal im Jahr der Literaturzirkus drängt, irgendwo zwischen zwei Gasthäusern, einem Hotel und dem Gemeindeamt.

 

Benjamin Stolz, 09.08.2019