Vom Wert des Risikos für den Ingeborg-Bachmann-Preis
Geburtstage, gute Wünsche und der eine und andere Gedanke an das, was gewesen ist, gehen gemeinhin Hand in Hand. Einmal mehr, wenn es ein ›Runder‹ ist. Das gilt für Familie, Freunde, Kollegen, das gilt für Institutionen und das gilt für kulturelle Ereignisse wie die »Tage der deutschsprachigen Literatur«, allgemein bekannt als das alljährliche Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt. Anfang Juli fand es erneut statt und zog in schöner Tradition Autoren, Kritiker, Verleger, Agenten und alle an Gegenwartsliteratur Interessierten ins ORF-Landesstudio.
Burkhard Spinnen, 1992 selbst teilnehmender Autor, von 2000 bis 2006 Mitglied der Jury und von 2008 bis 2014 deren Vorsitzender, war einer der prominenten Gratulanten zum mittlerweile 40. Lesewettbewerb, der »Olympiade« unter den Literaturpreisverleihungen, wie es Burckhard Dücker nennt. Hier wird nicht hinter verschlossenen Türen einer der 14 teilnehmenden Autoren zum Sieger erkoren, sondern ganz im Gegenteil live vor Studiopublikum und laufenden Kameras. Spinnen nutzte zur Eröffnung des Wettbewerbs die Gelegenheit, in seiner »Klagenfurter Rede zur Literatur« zurückzublicken. Ein wenig nostalgisch, ein wenig (selbst-)kritisch, vor allem aber auch mit einem Wunsch an kommende Wettbewerbe: »mehr riskante Texte und die Bereitschaft der Jurorinnen und Juroren, deren Risiko mit zu tragen«, lautete sein Plädoyer. Er nimmt damit Bezug auf eine Debatte, die den Wettbewerb von Anfang an begleitet hat und wohl auch nie abgeschlossen sein wird, solange die Veranstaltung besteht. Aber was heißt das für die Texte, was bedeutet ›Risiko‹ für die Literatur und ginge es nicht auch ohne? Es ginge schon, wie ich finde, aber es würde etwas fehlen.
Spinnen nennt es Risiko, andere würden es Überraschungen, Unerwartetes, Neues nennen. Dieser Erwartung liegt das Verständnis zugrunde, dass sich Literatur kontinuierlich weiterentwickeln sollte und Texte mehr wertgeschätzt werden, die im Vergleich zum bereits Bekannten neue Impulse geben. Sei es inhaltlicher Art, nach Gérard Génette auf das récit, das Erzählte bezogen, oder auf den discours, die Frage, wie der Inhalt erzählt wird. Die Spielarten des ›Neuen‹ sind auf beiden Ebenen theoretisch nahezu endlos, ganz praktisch allerdings werden sie im Hinblick auf Anerkennung, Verkaufschancen und Positionierung im literarischen Feld sorgsam abgewogen.
Der Bachmann-Preis spiegelt das wider. Er führt jedes Jahr aufs Neue vor, was renommierte Persönlichkeiten des Literaturbetriebs als aus der Masse an neuer Prosa herausragend erachten. Er macht öffentlich, wie erfahrene Leser werten, gewichten und Aufmerksamkeit lenken möchten. Wenn die Diskussionen gewinnbringend sind, erklären sie auch, warum die Juroren so handeln. Literaturinteressierte können so nachvollziehen, wie individuell die Wahrnehmung und Einordnung von Literatur erfolgt und wie sich in der Summe der Urteile meist doch eine angemessene Wertschätzung aufzeigt.
40 Jahre Wettlesen – das ruft förmlich nach einem Blick zurück, ganz Spinnens Rede folgend. Dieser Rückblick bietet reiches Material, dessen Erscheinungsformen ich hier nur andeuten kann. Da wären ein paar Anekdoten zu nennen, die zeigen, wie emotional die Veranstaltung früher wahrgenommen wurde: Zu erinnern wäre beispielsweise an Karin Struck, die 1977 nach ihrer Lesung weinend die Bühne verließ, an den Preisträger Sten Nadolny, der 1980 seine Prämie an alle Mitlesenden verteilte, natürlich an Rainald Goetz' umfassend analysierten Auftritt mit blutüberströmtem Manuskript 1983 oder an den politisch umstrittenen Beitrag Babyficker von 1991. In 40 Jahren hat sich die Veranstaltung zudem von zwischenzeitlich 28 Autoren und 13 Juroren auf fast die Hälfte verschlankt, ist vom Stadttheater in Klagenfurt ins ORF-Landesstudio umgezogen, damit sie fernsehtauglich wird. Und ich möchte sagen: Es ist ruhig geworden um das Wettlesen. Nicht, weil es an Bedeutung verloren hätte. Ruhig, weil die Veranstaltung zunehmend an Relevanz gewonnen hat und professioneller wurde. Dies geht damit einher, dass es für die Teilnehmer, übrigens einschließlich der Juroren, um viel geht. Nicht zufällig finden sich viele Teilnehmer des Bachmann-Preises bereits in einschlägigen Lexika, was auf eine mögliche Kanonisierung hindeuten kann. Was aber heißt das für die Literatur?
Über diese erfährt man viel, wenn man in die Anthologie schaut. Seit 1977 gut 400 Texte, jeweils etwa die Hälfte bis zwei Drittel eines Jahrgangs, haben die Juroren bis heute darin aufgenommen. Sie bietet einen entsprechend reichen Fundus: vermehrt Wiederkehrendes, teilweise Ungewöhnliches, selten wirkliches Neuland oder eben Riskantes, wie Spinnen wünscht. Und doch ist, auch wenn das nach einer banalen Erkenntnis klingt, kein Text absolut ähnlich zu einem anderen. In der kürzlich erschienenen Monographie Wettlesen am Wörthersee. Korpusanalyse der Anthologie Klagenfurter Texte (1977-2011) zeige ich mithilfe der sozialwissenschaftlichen Methode der Inhaltsanalyse anhand einer statistischen Auswertung aller Anthologiebeiträge aus dieser Zeit, zwischen welchen Polen sich die Texte mehrheitlich bewegen. Schließlich ist ein Risiko immer in Bezug zu etwas als mehrheitlich ›normal‹ Angesehenem zu definieren.
In meiner Arbeit werte ich für jeden Text zahlreiche, für Prosa typische Merkmale aus, deren Verteilung sich sowohl über den gesamten Zeitraum, als auch nach Jahrzehnten oder Nationalität der Autoren erheben lässt. Ein Ergebnis ist die Häufigkeit bestimmter Themen. So lassen sich 256 von 378 Texten sechs Themen zuordnen: Familie, (Zeit-)Geschichte, Krankheit und Tod, Beziehungen, Berufsleben, Alltag. Es sind die allgemein vertrauten, menschlichen Themen, mit denen sich die Leser selbst auch auseinandersetzen müssen. Anhand der Ergebnisse habe ich die These aufgestellt, dass die Anschlussfähigkeit eines Textes ein wichtiges Kriterium für seinen Erfolg in Klagenfurt ist. Anschlussfähig einerseits innerhalb des Wettbewerbs: Er sollte bei der Lesung gut rezipierbar sein und den Juroren gute Debatten ermöglichen. Über den Wettbewerb hinausgehend sollte er an gesellschaftliche Themen anknüpfen, ohne jedoch zu viel Zeitgeist zu enthalten, und zugleich marktgängig sein. Meine Korpusauswertungen belegen, dass eine zunehmende Homogenisierung und Privatisierung der Inhalte und Darstellungsweisen zu beobachten ist.
Mit diesem Wissen erscheint mir das diesjährige Wettlesen nur in Teilen das zu spiegeln, was Burkhard Spinnen sich wünscht. Stattdessen belegen die Beiträge, dass solide, ›gut gemachte‹ Texte mit moderatem Risiko nach wie vor viele Chancen haben. Beispielsweise stellt der Siegertext von Sharon Dodua Otoo auf den ersten fünf Seiten eine sehr präzise ausgearbeitete Szene einer Ehe dar. Ab dann jedoch gibt sich die bis dahin nicht teilnehmende Erzählinstanz als »Ich« zu erkennen, das in verschiedene Jahrhunderte und Gegenstände schlüpfen kann – die Erzählinstanz wird unter anderem ein nicht hart werdendes Ei – und bricht mit dem mimetischen Erzählen, ohne jedoch den Leser ›abzuhängen‹.
Einige weitere Texte kamen mir vertraut vor: Julia Wolfs mit dem 3sat-Preis ausgezeichneter Text über einen alten Mann, der sich beim Schwimmen verletzt und über sein Leben reflektiert; ein weiterer Text über das Altern von Ada Dorian; Stefanie Sargnagels flanierende und den überschaubaren Alltag wiedergebende Erzählerin; Marko Dinić' Erzählung, die in Rückblicken die Zeit der Jugoslawienkriege aufleben lässt; Sylvie Schenks Rückblick auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Frankreich... Damit ist natürlich nichts über die Ausgestaltung der einzelnen Beiträge gesagt, die einer je individuellen Interpretation bedürften. Es zeigt lediglich, dass eine literaturvermittelnde Institution wie das Klagenfurter Wettlesen einer bestimmten Art von Literatur mehr Wertschätzung entgegenbringt als anderen und dass sie ihre Aufgabe auch nicht darin sieht, das größtmögliche Risiko auszustellen.
Zum Beispiel kommen sprachspielerische, gar experimentell verfahrende Texte, die sowohl Juroren als auch das Publikum vor Rätsel stellen, selten vor. In der Anthologie sind sie sogar ab 2000 praktisch nicht mehr zu finden. Tomer Gardis diesjähriger Beitrag in gebrochenem Deutsch ist insofern als ›riskanter‹ Beitrag zu sehen, der entsprechend kontrovers diskutiert wurde und die Veranstaltung in jedem Fall belebt hat. Und auch Dieter Zwickys Beitrag, der zwar eine Krebserkrankung thematisiert, ansonsten aber sprachlich opulent ein wenig ins Phantastische changiert und so ein eigentlich vertrautes Thema neu darstellt, weicht vom Bekannten ab. Dass der Text mit dem Kelag-Preis prämiert wurde, zeigt die Wertschätzung der Jury gegenüber dem moderat Innovativen.
Mich persönlich haben besonders zwei Texte interessiert, weil sie zumindest nach meinen Leseerfahrungen tatsächlich etwas ›wagten‹: Bastian Schneider stellte Kurzprosastücke vor, Textminiaturen, die Momente des Alltags und Stadtlebens auf kleine Ausschnitte fokussierten. Diese den Inhalt verdichtende Form kommt tatsächlich sehr selten vor, sie ist in der Anthologie lediglich 14 Mal zwischen 1978 und 1992 zu finden. Zudem griff Isabelle Lehn das Thema des Afghanistankrieges aus ungewohnter Perspektive auf, indem ein arbeitsloser Deutscher in einem Camp der US-Armee, die sich auf den Kriegseinsatz vorbereitet, als Statist arbeiten muss und die sozusagen simulierten Kriegsfolgen verarbeiten muss. Einen Preis hat keiner von beiden erhalten, aber zumindest Isabelle Lehn haben die Juroren in die Shortlist, also in die Anthologie, aufgenommen.
Es wäre dem Wettlesen zu wünschen, dass Burkhard Spinnens Worte immer wieder Gehör bei den einladenden Juroren fänden, wenngleich die Wahl eines weniger ›riskanten‹, also weniger überraschenden Textes nicht die qualitativ schlechtere sein muss. Denn auch die Unterhaltung sollte bei Literatur nicht zu kurz kommen und ein mit weniger Leseaufwand rezipierbarer Text kann gleichermaßen ›gut gemacht‹ und interessant sein. Jedoch: Ein Wettlesen gänzlich ohne Wagnis riskiert, fad zu werden. Und gerade das Austarieren zwischen dem Vertrauten und dem ›Innovativen‹, das neue Sichtweisen, Blickwinkel und Meinungen eröffnet, ist meines Erachtens die Stärke des Wettbewerbs, die es zu bewahren lohnt.
Karin Röhricht, 27.07.2016
Foto: ORF/Johannes Puch