Fürchtet euch! Nicht?
subject_06: Angst | Was ist das eigentlich, Angst? Was „subjektive Sicherheit“? Was sagt die Literatur? Die Psychologie? Und Gott, hat er auch etwas beizutragen? Eine Spurensuche.
News-Redaktion der Uni Innsbruck
Juni 2018
Die einen brettern mit mörderischem Tempo den Berg hinunter, die anderen fürchten sich bei jedem Schritt vor die Wohnungstür. Die einen haben Angst vor der Zukunft, die anderen sorgen sich vor nichts: Emotionen bestimmen unser Leben und Angst, ja, die natürlich erst recht. Innsbrucker Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen zeigen ihren Zugang zu dieser speziellen Emotion: Warum Angst etwa für die atomare Abrüstung wichtig ist und wir eine starke Zivilgesellschaft brauchen, auch und gerade in angsterfüllten Wahlkampf-Zeiten, zeigen Politikwissenschaftler, und wieso wir keine Angst vor Gott haben brauchen, ein Theologe. Den Umgang der Literatin Friederike Mayröcker mit Angst beleuchten wir ebenso wie die eingangs erwähnten furchtlosen Downhill-Mountainbiker. Und überhaupt, was ist Angst eigentlich und was macht sie im Kopf? Eine Psychologin und ein Hirnforscher haben darauf Antworten.
London, Paris, Nizza, Berlin, München: Schauplätze von Anschlägen in jüngerer Vergangenheit. Das schlägt sich auch im Sicherheitsgefühl nieder, wie zum Beispiel eine Umfrage aus 2016 zeigt: 88 Prozent der befragten Österreicherinnen und Österreicher gaben damals laut der Agentur „Research Affairs“ an, sich vor Terroranschlägen zu fürchten. Wie umgehen mit dieser Angst? „Sicherheit oder Unsicherheit sind intersubjektive, gesellschaftliche Phänomene. Angst spielt dabei natürlich eine wichtige Rolle, weil sie Einfluss auf das Sicherheitsempfinden hat. Die Politik kann Angst und Unsicherheit gezielt nutzen, um außerordentliche Maßnahmen zu erwirken“, sagt Dr. Franz Eder vom Institut für Politikwissenschaft – er forscht unter anderem zu Terrorismus und den Maßnahmen, die Staaten dagegen ergreifen. „Beim Kampf gegen den Terrorismus sehen wir das ganz deutlich: Terrorismus wird als außerordentliche Bedrohung für den Bestand der Gesellschaft dargestellt. Da verlangt der Staat nach Mitteln, die die Bevölkerung sonst nicht gewähren würde, ganz zuvorderst mehr Überwachungsmöglichkeiten. Keine Bevölkerung will vom Staat überwacht werden, mit dem Argument ‚Mehr Sicherheit‘ wird aber genau das gewährt.“ Angst wirkt allerdings auch positiv. Dr. Martin Senn, Leiter des Instituts für Politikwissenschaft, arbeitet zu Rüstungskontrolle und nuklearer Abrüstung: „Plakativ gesprochen: Angst führt zu Rüstungskontrolle. Zum Beispiel Angst der Bevölkerung vor Atomschlägen: Die Menschen, die in den 80er-Jahren in Deutschland zu hunderttausenden demonstriert haben, waren von der Angst vor einem Atomkrieg getrieben und haben Druck auf politische Entscheidungsträger ausgeübt. Die Angst vor einer Eskalation der nuklearen Rüstungsdynamik – vor allem mit Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa – hat schließlich politische Entscheidungsträger zu Maßnahmen der Rüstungskontrolle bewogen.“
Katalysator Angst
Angst, vor allem Angst vor Kontrollverlust, kann nukleare Abschreckung stabilisieren. „Wenn die politischen Eliten von Nuklearstaaten keine Angst vor einer Eskalation haben, dann werden sie eher geneigt sein, Nuklearwaffen einzusetzen. Nicht zuletzt deshalb ist Angst ein sehr wichtiger Motivator, wenn es um Rüstungskontrolle geht. Angst ist hier sozusagen ein Kooperationskatalysator“, erläutert Martin Senn. Angst vor einer Eskalation habe im Kalten Krieg letztlich die für unvermeidbar gehaltene Eskalation mehrfach verhindert, sind sich beide Politikwissenschaftler einig: Zum Beispiel in der Kuba-Krise.
Wohin dagegen die Sicherheit, der Krieg werde schon nicht eskalieren, führen kann, zeigt der Erste Weltkrieg, wie Martin Senn erläutert: „Beim Ersten Weltkrieg waren sich alle sicher, dass es keinen großen Krieg geben wird. Der Beginn des 20. Jahrhunderts war das Zeitalter einer massiven ökonomischen Globalisierung, Transport und Kommunikation über große Distanzen wurden möglich. Die Welt ist zusammengewachsen, das war eine Zeit, wo alle Staaten geglaubt haben, es kann keinen großen Krieg mehr geben. Und nicht zuletzt diese Überzeugung, es werde schon nicht so schlimm, hat direkt in die Katastrophe geführt.“
Faktor Emotion
Neben der Angst spielen Emotionen generell eine zentrale Rolle bei menschlichem Handeln. Für Entscheidungen politischer Eliten gilt letztlich das gleiche wie im privaten Bereich: Je emotionaler man eine Situation sieht, desto eher neigt man dazu, Handlungsmöglichkeiten zu übersehen. So fällt zum Beispiel die Entscheidung für den Irak-Krieg 2003 in einem stark emotionalisierten US-Kabinett, für das die Mitschuld des Irak an 9/11 völlig außer Zweifel steht. Auch die unmittelbare Reaktion auf 9/11 ist ein Beispiel: „Bei der Terrorgesetzgebung in den USA ab den Anschlägen vom 11. September 2001 werden Schnellschüsse gemacht, die Exekutive setzt den Kongress unter Druck und auch die Abgeordneten in Repräsentantenhaus und Senat wagen es nicht, teilweise aus Angst, dagegen zu stimmen. Auch, weil sie dann als unpatriotisch dargestellt würden“, sagt Franz Eder. Nun gibt es für die Forderung nach mehr Überwachung auch rationale Gründe für eine staatliche Exekutive, wie Franz Eder erläutert: „Gerade im Kampf gegen Terrorismus ist es für Regierungen vollkommen rational, mehr Gegenmaßnahmen zu fordern. Die Regierenden müssen Entscheidungen treffen, deren Auswirkungen sie erst später feststellen können. Sie wissen nicht, wie gefährlich die Situation gerade wirklich ist. Als Reaktion können sie entweder untätig bleiben oder Maßnahmen fordern. Wenn sie nichts tun und es kommt zu einem Anschlag, wird ihnen später vorgeworfen, nicht die nötigen Schritte gesetzt zu haben. Deshalb ist die Forderung nach mehr Mitteln natürlich rational – eine Art Immunisierungsstrategie sozusagen.“
Zivilgesellschaft
Um überschießende Reaktionen der Politik zu verhindern, plädieren Martin Senn und Franz Eder für mehr Ehrlichkeit – und für zivilgesellschaftliches Engagement: „Absolute Sicherheit gibt es nicht, kann es nicht geben und sie ist auch gar nicht wünschenswert. Am Ende stünde ein totalitärer Staat, der seine Bürgerinnen und Bürger dauernd überwacht“, sagt Martin Senn. „Dass Regierende, egal von welcher Partei, an der Macht bleiben wollen und auch sehr viel dafür tun, liegt in der Natur der Sache. Regierende werden also auch in diesem Fall von der Angst getrieben, nämlich der Angst, ihr politisches Amt und damit Macht zu verlieren. Diese Angst der Eliten führt dazu, dass man die Regierenden auf Kosten der Zivilgesellschaft zu stärken versucht. Da liegt es eben auch an der Zivilgesellschaft, Widerstand zu leisten und um Einflussmöglichkeiten zu kämpfen. Je mehr die Zivilgesellschaft ihre Einflussmöglichkeiten verliert, desto einfacher tun sich jene, die regieren, sich auszuleben“, ergänzt Franz Eder: „Die Ehrlichkeit, zu sagen, dass absolute Sicherheit in einer liberalen Demokratie nicht existieren kann, ist auch eine Bringschuld der Politik – und die Zivilgesellschaft muss Politiker akzeptieren, die zugeben, dass sie eben nicht alles kontrollieren können. Ein Mangel an Sicherheit und meinetwegen auch Angst gehören dazu.“
Von Haien und Wahlentscheidungen
„Angst und das Spielen der Politik mit der Angst kommt in Wahlkampagnen immer wieder vor“, sagt Prof. Marcelo Jenny vom Institut für Politikwissenschaft. Terroranschläge oder Naturkatastrophen seien hier nur als zwei prominente Beispiele genannt. „Wir wissen aus der Wahlforschung, dass vieles, das auf die Wahlentscheidung von Menschen Einfluss nimmt, irrational ist. Das gilt auch für den Umgang von Wählerinnen und Wählern mit der Angst. Die zentrale Frage ist häufig gar nicht das Angstgefühl selbst – sondern wem die Schuld für ihren Auslöser gegeben wird“, erklärt der Politikwissenschaftler. Die prominenten US-amerikanischen Wahlforscher Christopher Achen und Larry Bartels haben dazu in ihrem Buch „Democracy for Realists“ (2016) ein historisches Beispiel vorgestellt. Im Sommer 1916 kam es vor Badeorten an der Ostküste in New Jersey zu Haiattacken, denen mehrere Menschen zum Opfer fielen. „Um das Thema entstand ein riesiger Medienhype und auch die nationale Innenpolitik befasste sich damit. Im Herbst stand die Präsidentschaftswahl an, bei der Präsident Woodrow Wilson für seine Wiederwahl kandidierte. Die Autoren zeigen, dass diese Haiattacken Einfluss auf das Wahlverhalten genommen haben. Die Küstenregion hatte mit einem massiven Einbruch des Badetourismus zu kämpfen und die lokale Bevölkerung strafte Amtsinhaber Wilson an der Wahlurne ab. Da stellt sich die Frage: Wie kann man die Politik für ein zufälliges, seltenes Ereignis wie eine Haiattacke verantwortlich machen, zu einer Zeit, in der es keine Mittel gab, diese zu verhindern?“
Das Verhaltensmuster, dass politische Amtsträgerinnen und Amtsträger auch bei nicht zu verhindernden Naturkatastrophen an den Tag legen, zeigt sich immer wieder. „In politischen Krisenbewältigungsstrategien für ohnehin schon extrem herausfordernden Situationen geht es darum, dass einem nicht der sprichwörtliche Schwarze Peter zugeschoben wird. Das Motto lautet dann: Konnte es schon nicht verhindert werden, dann muss es wenigstens gut gemanaged werden“, so Jenny.
Angst und Medien
Egal welche angstauslösenden Aspekte auf Grund aktueller Ereignisse oder auch grundsätzlich in der Bevölkerung präsent sind, für Marcelo Jenny kommt den Medien eine zentrale Rolle zu. „Wir haben eine medialisierte Politik. Den Großteil der politischen Themen nehmen wir über die Vermittlung durch die Medien wahr und identifizieren so die möglicherweise problematischen Bereiche, in denen die Politik aktiv werden sollte. Welche Probleme diese Tatsache mitbringt, wenn wir uns die emotionalisierte Berichterstattung mancher Medien ansehen, liegt auf der Hand. An der Stelle sind wir dann bei der Verantwortung, die jede Bürgerin und jeder Bürger hat: Wie sind meine Informationsquellen einzuschätzen?“
Der systematische Theologe Jozef Niewiadomski sieht die Angst als ein menschliches Phänomen, das mithilfe von Glauben bewältigt werden kann – auch wenn der Umgang mit Angst in der Religionsgeschichte ambivalent war.
Welche Rolle spielt Angst in der Religion?
Jozef Niewiadomski: Angst ist etwas zutiefst Menschliches. In Bezug auf den Glauben hat der Religionswissenschaftler Rudolf Otto die Kurzformel geprägt, dass das Göttliche ein Mysterium tremendum et fascinosum sei – also ein erschreckendes und faszinierendes Geheimnis zugleich. Menschen erleben das Göttliche in allen Religionen als etwas, das an sie herantritt, sie bedroht, und sehr fordernd ist, deswegen bekommen sie Angst. Gleichzeitig sind sie aber fasziniert davon. Aus dieser Angst vor dem Göttlichen entspringen auch die Bemühungen aller Kulturen um Vermittler, um nicht direkt mit dem Göttlichen in Verbindung treten zu müssen. Dies können verschiedenste Mittel sein: Zauberei, Symbole oder Priester.
Wie ist es in der christlichen Tradition? Wurde hier die Angst vor dem Göttlichen nicht auch lange benutzt, um die Menschen dazu zu bringen, sich an die vorgegebenen Regeln der Kirche zu halten?
Niewiadomski: Die Instrumentalisierung der Angst in der Geschichte der Kirche ist etwas, was ich nicht verdränge. Natürlich hat es das auch gegeben. Die Tatsache, dass man mit Angst Geschäfte machen kann, kannten und kennen alle Machthaber bis heute nur zu gut. Und auch die Medien bedienen sich dieser „Zauberformel“ sehr gekonnt. Die dunkelste Seite der Religion ist die Vorstellung, dass Gott nur ein gnadenloser Richter ist, vor dem man Ende seines Lebens steht. Religion ist aber viel mehr. Religion wird in der Öffentlichkeit heute oft nur die Funktion zugesprochen, dafür zu sorgen, dass die Menschen ordentlich sind. Wenn Glauben aber auf diese Weise auf Ethik reduziert wird, arbeitet man genau diesem Zerrbild der Religion entgegen. Dann gibt es einen Inquisitor in mir, der mich 24 Stunden überwacht.
„Die Tatsache, dass man mit Angst Geschäfte machen kann, kannten und kennen alle Machthaber bis heute nur zu gut.“
Jozef Niewiadomski
Wo liegt dann Ihrer Meinung nach der Mehrwert des Glaubens in Bezug auf die Ethik?
Niewiadomski: Die primäre Funktion der Religion ist für mich nicht, den inneren Polizisten im Menschen zu beleben, sondern ihm zu helfen, auch mit seinem Versagen fertig zu werden. Meiner Meinung nach setzt die Funktion der Religion genau dort ein, wo die Ethik versagt hat. Bei allen therapeutischen Bemühungen, die Angst eines Menschen zu mindern, weil er versagt hat, weil er seinen Bemühungen nicht gerecht wird, gibt es eine Strategie, die von der Psychologie nicht geleistet wird und nicht geleistet werden kann: die Schuldvergebung. Die fundamentalste und wichtigste Rolle der Religion ist für mich, Vertrauen zu stärken und Angst zu mindern.
Ein gläubiger Mensch muss sich also nicht vor Gott fürchten?
Niewiadomski: Durch die Menschwerdung Gottes im Neuen Testament, in der Jesus ein Bild von Gott als vergebenden Vater lehrt, der für seine Kinder sorgt, sieht man, dass das Vertrauen zu Gott im Vordergrund steht. Die wahre Revolution in der Tradition des christlichen Glaubens ist aber die Geschichte im Ölgarten: Jesus hat Angst, er hat die schlimmste Angst für uns durchlitten und damit sind wir nicht allein mit ihr. Nach der Auferstehung war dann auch eine der wichtigsten Botschaften Jesu „Habt keine Angst“ und das ist alles andere als banal. Mit dieser Haltung sind schon ganze Reiche gestürzt worden.
Das heißt, Angst war in der Geschichte der Kirche nicht nur Mittel zum Zweck?
Niewiadomski: Ich bestreite nicht, dass es über lange Strecken die Oberlinie der Kirche war, zu disziplinieren. Was aber schnell vergessen wird: Die Kirche hat nie in ihrer Tradition ein Verdammungsurteil ausgesprochen. Die allerletzte Antwort der Kirche war trotz allem – selbst bei den schlimmsten Verbrechern – dass man diesen Menschen der göttlichen Barmherzigkeit überlässt. Die Kirche hat zwar die Hölle angedroht, weil man halt glaubte, dass man dadurch Menschen vor einer ethischen Katastrophe bewahren kann. Das allerletzte Wort hatte aber immer die Barmherzigkeit Gottes.
„Die fundamentalste und wichtigste Rolle der Religion ist für mich, Vertrauen zu stärken und Angst zu mindern.“
Jozef Niewiadomski
Wie stehen Sie zu der gesellschaftlichen Entwicklung, Religion immer weniger öffentlichen Raum zuzugestehen?
Niewiadomski: Als Theologe will und muss ich darauf aufmerksam machen, dass es sehr leicht ist, der Kirche die Rolle eines Sündenbocks zu geben. Das ist eine Strategie, die seit den 70er Jahren in einem Land wie Tirol dazu diente, dass sich Menschen aus den Fesseln einer engen Religion befreit haben. Dagegen ist nichts zu sagen. Die Frage, die sich mir stellt, ist: Was passiert, wenn man sich befreit hat? Eine Befreiung sagt noch gar nichts über die Qualität des Lebens aus. Die kirchliche Kulturrevolution fand größtenteils so statt, dass man die Religion an den Pranger stellte und darin die Ursache allen Übels gesehen hat. Wir leben aber nicht in einem wertneutralen Raum. Mein Hauptforschungsgebiet sind Sündenbock-Strategien. Diese sind die einzigen Strategien zur scheinbaren Lösung von Problemen, weil sie entlasten – zumindest scheinbar. Heute wird jede politische Instabilität bewältigt, indem man schnellstmöglich einen Verantwortlichen findet und so glaubt, das Problem bewältigt zu haben. Es ist aber nicht bewältigt, es ist noch nicht einmal benannt. Diese Sündenbock-Strategien sind verführerisch, um sich selbst freizusprechen. Wenn aber eine Kultur dazu verkommt, nur noch nach dieser Strategie zu leben, ist sie in kürzester Zeit weg vom Fenster, weil sie keine Kräfte besitzt, sich zu regenerieren.
Friederike Mayröckers Lyrik handelt oft von Angst und Trauer. Die große österreichische Autorin versprachlicht diese Gefühle auf eine besonders intensive Weise. Die Literaturwissenschaftlerin Eleonore De Felip erklärt, wie Intensität entsteht und welche Ängste Mayröckers lyrisches Ich mit den Leserinnen und Lesern teilt.
„Meine Studentinnen und Studenten wundern sich im Vorfeld manchmal, dass wir eine ganze Lehrveranstaltungseinheit lang über ein Gedicht sprechen. Nach eineinhalb Stunden finden sie das nicht mehr erstaunlich, sind sogar begeistert“, erzählt Dr. Eleonore De Felip eine kleine Anekdote, die viel über die sprachliche und inhaltliche Dichte von Friederike Mayröcker aussagt. Eleonore De Felip bezeichnet diese Dichte als „lyrische Intensität“ und meint mit Intensität ein in der Psychologie und Philosophie etabliertes Konzept, das sie für die Literaturwissenschaft und ganz konkret für Mayröckers Lyrik adaptieren will. „Es passt perfekt zu Mayröckers poetischer und persönlicher Lebenshaltung: Sie ist eine hochsensible Person und kann diese Wahrnehmungsbegabung auch wunderbar in Worte fassen“, erläutert De Felip. Sie forscht aktuell im Rahmen eines Elise-Richter-Stipendiums am Brenner-Archiv über die vielfach ausgezeichnete, 1924 in Wien geborene Grande Dame der österreichischen Literatur, Friederike Mayröcker.
„Sprachliche Intensität hat mit der Deterritorialisierung von Sprache zu tun, mit der Entfernung der Sprache aus ihrem ‚eigentlichen‘ Feld, das heißt aus fixierten Bedeutungen.“
Eleonore De Felip
Hochsensible – Hochsensibilität ist ein wissenschaftlich viel diskutiertes und zunehmend auch neuropsychologisch untersuchtes Phänomen – nehmen in Sekunden viel mehr Sinneseindrücke auf als andere. Licht, Geräusche oder taktile Empfindungen werden stärker wahrgenommen und verarbeitet. „Auch das ganze Gefühlsspektrum ist bei Hochsensiblen intensiver, natürlich auch Trauer und Angst, die bei Mayröcker untrennbar verbunden und ein großes Thema sind“, sagt die Mayröcker-Expertin De Felip und ergänzt: „Ihre Intensität ist jedoch nicht nur eine perzeptive und emotionelle, sondern auch eine intellektuelle, die aus der Beschäftigung mit ‚schwierigen‘ Schriftstellern und Philosophen resultiert.“ Alle diese Aspekte von Intensität schlagen sich sprachlich nieder und sind Gegenstand von De Felips Forschungen. „Sprachliche Intensität hat mit der Deterritorialisierung von Sprache zu tun, mit der Entfernung der Sprache aus ihrem ‚eigentlichen‘ Feld, d.h. aus fixierten Bedeutungen“, erklärt De Felip den Ansatz der französischen Philosophen Deleuze und Guattari, den diese in der Auseinandersetzung mit Kafkas Sprache entwickelt haben. „Deterritorialisierung erzeugt Spannung, Fremdheit, Überraschung und auch eine Nicht-Auflösbarkeit, die auch für Mayröcker typisch ist.“ Und weil Eleonore De Felip der Ansicht ist, dass man über Friederike Mayröcker nicht sprechen kann, ohne über ihre Texte zu sprechen, weist sie auf ein Gedicht hin, in dem „wunderbar zentriert“ Basisängste von Mayröckers lyrischem Ich benannt werden, und das darüber hinaus die vielschichtigen Intensitäten von Mayröcker offenbart:
Wie vielschichtig Mayröckers Sprache ist, zeigt sich schon im Titel des Gedichts und dort in den ersten Worten: „Hysterie“ stellt eine Verbindung zu einer, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, angeblich typischen Frauenkrankheit her. Das lyrische Ich verwendet den Begriff „Hysterie“ für eine alltägliche Basisangst, die Angst, nicht geliebt zu werden. „Dazu muss man wissen, dass Hysterie ein Krankheitsbild ist, das Männer Frauen zu geschrieben haben: Die ‚hysterischen' Damen zu Freuds Zeit waren eigentlich nicht wirklich krank, sondern wurden von den damals herrschenden strengen gesellschaftlichen Normen zu ‚Verrenkungen‘ gezwungen, um ihre Not auszudrücken“, erklärt De Felip anhand des Titels das gleichermaßen komplexe wie transparente Gedicht.
Die Situation, die sich im Gedicht abspielt, ist eine typische Mayröcker-Situation, die von außen betrachtet völlig unspektakulär ist: Das lyrische Ich beobachtet eine Fliege auf dem Küchentisch. Was ihm dann widerfährt, ist jedoch alles andere als gewöhnlich: es identifiziert sich mit diesem kleinen, verfolgten Geschöpf, empfindet tiefe Empathie, erinnert sich an den „unwürdigsten Tod“ der Fliegen auf den Honigfallen in der Kindheit, äußert seine eigene Angst, einen solchen Tod sterben zu müssen. „Die Angst, langsam zu sterben, zu krepieren wie die Fliege, ist eine Basisangst von Mayröckers lyrischem Ich“, erläutert De Felip und ergänzt. „Das Wort ‚unwürdig‘ in Hinblick auf die Fliege ist ein gutes Beispiel für Mayröckers außergewöhnliche Empathie für die gequälte Kreatur, für ihre emotionelle und sprachliche Intensität.“
Glückliche Melancholie
Aber nicht nur die Angst vor dem eigenen Tod, sondern auch die Trauer und Angst um den Tod der Anderen, besonders über den Tod ihres 2000 verstorbenen Lebensgefährten Ernst Jandl ist ein immer wiederkehrendes Motiv; ebenso kennzeichnen Trauer und Angst um den eigenen schwindenden Genius die späte Lyrik der heute 93-jährigen Mayröcker. Sie wird im erwähnten Beispiel als „Angst, nicht mehr schreiben zu können“ sehr explizit angesprochen. „Das Schöne an Mayröcker ist aber, dass ihre Angst und Trauer immer ambivalent sind: Man spricht bei Mayröcker von glücklicher Melancholie oder auch von melancholischem Glück“, sagt De Felip. Ein besonders eindrückliches Beispiel für Mayröckers ‚ekstatische‘ Angst sei das Gedicht DIES DIES DIES DIESES ENTZÜCKEN ICH KLEBE AN DIESER ERDE, das am 4. Juni 2000 entstand, wenige Tage vor Ernst Jandls Tod:
DIES DIES DIES DIESES ENTZÜCKEN ICH KLEBE AN DIESER ERDE aus: Gesammelte Gedicht 1939-2003 (Suhrkamp 2004) Live-Aufnahme von Peter Macheiner am 24. Juni 2016 im Rahmen eines Orgelkonzerts von Peter Planyavsky, Institut für Orgel, Orgelforschung und Kirchenmusik
„Die Verse des Gedichts sind Ausdruck eines scheinbar paradoxen emotionellen Zustands, den man als ekstatische Verzweiflung umschreiben könnte. Im Zustand der extremen Angst scheint der Augenblick still zu stehen“, verdeutlicht Dr. Eleonore De Felip noch einmal die Grundstimmung in Friederike Mayröckers Lyrik.
Angst vor einer falschen Bewegung. Angst vor dem Ungewissen. Angst vor dem Versagen. Angst vor der lähmenden Panik. Diese und ähnliche Gefühle und Situationen kennen Leistungs- und Risikosportlerinnen und -sportler. Am Absprung beim Base-Jumping, in der Wand beim Free Solo Klettern, Big-Wave-Surfen, Freeriden oder beim Downhill-Biken ist die Angst als solche jedoch nicht präsent. Sie wird von Risikosport ausübenden Personen vielmehr als Respekt beschrieben, der die Konzentration steigert und die maximale Leistung der Sportlerinnen und Sportler fordert. Angst kann auch in Panik umschlagen und blockieren. Der Körper ist trainiert und der Verstand geschärft. Weil aber oft unklar ist, wie sich die Umweltbedingungen während der Aktivität entwickeln werden, bleibt ein Restrisiko. Die Rolle der Angst im Sport ist ein zentrales Thema der Forschung von Martin Kopp, Professor am Institut für Sportwissenschaft.
„Angst wird gerade im Risiko- und im Leistungssport zweischneidig diskutiert. Ein gewisses Aktivierungsniveau ist positiv. Kommt sie aber über ein bestimmtes Level, dann kann sie auch lähmen und die Situation kann lebensgefährlich werden.“
Martin Kopp
Auch Leistungssportlerinnen und -sportler empfinden Angst vor Wettbewerben. Die Angst vor Enttäuschungen oder davor, nicht die entsprechende Leistung zu bringen, begleitet viele. Mithilfe von spezifischen Entspannungs- und Visualisierungstechniken wird versucht, den Athletinnen und Athleten in der Situation bestmöglich zu helfen.
Schutzmechanismus
Angst ist biologisch sehr sinnvoll und gerade im Risikosport ein wertvoller Indikator. Solange die Menschen Angst empfinden, gehen sie tendenziell nicht über eine gewisse Dimension hinaus und werden ihr Verhalten entsprechend wählen. So wird sie zu einem wertvollen Schutzmechanismus, ist Auslöser zum Ziehen der Bremse und Motivator zum Umdrehen in extremen Situationen. Andererseits könnte in unpassenden Momenten ein übersteigertes Angstempfinden auch Panik auslösen.
„Sportlerinnen und Sportler versuchen die blockierende Angst zu vermeiden. Wenn sie wirkliche Angst empfinden, dann ist etwas schief gegangen.“
Anika Frühauf
Die Sportwissenschaftlerin Anika Frühauf hat Risikosportlerinnen und -sportler unter anderem über ihr Angstempfinden befragt. Mit der Zeit gewöhnen sie sich allerdings an angstauslösende Situationen und weiten so die Grenzen immer weiter aus. „Wir sprechen hier von einer Habituation und beobachten eine Tendenz zur Verhaltensmaximierung, je öfter Situationen erlebt und positiv bewältigt werden“, so Kopp. Besonders bei Basejumpern kann man die Habituation der Angst besonders gut beobachten, erklärt Frühauf: „Angst hatten die meisten vor ihrem ersten Base-Sprung, weil sie nicht wissen, was auf sie zukommt. Trotz Trainings und perfekter Vorbereitung bleibt es im Endeffekt ein Sprung ins Ungewisse. Nach der Überwindung des Absprungs wechselt der Körper in lange trainierte Automatismen. Erst nach der erfolgreichen Landung wissen sie, dass sie die Situation körperlich und geistig beherrschen und zukünftig keine Angst mehr haben müssen.“ Die Expertin und der Experte sprechen über die Angst auch im Sinne von Respekt vor dem Wissen, dass die Situation gefährlich ist. „Angst ist nicht immer gut und nicht immer schlecht. Haben Sportlerinnen und Sportler zu wenig Respekt vor der Situation, dann ist auch ihre Konzentration geringer und es kann zu fahrlässigen Fehlern führen, die in der risikobehafteten Situation sehr gefährlich bis tödlich sein können. Andererseits ist ein hohes Angstlevel auch lähmend und blockiert klare Gedanken“, erläutert Kopp, der verdeutlicht, dass ein ausgewogener und angemessener Respekt für die Sportlerinnen und Sportler am besten ist.
Kontrolle
In kaum einem anderen Lebensbereich sind sich die Risikosportlerinnen und Risikosportler ihres Tuns so sicher, wie in ihrem Sport. Höchste technische Perfektion, ein großes Wissen über mögliche Risiken und körperliche Bestform befähigen die Sportlerinnen und Sportler in ihrem Bereich an die Grenzen des Möglichen zu gehen. „Im Risikosport sehen wir neben der perfekten Vorbereitung auf die Situation eine vollkommene Auslastung und Konzentration. Die Außenwahrnehmung von leichtsinnigen Waghalsigen ist eine falsche“, betont der Sportwissenschaftler. In ihrem Tun sind sie sich jeder Bewegung bewusst. Trainiert werden die Abläufe, mögliche Ausstiegsszenarien sowie die genauen Abläufe im Sport. Eine weit verbreitete Technik für eine bestmögliche Vorbereitung ist die Visualisierung. „Die vollendete Perfektion sehen wir bei den Free Solo Kletterern. Bevor sie in die Wand einsteigen haben sie jede einzelne Bewegung, jeden Griff und jeden Zug verinnerlicht“, so Frühauf. Viele unterschiedliche Parameter sind dafür verantwortlich, dass Menschen zu extremen Leistungen motiviert werden. „Früher hat man von der Suche nach dem sogenannten ‚Kick‘ gesprochen. Heute sehen wir das vielseitiger. Es sind Faktoren wie das Naturerleben, das Überwinden der eigenen Gefühle und das positive Erleben der Situationen sowie die Verlässlichkeit der Partner, mit denen der Sport ausgeübt wird. All dies erhöht die Wahrscheinlichkeit der Wiederausübung“, erklärt Kopp. Anders als vermutet tendieren Risikosportlerinnen und -sportler im Alltagsleben nicht zu riskantem Verhalten. „Gerade der Straßenverkehr ist für viele viel unvorhersehbarer als das kalkulierte Risiko beim Freeriden. Auch ein sicherer Job oder Sicherheit im Finanzbereich ist für viele wichtig“, so der Wissenschaftler, der beobachtet, dass es generell eine steigende Quote von Menschen im Risikosport gibt.
„Irgendwo im sicheren Alltagsleben wird offenbar eine Gefahr gesucht. Wir sprechen hier von einem gesellschaftlichen Phänomen, das im Gesamtkontext gesehen werden muss und Risikosport auch ein Resultat einer Wohlstandsgesellschaft sein kann.“
Martin Kopp
Egal ob die Angst vor dem Risiko oder vor einer Wettkampfsituation – als Aktivierung und als Warnsignal ist sie für Sportlerinnen und Sportler leistungssteigernd bis lebensnotwendig.
Gestörte Angst
Aktivierung und Warnsignal ist Angst nicht nur im Extremsport. „Psychologisch betrachtet ist Angst eine lebensnotwendige Funktion“, erklärt Prof. Anna Buchheim vom Institut für Psychologie.
„Aus der Evolutionsbiologie wissen wir, dass uns Angst auf die Flucht vorbereitet und uns in Gefahrensituationen eine blitzschnelle Reaktion ermöglicht. Außerdem schützt uns Angst davor, uns überhaupt erst in lebensbedrohliche Situationen zu begeben.“
Anna Buchheim
Ein gesundes Maß an Angst ist also wichtig und sichert unser Überleben. Trotzdem kann Angst auch zum Problem werden. Nämlich dann, wenn der Angstreiz nicht mehr verschwindet und er uns in unserem täglichen Leben einschränkt. Werden beispielsweise bestimmte Situationen, Tätigkeiten oder Örtlichkeiten, die eigentlich keine Bedrohung darstellen, aus Angst gänzlich vermieden, dann spricht man in der Psychologie von Angststörungen. Diese lassen sich in drei große Bereiche gliedern: Phobien, Panikstörungen und generalisierte Angststörungen.
Phobie
Bei der spezifischen Phobie konzentriert sich die Angst auf einen ganz bestimmten Gegenstand, ein Tier oder eine bestimmte Situation. Obwohl die Person sich darüber bewusst ist, dass die Angst übertrieben und unbegründet ist, meidet sie Situationen, in denen sie dieser Angst ausgesetzt wäre. Eine Konfrontation ist nur unter starker Angst zu ertragen. Neben der spezifischen Phobie gibt es auch die soziale Phobie. Betroffene vermeiden es, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen oder bestimmte Dinge wie etwa Essen oder Sprechen in der Gegenwart anderer zu tun. Damit möchten sie verhindern, möglicherweise von anderen bewertet zu werden. Besonders häufig tritt diese Form der Phobie bei Jugendlichen auf.
Panikstörung
Plötzliche und ohne Grund auftretende Panikattacken werden als Panikstörung bezeichnet. Ohne dass eine reale Gefahr besteht, erleben Betroffene intensive Angst, die sich auch körperlich feststellen lässt. So sind beispielsweise ein beschleunigter Herzschlag, Schwitzen oder Zittern häufige körperlichen Begleiterscheinungen einer Panikattacke. Spricht man von einer Panikstörung, haben Betroffene auch nach einer solchen Attacke noch Folgeerscheinungen wie etwa die anhaltende Sorge über das erneute Auftreten einer Panikattacke oder einen körperlichen oder psychischen Schaden davon getragen zu haben.
Generalisierte Angststörung
Personen, die an einer generalisierten Angststörung leiden, haben ununterbrochen Angst, dass etwas Schlimmes passieren könnte. Sie können nicht damit aufhören sich ständig Sorgen zu machen und sich ihre schlimmsten Befürchtungen auszumalen. Betroffene haben keine Kontrolle mehr über ihre Angst und leiden unter körperlichen Begleiterscheinungen wie beispielsweise Reizbarkeit, Ruhelosigkeit oder Schlaflosigkeit.
Generationenübergreifende Angst
Anna Buchheim untersucht als Psychoanalytikerin, klinische Bindungsforscherin und Neurowissenschaftlerin die Entstehung von Angststörungen sowie andere psychische Erkrankungen. Dabei hat sich die Psychologin auf den Einfluss von unsicheren Bindungserfahrungen spezialisiert, die als Auslöser von Angststörungen wirken können. Sie untersucht die generationenübergreifenden Auswirkungen von früheren oder späteren Verlusterfahrungen und traumatischen Erlebnissen aus der Kindheit. „In der Bindungstheorie geht man davon aus, dass die Qualität einer Bindung im Kindesalter stark von der Interaktion mit einer Bindungsperson abhängt und davon wie die Eltern ihre eigenen Bindungserfahrungen verarbeitet haben“, erklärt die Psychologin. „In einer Studie haben wir herausgefunden, dass Mütter mit einer diagnostizierten Angststörung ihre Bindungsunsicherheit an die Kinder weitergeben“, so Anna Buchheim. Besonders im ersten Lebensjahr brauchen Kinder eine feinfühlige Beziehung zu einer Vertrauensperson als sichere Basis. Können sie sich auf diese nicht verlassen oder haben sie sogar Angst vor ihr, kann dies zu Unsicherheiten, Verhaltensauffälligkeiten oder einer Trennungsängstlichkeit führen und final sogar in einer Angststörung enden. Die Auswirkungen von belasteten Mutter-Kind-Bindungen auf die psychische Gesundheit von Kindern untersucht Anna Buchheim aktuell auch in einem Kooperationsprojekt mit den Universitäten Ulm und Freiburg. In ihrem Marie Skłodowska-Curie Fellowship am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) forscht Anna Buchheim zusammen mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der Psychosomatik und den Sprachwissenschaften in experimentellen Laborsituationen an Synchronisierungsprozessen von Müttern und ihren einjährigen Kindern. Damit ist die fein abgestimmte Reaktionsbreite der Mütter auf das kindliche Bindungsbedürfnis gemeint. Eine gelungene Synchronisation erleichtert dem Kind die Informationsverarbeitung und fördert die emotionale und kognitive Entwicklung. Bei Müttern, die eine Traumaerfahrung mit unterschiedlichem Schweregrad durchlebt haben, soll herausgefunden werden, warum manche Mütter mit früherer Belastung ihre negativen Erfahrungen nicht weitergeben, also resilient sind. Eine Fragestellung von Anna Buchheim ist, wie frühe verbale, vokale und körperliche Abstimmungsprozesse zwischen Mutter und Kind im Zusammenspiel mit genetischen und das Hormonsystem betreffenden Faktoren, als bedeutsame Schutzfaktoren beim Bindungsaufbau wirken.
Neue Ansätze in der Angstforschung
Alle Angststörungen, wie auch die meisten anderen psychischen Störungen, resultieren aus genetischen Komponenten, neurobiologischen Eigenheiten und Erfahrungen, die in der Vergangenheit gemacht wurden. Die häufigste Form von Angststörungen und die dritthäufigste psychische Erkrankung überhaupt sind soziale Ängste. „Dass soziale Ängste gerade in der jüngsten Vergangenheit vermehrt auftreten, lässt sich nicht automatisch mit gesellschaftlichen Veränderungen in Verbindung bringen“, erklärt Anna Buchheim.
„Soziale Ängste gab es schon immer. Ein gegenwärtig verstärkter Fokus ist wohl eher auf eine intensivere Forschung in diesem Bereich zurückzuführen. Dadurch haben Kliniker umfassendere Möglichkeiten, Diagnosen zu stellen.“
Anna Buchheim
Dazu trägt auch eine aktuelle Studie der Universität Heidelberg bei, an der Anna Buchheim beteiligt ist. „In dieser Studie haben wir untersucht, wie Bindungserfahrungen, soziale Ängstlichkeit und das Hormon Oxytocin zusammenhängen“, erklärt die Wissenschaftlerin. „Erste Befunde zeigen, dass frühe emotionale Vernachlässigung eine reduzierte Oxytocinkonzentration im Blut mit sich bringt und diese wiederum eine unsichere Bindung vorhersagt. Das geht mit einer erhöhten sozialen Angst einher“, so Anna Buchheim weiter. Oxytocin ist ein im Gehirn produziertes Hormon, das eine wichtige Rolle während und nach der Geburt hat, die soziale Bindung zwischen Mutter und Kind und auch allgemein soziales und empathisches Handeln beeinflusst. Bildgebungsstudien zeigen, dass bei Angststörungen, wie auch bei vielen anderen psychischen Störungen, die Amygdala überaktiviert ist. Erste Studien weisen nun darauf hin, dass Oxytocin dieser Hyperaktivität entgegenwirken könnte. Bevor an dem Zusammenhang mit Oxytocin geforscht wurde, ist man von einer hohen Stressvulnerabilität als Auslöser für Angststörungen ausgegangen. Auch ein Ungleichgewicht bestimmter Botenstoffe, sogenannter Neurotransmitter wie etwa Serotonin und Noradrenalin ist bei Betroffenen von Angststörungen häufig der Fall. Dass man Angst nun mit dem Hormon Oxytocin in Verbindung setzt, zeigt erneut, dass es nicht den einen Auslöser für Angststörungen gibt. Vielmehr handelt es sich um ein komplexes Zusammenspiel von im Körper entstehenden und von außen auf uns einwirkenden Faktoren.
Angst, Darm und Yoga
Wie Angstpatienten geholfen werden kann, diese Frage beschäftigt auch Prof. Nicolas Singewald. Mit seinem Team am Arbeitsbereich Pharmakologie und Toxikologie des Instituts für Pharmazie sucht er neue Strategien, um die Erfolgsquote bei der Behandlung von Angstpatienten zu verbessern. „Von den bisherigen Behandlungsmöglichkeiten profitiert ein Teil der Patienten wenig bis gar nicht und der Erfolg hält oft nicht sehr lange an“, resümiert der Forscher. Medikamentös werden Angststörungen heute vor allem mit Benzodiazepinen oder Antidepressiva behandelt. Diese bekämpfen die Symptome, greifen aber nicht an der Wurzel des Problems an. Gemeinsam mit führenden Grundlagenforschern und mit zahlreichen klinischen Forschungsgruppen sucht Singewald nach neuen Behandlungsstrategien.
„Die Fähigkeit, Angst zu empfinden, ist angeboren. Die meisten Ängste von Menschen sind aber erlernt.“
Nicolas Singewald
Furcht und Angst werden von einem Netzwerk, das von verschiedenen Gehirnregionen geformt wird, reguliert. Dazu gehören die Amygdala, der Hippocampus und der präfrontale Cortex, in denen eine fein abgestimmte Regulation durch verschiedene Botenstoffe stattfindet. Veränderte Gene und Umwelteinflüsse können dieses komplexe Angstnetzwerk aus dem Gleichgewicht bringen. „Es gibt nicht das eine Angst-Gen“, betont Nicolas Singewald. „Es sind wahrscheinlich hunderte Gene, die beim Menschen das Risiko für psychische Erkrankungen erhöhen.“ Die genetische Veranlagung macht eine Erkrankung wahrscheinlicher, Auslöser von Angststörungen sind aber in der Regel Erlebnisse wie zum Beispiel Traumatisierungen in der Kindheit oder ausgeprägter Stress. Diese Umweltfaktoren nehmen über epigenetische Mechanismen Einfluss auf die Regulation von Risiko-Genen und führen so zur Erkrankung, die sich aufgrund der möglichen Gen-Umwelt-Interaktionen individuell unterschiedlich manifestieren kann.
„Die gute Nachricht ist, dass diese epigenetischen Prozesse umkehrbar sind“, sagt Singewald. Medikamente mit epigenetischem Angriffspunkt werden – eingebettet in die FWF-Exzellenzprogamme SFB-44 und SPIN – vom Team intensiv erforscht. „Auch mit relativ einfachen Mitteln lässt sich hier gegensteuern. Das spielt auch in der Prävention von Angststörungen eine wichtige Rolle.“ Schon mit regelmäßiger Bewegung und Ausdauersport lassen sich positive Ergebnisse erzielen. Auch die Ernährung spielt hier eine wichtige Rolle, denn die Mikroorganismen im Darm haben großen Einfluss auf das Gehirn. Gemeinsam mit dem Iren John Cryan geht Singewald diesem in zahlreichen Studien nachgewiesenen Zusammenhang auch für die Angstregulation weiter auf den Grund. Was den Wissenschaftler im Moment besonders fasziniert, ist der positive Einfluss von Meditation und Yoga auf das Gehirn.
Auch das Hirn braucht Pausen
Was zunächst esoterisch klingen mag, wurde in den vergangenen Jahren dank eines standardisierten Untersuchungsprotokolls durch zahlreiche Studien wissenschaftlich untermauert. „Angstpatienten sind Getriebene ihrer Gedanken. Achtsamkeitsmeditation kann ihnen helfen, den Geist zu fokussieren. Das aktive Ruhenetzwerk im Gehirn wird so ruhiggestellt“, schildert Nicolas Singewald. Studien zeigen, dass schon nach acht Wochen graue Hirnsubstanz im Hippocampus aufgebaut wird. Die ständige Abgelenktheit, die so typisch für das Leben im Digitalzeitalter ist, und vor allem chronischer Stress können nämlich zum Abbau der Hirnsubstanz genau in jenen Regionen führen, die wesentlich am Angstnetzwerk beteiligt sind.
Als Pharmakologe ist Nicolas Singewald auch auf der Suche nach Wirkstoffen, mit denen Behandlungen von Angstpatienten medikamentös unterstützt werden können. So konnte er gemeinsam mit deutschen Kollegen zeigen, dass ein Parkinsonmedikament (L-DOPA) den Erfolg von Extinktionslernen im Rahmen von Expositionstherapien verbessert. Bei dieser Behandlungsform stellen sich Patientinnen und Patienten bewusst dem Angstauslöser und versuchen so, die Furchtreaktion zu überwinden. Die ursprüngliche Angstspur im Gehirn kann ein Leben lang erhalten bleiben, die Extinktionsgedächtnisspur hilft aber, damit umzugehen. Gemeinsam mit schwedischen Wissenschaftlern konnten Nicolas Singewald und seine Mitarbeiterin Simone Sartori auch die Wirkung einer anderen Substanz beschreiben, die angstlösend und im Gegensatz zu Benzodiazepinen auch aufmerksamkeitssteigernd ist. So können Patienten unterstützt werden, die vor dieser manchmal sehr belastenden Konfrontation zurückschrecken. Gleichzeitig bleibt das notwendige Extinktionslernen möglich, das durch die sonst verabreichten Beruhigungsmittel eher behindert wird.
„Unser Gehirn hat sich für das Überleben so entwickelt, dass es negative Erfahrungen anzieht und positive Erlebnisse weniger berücksichtigt.“
Nicolas Singewald
Die Innsbrucker Forschungen ebenen einen völlig neuen Weg, mit dem die Expositionstherapie pharmakologisch gestärkt wird, wobei im Team um Nicolas Singewald auf lernfördernde statt auf angstdämpfende Mechanismen gesetzt wird und individuelle Unterschiede imAngstgeschehen besonders berücksichtigt werden. So eröffnen die Arbeiten der Gruppe, die von der Grundlagenforschung an Zellkulturen bis zu Humanstudien reichen, ein breites Spektrum von neuen Möglichkeiten für die Therapie von Angsterkrankungen.
© News-Redaktion der Universität Innsbruck 2018
Mit Beiträgen von: Melanie Bartos, Eva Fessler, Christian Flatz, Stefan Hohenwarter, Lisa Marchl, Daniela Pümpel, Susanne Röck
Zusatzmaterial:
Spezialforschungsbereich "Cell signaling in chronic CNS disorders"(SFB-44)
Doktoratskolleg Signal Processing in Neurons (SPIN)
Hirnforschung Hands-on
Center of Molecular Biosciences Innsbruck (CMBI)
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