Alles in Ordnung?
subject_09.4: Corona-Krise | Langsam finden Gesellschaften zumindest in Europa wieder in eine Form der „Normalität“ zurück. Aber wie ordnen wir uns? Formen gesellschaftlicher, politischer, privater und öffentlicher Ordnung beleuchten Forscherinnen und Forscher der Uni Innsbruck näher.
News-Redaktion der Uni Innsbruck, Juni 2020
Zurück zu einer Form der „Normalität“: Klar ist, dass Maßnahmen gegen die Verbreitung von Sars-CoV-2 in irgendeiner Form erhalten bleiben, bis eine Impfung oder zumindest eine wirksame Behandlung gefunden ist. Wie sieht „Normalität“ unter diesen Vorzeichen aus? Wie sind Gesellschaften, politische Systeme, Einzelne durch den vorläufigen Höhepunkt dieser Krise gekommen? Über den Alltag in der Krise haben wir mit dem Ethnologen Timo Heimerdinger gesprochen, über internationale politische Kooperation mit Politikwissenschaftler Martin Senn und Völker- und Europarechtler Andreas Müller. Verfassungsjuristin Anna Gamper beleuchtet verfassungsrechtliche Auswirkungen der Corona-Gesetzgebung in Österreich, während Politikwissenschaftler Günther Pallaver einen Blick auf das beschädigte österreichisch-italienische Verhältnis wirft. Wie eine „Generation Corona“ aussieht bzw. ob es sie gibt, hat sich ein Team um Geografin Tabea Bork-Hüffer angesehen. Und der Historiker Claus Oberhauser beleuchtet die Anziehungskraft von Verschwörungstheorien.
Unter den Bedingungen der Ungewissheit
Der Alltag steht Kopf – spätestens seit Mitte März. Was sagt ein Alltagsforscher dazu? Der Ethnologe Timo Heimerdinger im Gespräch.
„Alltagskultur“ ist das zentrale Stichwort des Forschungsinteresses von Timo Heimerdinger, Universitätsprofessor für Europäische Ethnologie am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie. Was bedeuten die Entwicklungen und Veränderungen der letzten Wochen für den Alltag der Menschen? Was können wir aus dieser Zeit lernen? Was macht Corona mit unserem bisherigen Verständnis von Normalität? Können wir Dinge mehr wertschätzen – oder nun besser einschätzen, was überhaupt tatsächlich von Wert ist?
Timo Heimerdinger im Interview mit einem Rück- und Ausblick – und über die seiner Meinung nach zentralen Fragen nach dem „harten“ Lockdown:
Welche Fragen sollten jetzt trotz oder gerade wegen der Corona-Krise aus der Perspektive Ihres Faches diskutiert werden?
Die Europäische Ethnologie beschäftigt sich mit dem Alltag – seinen Formen, seiner Funktion und seiner Geschichte. Normalerweise ist der Alltag in einem hohen Maß durch Gewohnheiten, eingespielte Routinen und selbstverständliche Strukturen geprägt. In der disruptiven Krisensituation wurden viele dieser Selbstverständlichkeiten fast über Nacht außer Kraft gesetzt, in Frage gestellt oder durch neue Regeln ersetzt – der Alltag stand Kopf. Gerade deshalb wurde besonders gut erkennbar, was unseren Alltag üblicherweise ausmacht, was für sein Gelingen wichtig ist. Jetzt, da die anfängliche Ausnahmesituation vorerst vorbei ist oder zumindest zu sein scheint und allenthalben die Rufe nach „Lockerungen“ oder „Rückkehr zur Normalität“ immer lauter werden, stellt sich die Frage nach den allgemeinen alltagskulturellen Prioritäten in zusätzlich verstärkter Weise. Wie gelingt es, unter den Bedingungen der Ungewissheit und auf lange Sicht neue Alltagsformen einzuüben und durchzuhalten? Jetzt, abseits der ersten Alarmsituation im März und April, fallen die langfristigen Umstellungen vielen Menschen noch deutlich schwerer als zu Beginn. Wie grundlegend können und wollen wir unsere Lebensgewohnheiten auf längere Sicht verändern? Gerade wenn die Gefahr durch das Virus weiterhin präsent, aber immer noch abstrakt ist und über den weiteren zeitlichen Verlauf keine sicheren Aussagen möglich sind?
Welche positiven und/oder negativen Auswirkungen bringt die Krise?
Zunächst einmal: Die Corona-Krise ist ein großes Unglück, eine weltweite Tragödie mit vielen negativen Folgen – insgesamt viel besser wäre es, sie hätte sich nicht ereignet. Da gibt es nichts schönzureden. Sie bringt Krankheit und Tod, Armut, wirtschaftliche Not und vielfältiges Leid: Einsamkeit, Angst, Unsicherheit. Gleichzeitig sollten wir weiterhin im Auge behalten, dass diese Krise, obwohl sie uns alle betrifft, von unterschiedlichen Menschen höchst unterschiedlich erlebt wird. Es ist ein gravierender Unterschied, ob man alleine oder in Gemeinschaft lebt, ob man von Arbeitslosigkeit bzw. Einkommensausfällen betroffen ist oder nicht, ob man zu einer spezifischen Risikogruppe gehört, ob man in beengten Wohnverhältnissen lebt oder einem eigenen Haus mit Garten.
„Die entscheidende Frage wird nun sein, ob uns – gesellschaftlich wie individuell – jetzt etwas Originelleres einfällt, als in puncto Lebensweise, Konsum oder Arbeit nur die möglichst rasche Rückkehr zum status quo ante anzustreben.“
Timo Heimerdinger
Manche mögen die Quarantäne als willkommene Auszeit vom Alltagstrott erlebt haben und widmeten sich lustvoll ihren Hobbys, teilweise war sogar von Corona-Ferien die Rede. Andere brachen unter der kombinierten Last aus Homeschooling, Homeoffice, Familienstreitigkeiten und wirtschaftlichen oder gesundheitlichen Sorgen fast zusammen. Doch wenn man schon unbedingt auch etwas Positives in dieser Situation sehen möchte, dann vielleicht, dass sie enorme Lernchancen auf allen Ebenen bietet: politisch, medizinisch, technisch, wissenschaftlich, ökonomisch und gesellschaftlich. Wie können wir unsere Wirtschaft, unsere Institutionen und unser Leben künftig so einrichten, dass wir auf derartige Situationen noch besser reagieren können? Vielleicht wuchs in dieser Krise das Bewusstsein für den Wert des Vorsorgeprinzips und für die Grenzen technischer Machbarkeit wieder. Für uns als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist es gleichermaßen aufschlussreich wie ernüchternd, wie irreführend in der Öffentlichkeit teilweise über die Rolle der Wissenschaften in dieser Situation gesprochen wurde und wird: Die Dynamik der Wissensentwicklung wurde teilweise als wissenschaftlicher Wankelmut und die Vielfalt der fachlichen Perspektiven als Beliebigkeit des Wissens missinterpretiert. Diese Krise erinnert uns wieder und wieder daran, wie wichtig eine sorgfältige öffentliche Vermittlung wissenschaftlicher Grundprinzipien ist: Dass sich unser Wissen immer nur auf die Basis der vorhandenen Erkenntnisse und Daten gründen kann und sich daher verändern kann und soll. Dass Meinungspluralität und Diskussion verschiedener Perspektiven keine Schwäche der Wissenschaften ist, sondern gerade ihre Stärke. Dass es einen Unterschied zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen auf der einen und politischen Schlussfolgerungen, Abwägungen und Entscheidungen auf der anderen Seite gibt und diese gleichermaßen gesellschaftlich wichtigen Bereiche nicht miteinander verwechselt werden sollten.
Was können wir aus der Corona-Krise lernen?
Diese Ausnahmesituation gibt uns allen die Möglichkeit, Prioritäten und Schwerpunktsetzungen in unserem Alltag neu zu überdenken. Vieles, was uns sonst als unbedingt notwendig galt, ist tatsächlich gar nicht so wichtig: manche Anschaffung, manche Reise, manches Meeting oder manche Veranstaltung erwies sich als völlig verzichtbar.
Anderes jedoch, was uns sonst als unspektakulär und selbstverständlich erschien, wurde und wird uns jetzt in seinem Wert neu bewusst: Die Grenzlinien zwischen notwendig, nice-to-have und überflüssig wurden neu vermessen. Gerade auch die Möglichkeiten und Grenzen der Digitalisierung – Stichwort: E-Lehre, Homeoffice oder Videokonferenzen – wurden uns allen in diesen Monaten besonders deutlich und dabei einem harten Dauer-Praxistest unterzogen, samt allen Neuentdeckungen und Frustrationen. Die entscheidende Frage wird nun sein, ob uns – gesellschaftlich wie individuell – jetzt etwas Originelleres einfällt, als in puncto Lebensweise, Konsum oder Arbeit nur die möglichst rasche Rückkehr zum status quo ante anzustreben. Besser wäre es, sorgfältig zu differenzieren, manche alte Gewohnheit wertschätzend wieder aufzugreifen, manche andere jedoch bewusst und gründlich hinter sich zu lassen und durch neue Formen zu ersetzen. Als Europäischer Ethnologe wage ich hier keine pauschalen Prognosen, aber ich bin sehr gespannt.
Keine „Generation Corona“
Stehen junge Erwachsene aufgrund der Pandemie vor einer „dunklen“ Zukunft? Nein, sind sich Tabea Bork-Hüffer, Katja Kaufmann und Christoph Straganz vom Institut für Geographie sicher. Mit ihrem Projekt „COV-IDENTITIES“ möchten sie zeigen, dass das Gegenteil der Fall ist: Noch nie war eine Generation so gut auf den Fall einer Pandemie vorbereitet.
Im Angesicht der Corona-Pandemie stellten Schulen und Universitäten im März ihren Präsenz-Betrieb ein. Nicht nur in Österreich wurden diese Maßnahmen getroffen, sondern weltweit. Innerhalb kürzester Zeit musste auf Homeschooling oder Distance Learning umgestellt werden. Besonders jene Jugendlichen und junge Erwachsenen, die sich gerade in der Abschussphase ihrer Schulzeit befanden oder erst mit einer Ausbildung begonnen hatten, wurden im medialen Diskurs rasch als eine mögliche „Lost Generation“ betitelt. Als Humangeographin interessiert sich Prof. Tabea Bork-Hüffer besonders für die Lebenswelt der so genannten „Generation Z“, die nach 1996 geboren wurde.
„Gab es je eine Generation, die so gut in der Lage war, unmittelbar auf eine Pandemie zu reagieren?“
Tabea Bork-Hüffer
„Bereits kurze Zeit nach der Schließung der Bildungseinrichtungen konnten wir in verschiedenen Medien im In- und Ausland beobachten, dass vermehrt über eine mögliche ‚verlorene Generation‘ berichtet wurde. Diese Perspektive möchten wir dringend umkehren, da sie unserer Meinung nach, die durchaus vorhandenen, negativen Konsequenzen dieser Pandemie nur noch weiter verstärken könnten“, erklärt Tabea Bork-Hüffer. „Wir sind der Überzeugung, dass die Frage eher lauten sollte: Gab es je eine Generation, die so gut in der Lage war, unmittelbar auf eine Pandemie durch ihre Handlungskompetenzen rund um die Nutzung digitaler Medien zu reagieren?“. Gemeinsam mit ihren KollegInnen Katja Kaufmann, Christoph Straganz und einem Team aus 12 Studierenden vom Institut für Geographie hat die Wissenschaftlerin daher in kürzester Zeit das Projekt „COV-IDENTITIES“ ins Leben gerufen. Dabei handelt es sich um eine qualitative Längsschnittstudie, in der 130 junge Menschen in vier großen Erhebungen, mit unterschiedlichen Methoden zu ihrer Lebenssituation im Lockdown und den darauffolgenden schrittweisen Lockerungen befragt wurden bzw. werden. Die Gruppe setzt sich aus jungen Erwachsenen in der Ausbildungs- und Qualifizierungsphase zusammen. Darunter sind Studierende Tiroler Universitäten und Fachhochschulen sowie Maturantinnen und Maturanten von sechs Schulen in Tirol, die in Abstimmung mit der Bildungsdirektion Tirol ausgewählt wurden.
Bestens vorbereitet
Die Befragungen fanden in Form von schriftlichen Narrativen, aber auch direkt in jenen digitalen Räumen statt, in denen sich die jungen Erwachsenen ohnehin aufhalten. „Einen Teil der Erhebungen führten wir zum Beispiel direkt über WhatsApp mittels sogenannter Mobile-Instant-Messaging-Interviews durch. Dort haben wir die Teilnehmerinnen und Teilnehmer über einen gewissen Zeitraum sozusagen ‚live‘ begleitet und sie etwa alle zwei Stunden gebeten, uns zu schildern, was sie gerade tun – und inwiefern sich diese Tätigkeit zu jener vor der Quarantäne unterscheidet. So können wir ein möglichst authentisches Bild von ihrer Alltagssituation erhalten und die jungen Menschen direkt zu Wort kommen lassen“, erklärt Bork-Hüffer. Erste Ergebnisse der Befragungen, die bisher stattfanden, verdeutlichen, dass die „Generation Z“ mit hohem Verantwortungsbewusstsein in diese neue Situation eintrat und ein hoher Konsens mit den – lange Zeit auch sehr restriktiven – Maßnahmen vorhanden war. „Vor diesem Hintergrund konnten sich sehr viele auch rasch und flexibel an die neue Situation anpassen. Sie sind so tief im Digitalen verwurzelt, dass ihnen das an vielen Stellen auch nicht schwerfiel. Übrigens ganz im Gegensatz zu vielen Eltern oder Lehrpersonen. Auch ihre sozialen Kontakte konnten sie in den Zeiten des strengen Lockdowns an vielen Stellen gut über Online-Kontaktmöglichkeiten überbrücken“, erzählt Bork-Hüffer. Dem Team im Projekt „COV-IDENTITIES“ geht es allerdings keineswegs darum, die an vielen Stellen durchaus verheerenden Folgen der Corona-Krise kleinzureden – ganz im Gegenteil. „Wenn die jungen Menschen diese Zuschreibungen rund um eine mögliche ‚verlorene Generation‘ verinnerlichen, könnte das die ohnehin schon negativen Auswirkungen auf Zukunftsperspektiven sowie auch auf ihr Selbstbild noch verstärken. Wir fordern daher eine Anerkennung der Bemühungen, der Belastbarkeit und der Kompetenzen der großen Mehrheit der jungen Erwachsenen“, sind sich die Wissenschaftlerinnen Bork-Hüffer und Kaufmann einig.
Im Blog der von Tabea Bork-Hüffer geleiteten Arbeitsgruppe „Transient Spaces and Societies“ am Institut für Geographie gibt es weitere Informationen zur Forschungsarbeit: https://www.transient-spaces.org/
Krise international
Nicht nur auf die wirtschaftliche, auch auf die politische Ordnung Europas und der Welt hat die Pandemie großen Einfluss. Wie und ob sich das internationale Gefüge infolge der Pandemie verändert, analysieren Politikwissenschaftler Martin Senn und Europa- und Völkerrechtler Andreas Müller.
Das neuartige Coronavirus hat eine globale Krise ausgelöst. Und es beschleunigt internationale Entwicklungen, die auch schon davor absehbar waren, sagt assoz. Prof. Martin Senn, Leiter des Instituts für Politikwissenschaft: „Allen voran sehen wir nun nochmal stärker die Vereinigten Staaten als globale Führungsmacht wanken. In der Corona-Pandemie haben die USA bisher keine Richtung vorgegeben, haben keine internationale Zusammenarbeit koordiniert und gleichzeitig gegen die Weltgesundheitsorganisation WHO agitiert. Die Pandemie zeigt mit brutaler Härte, wie begrenzt handlungsfähig und -willig die Trump-Administration ist und wie polarisiert Politik und Gesellschaft in den Vereinigten Staaten sind.“ Daneben steht die zweite Großmacht China als Ausgangspunkt der Pandemie, aber auch als erster erfolgreicher Bekämpfer des Virus – zumindest suggeriert das die chinesische Führung. „Ob China dieses Fenster der Schwäche der USA nutzen kann, um seine weltpolitische Autorität zu erhöhen und eine Führungsrolle auszuprägen, bleibt abzuwarten. Die Maßnahmen Chinas in der Frühphase der Pandemie kratzen doch erheblich am Bild des erfolgreichen Virusbekämpfers. Auch wenn noch nicht absehbar ist, wie genau sich die Pandemie auf die weltpolitische Ordnung auswirken wird, zeigt ein Blick in die Geschichte, dass Pandemien – allen voran die Pest – maßgeblich zur Transformation politischer Ordnungen beigetragen haben.“
Globale und europäische Reaktion
Diese internationale politische Ordnung ist auch Gegenstand der Forschung des Europa- und Völkerrechtlers Prof. Andreas Müller: „Im Völkerrecht und Europarecht geht es um die rechtliche Ordnung der überstaatlichen Beziehungen – im Rahmen Europas, der EU, sowie darüber hinaus in der Weltgemeinschaft. Auf völkerrechtlicher Ebene kann man hier vor allem an die WHO denken, die aber ihrerseits zum Spielball nationaler politischer Interessen geworden ist, aber auch an Staatengruppen wie G7 und G20, denen – im Zusammenwirken mit UNO, Weltbank und IWF – eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung der globalen Verwerfungen durch die Corona-Pandemie zukommen wird.“
Gerade die Europäische Union wurde – vor allem zu Beginn der Krise – von vielen für ihre vermeintlich zu zögerliche Reaktion gescholten. „In Europa haben wir die Situation, dass die EU im Bereich Gesundheit von ihren Mitgliedstaaten nur sehr wenige Kompetenzen übertragen bekommen hat. Insoweit konnten die EU-Institutionen nur wenig zur rechtlichen Bewältigung der Krise beitragen. Teilweise ist die EU aber durchaus tätig geworden, etwa bei der Aufrechterhaltung des zwischenstaatlichen Güterverkehrs“, gibt der Europarechtler zu bedenken. „Im Bereich der Personenfreizügigkeit und Grenzkontrollen haben die Mitgliedstaaten ganz weitgehend auf eigene Faust gehandelt und die EU vor vollendete Tatsachen gestellt. Hier wird sich für die Zukunft fragen, ob die EU in derartigen Pandemie-Situation als Akteurin nicht gestärkt werden sollte.“ Die zentralen Herausforderungen für die Europäische Union beginnen aber erst: nämlich jene in der Bewältigung der nicht-medizinischen Folgen der Pandemie. „Hier geht es insbesondere um den geplanten EU-Wiederaufbaufonds, unionsrechtlichen Regeln für nationale Maßnahmen zur Rettung von Unternehmen, die als staatliche Beihilfen von der EU-Kommission genehmigt werden müssen, aber auch Regelungen im Bereich des Verbraucherschutzes, z.B. Rückerstattung von stornierten Flugtickets“, betont Andreas Müller.
Lichtblick für die nukleare Rüstungskontrolle?
Bei allen Schwierigkeiten, die sich gegenwärtig in den internationalen Beziehungen ergeben, sieht Politikwissenschaftler Martin Senn aber auch einen möglichen Lichtblick in seinem zweiten Haupt-Forschungsfeld: Der internationalen Kontrolle von Kernenergie. „Von 27. April bis 22. Mai 2020 hätte die zehnte Überprüfungskonferenz des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrages, des NPT, in New York stattfinden sollen. Die Aussichten für diese Konferenz waren angesichts multipler Krisen und zunehmender Spannungen zwischen den Großmächten eher schlecht. Nachdem die Konferenz aber nun um ein Jahr verschoben wurde, hätten die Vertragsstaaten ein wenig mehr Zeit, um sich zentraler Herausforderungen wie einer Verlängerung der strategischen Rüstungskontrolle oder dem Verhältnis zwischen dem NPT und dem neuen Verbotsvertrag , dem ‚Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons‘, anzunehmen. Ob sie diese Zeit nutzen werden, steht natürlich auf einem anderen Blatt“, sagt er.
Grenzschließung und EU-Hilfspaket
Italien grollt Österreich: Politikwissenschaftler Günther Pallaver kommentiert die italienisch-österreichischen Beziehungen.
Österreich ist den Italienern gegenwärtig nicht der liebste Nachbar. Gründe dafür gibt es einige: Politikwissenschaftler Prof. Günther Pallaverkommentiert das Corona-bedingt leicht beschädigte politische Verhältnis zwischen den beiden Ländern.
Noch haben die Italiener*innen nicht auf das Vokabular der Erbfeindschaftsideologie zurückgegriffen, aber die Sympathien gegenüber Österreich sind in den letzten Tagen und Wochen in Italien so ziemlich in den Keller gefallen. Ministerpräsident Giuseppe Conte bezeichnete den Entschluss Österreichs, seine Grenzen gegenüber den Nachbarn mit Ausnahme Italiens zu öffnen, als „inakzeptabel und diskriminierend“. Andere äußerten sich weit despektierlicher, indem sie Bundeskanzler Sebastian Kurz vorwarfen, er ziele darauf ab, Italien unter die Kuratel der Troika zu zwingen (EU-Kommission, Europäische Zentralbank, Internationaler Währungsfonds) oder das Italexit zu schüren.
Umgekehrt wurden nach der Grenzöffnung Italiens ab 3. Juni die ersten Gäste aus Österreich, die über die Schweiz an die Adria fuhren, mit Begeisterung empfangen. Damit wollte man mit süffisanter Genugtuung zeigen, dass den österreichischen Politikern das eigene Volk davonfahre. Dabei vergisst man, dass es während der gesamten Lockdown-Phase wegen der COVID-19-Epidemie immer einen offenen LKW-Korridor zwischen Italien und Österreich gab. Denn weder Rom noch Wien sind an einer ökonomischen Schliessung der Grenzen interessiert. The business must go on!
Wer nicht nur an fehlende Touristen an leeren Stränden dachte, sondern an die Epidemie, gab Österreich in seiner Haltung zur unterschiedlichen Grenzöffnung sogar recht. Der anerkannte Mikrobiologe Andrea Crisanti von der Universität Padua, der das Epidemie-Management im Veneto erfolgreich schaukelte, verteidigte die Entscheidung Österreichs, die Grenzen zu Italien nicht unmittelbar zu öffnen. Österreich solle nicht das Risiko eingehen, ohne Kontrolle neue Corona-Fälle zu importieren.
Der Groll gegen Österreich könnte aber bald verflogen sein, wenn Wien, wie letzthin angekündigt, seine Grenzen zu Italien jetzt doch früher öffnet. Dabei griff Österreich einen Vorschlag aus Südtirol auf, die Grenzen aufgrund der Gesundheitszahlen einzelner Regionen zu öffnen. Nach dem Alleingang der europäischen Länder bei den unkoordinierten Hals-über-Kopf-Grenzschließungen hatte die Europäische Kommission den Vorschlag unterbreitet, dass die Staaten auf der Basis regionaler Infektionslagen ihre Grenzen öffnen sollten. Statt dessen wurden bislang immer die staatlichen Durchschnittswerte herangezogen. Das hat besonders Südtirol geärgert, weil das „Vaterland“ Österreich alles südlich des Brenners über einen Kamm scherte und für Südtirol (mit kleineren Ausnahmen) keine gesonderte Grenzregelung vorsah.
Weit nachhaltiger als die stockende Grenzöffnung könnte aber das vorgeschlagene Hilfspaket der EU-Kommission (Next Generation EU) das Image Österreichs in Italien negativ beeinflussen. Italien wirft in dieser Hinsicht Österreich vor, nationale Nabelschau und nicht europäische Solidarität zu betreiben. Im Quartett der „sparsamen Vier“ (Österreich, Dänemark, Schweden, Niederlande) lehnt Österreich nämlich das EU-Hilfspaket zum Großteil ab und plädiert für Kredite statt für Zuschüsse. Das ist Italien mehr als sauer aufgestoßen. Das von der Corona-Epidemie besonders arg heimgesuchte Land hofft nämlich auf Zuschüsse, weniger auf Kredite, um wirtschaftlich wieder hochfahren zu können.
Italien ist nach Deutschland der zweitgrößte Handelspartner Österreichs. Italien zu schwächen bedeutet, Österreich zu schwächen. Allein aus diesem Grunde müsste Österreich ein Interesse daran haben, dass sich Italien wirtschaftlich möglichst schnell wieder erholt, auch mit europäischen Zuschüssen. Aber genau hier liegt die Bruchlinie. Es gibt EU-Mitglieder, die Europa aus einer nationalen Perspektive betrachten und andere, die Europa aus einer europäischen Perspektive betrachten. Ein Neuanfang nach der Corona-Epidemie, auch in den Beziehungen zwischen Österreich und Italien, benötigt aber eine europäische Perspektive.
Zum Autor:
Univ.-Prof. Dr. Günther Pallaver ist Politikwissenschaftler und leitet seit 2017 das damals neu gegründete Institut für Medien, Gesellschaft und Kommunikation an der Universität Innsbruck, davor war er Professor am Institut für Politikwissenschaft. Seit diesem Jahr leitet er den Universitätskurs Strategische Kommunikation in digitalen Netzen.
Und die Grundrechte?
Zur Eindämmung der Pandemie haben viele Staaten drastische Schritte gesetzt. Einige davon greifen tief in unsere Grundrechte ein.
Die Verfassungsjuristin Prof. Anna Gamper vom Institut für Öffentliches Recht, Staats- und Verwaltungslehre hat sich in den vergangenen Wochen zu verschiedenen verfassungsrechtlichen Aspekten der aktuellen Krise geäußert. Im Interview bewertet sie die Corona-Maßnahmen aus rechtlicher Sicht und erklärt, wie wir uns besser auf zukünftige Krisen vorbereiten können:
Welche der staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie sind aus Ihrer Sicht besonders hervorzuheben?
Staaten reagieren weltweit ganz unterschiedlich auf die Krise: Manche änderten dafür sogar die Verfassung, viele riefen den Staatsnotstand aus. Gemeinsam ist ihrem Vorgehen jedoch fast immer – und Österreich ist ein Beispiel dafür –, dass Corona-Maßnahmen häufig durch Regierungsakte statt durch Gesetze gesetzt oder diese Regierungsakte ermächtigende Gesetze unbestimmt formuliert und in parlamentarischen Eilverfahren beschlossen wurden. Inhaltlich geht es um Eingriffe in zahlreiche Grundrechte, wie etwa persönliche Freiheit, Freizügigkeit des Aufenthalts, Erwerbsfreiheit, Privat- und Familienleben, Datenschutz, Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit, Gleichheitsrechte und andere mehr. Weil die meisten Grundrechte in Verfassungen unter einem Eingriffsvorbehalt verankert sind, gibt es von vornherein eine gewisse Schwankungsbreite, wie weit legitim in sie eingegriffen werden darf. In der Mehrheit der Fälle steckt das so genannte Verhältnismäßigkeitsprinzip diese Grenze ab: Demzufolge darf ein Grundrecht durch den einfachen Gesetzgeber beschränkt werden, wenn die Beschränkung zu Gunsten eines öffentlichen Interesses erfolgt, die gesetzliche Maßnahme geeignet ist, dieses öffentliche Interesse zu erfüllen, die Maßnahme erforderlich ist, d.h. kein gelinderes Mittel möglich erscheint, das öffentliche Interesse ebenso zu erfüllen, und der Eingriff angemessen ist, d.h. die Balance zwischen dem öffentlichen Interesse und dem Eingriff als insgesamt verhältnismäßig angesehen werden kann. Auch diese Kriterien unterliegen aber Wertungen, die letztlich von den Verfassungsgerichten geprüft werden. In einigen Staaten haben Gerichte zuletzt bereits Corona-Maßnahmen als unzulässig erkannt, z.B. hinsichtlich zu weitgehender Versammlungsverbote oder Handy-Überwachung. In Österreich wird der Verfassungsgerichtshof in seiner Juni-Session über etliche Anträge entscheiden. Zu beachten ist auch, dass viele Maßnahmen zeitlich befristet sind, was in die Verhältnismäßigkeitsprüfung einbezogen werden muss. Dennoch kann der zeitliche Faktor allein Grundrechtseingriffe nicht legitimieren.
Sie haben sich mit verfassungsrechtlichen Aspekten dazu bereits auseinandergesetzt. Wie bewerten Sie die verschiedenen Maßnahmen?
Verfassungsrechtlich problematisch sind die vielen Grundrechtseingriffe einerseits und die zum Teil fehlenden, zum Teil unklaren oder unbestimmten gesetzlichen Ermächtigungen andererseits, was auch damit zu tun hat, dass die bisher 18 COVID-19-Gesetze unter enormem Zeitdruck entstanden sind, der eine verfassungsrechtliche Vorbegutachtung oder ausführliche parlamentarische Debatte offenbar nicht zuließ. Man muss dabei natürlich berücksichtigen, dass zu Beginn der Krise rasch gehandelt werden musste und es sich im Nachhinein immer leichter beurteilen lässt, welche Maßnahmen erforderlich waren oder nicht. Dadurch, dass ja selbst facheinschlägige Mediziner*innen unterschiedliche Einschätzungen zur Krise und den zu treffenden Maßnahmen vertraten und vertreten, ist es auch bei der rechtlichen Würdigung schwierig: Ist ein Grundrechtseingriff wie Maskentragen „erforderlich“, um noch verhältnismäßig und verfassungskonform zu sein? War eine Maßnahme wie z.B. das Nichtverlassen des Gemeindegebiets in Tirol überhaupt „geeignet“? Diese Fragen betreffen eigentlich Außerrechtliches und sind doch in die Grundrechtsprüfung einzubeziehen. Die Faustregel dabei muss aber sein: Je mehr die Krise abflaut, desto mehr müssen Maßnahmen gelockert werden, je gelindere Alternativen es gibt, desto eher sind diese heranzuziehen. Dabei sind Maßnahmen ständig zu evaluieren und neuen Entwicklungen anzupassen.
Was das Erfordernis gesetzlicher Grundlagen anbelangt, gibt es weniger Spielraum: Verordnungen haben über eine solche Grundlage zu verfügen, und die Gesetze müssen dafür hinreichend bestimmt formuliert sein. Problematisch finde ich etwa das dritte COVID-19-Gesetz, wodurch der Wissenschaftsminister ermächtigt wurde, in etlichen Bereichen des universitären Studienrechts vom Universitätsgesetz abzuweichen. Es wurde aber nicht einmal festgelegt, ob und wie er abweichen soll. Dieser Vorgang wird als formalgesetzliche Delegation bezeichnet und widerspricht dem Legalitätsprinzip der Verfassung.
„Wenn außerdem Verordnungen mit Außenwirkung erlassen werden, haben sie entsprechende Formvorschriften zu beachten und nicht als ‚Erlass‘ zu ergehen. Auch wäre eine verfassungsrechtliche Vorbegutachtung von Gesetzen immer zweckmäßig, und dass ein Parlament (beide Kammern!) Gesetze normalerweise nicht in einem Tag beschließt, ist auch klar.“
Anna Gamper
Die verfassungsrechtliche Bewertung trifft letztlich der Verfassungsgerichtshof (VfGH): Ich gehe davon aus, dass etliche Anträge von ihm aus formalen Gründen zurückgewiesen werden. Wo inhaltliche Prüfungen vorgenommen werden, wird dem Normsetzer wohl ein gewisser Ermessensspielraum, in der Krise rasch Maßnahmen setzen zu müssen, zugestanden werden. Zu einzelnen Aufhebungen bzw. Feststellungen der Verfassungswidrigkeit könnte es dennoch kommen. Zu bedenken ist aber, dass der VfGH ja nicht alle Maßnahmen als Gesamtpaket beurteilt, sondern immer nur punktuell befasst wird. Der VfGH prüft in Österreich repressiv, d.h., anders als im Fall mancher anderen Verfassungsgerichte kann er im laufenden Gesetzgebungsverfahren nicht angerufen werden, um vorab zu beurteilen, ob ein geplantes Gesetz grundrechtskonform ist. Eine solche Kompetenz wäre verfassungsrechtlich erst zu schaffen. Die Frage ist allerdings, ob in Krisenzeiten rasche Maßnahmen unter solchen Umständen möglich wären, weil die präventive Normenkontrolle ja auch eine gewisse Zeit benötigen würde.
Welche rechtlichen Maßnahmen sind aus Ihrer Sicht sinnvoll, um auf Krisen wie die Corona-Pandemie in Zukunft besser vorbereitet zu sein?
„Grundsätzlich gilt: Die Gesundheit ist ein hohes Gut. Ebenso ist aber auch Verfassungsstaatlichkeit ein hohes Gut, das – nach mühsamer Erringung über Jahrhunderte – nicht in wenigen Wochen verspielt werden darf.“
Anna Gamper
Zunächst einmal wäre es sinnvoll, dass Verfassungen Staatsnotstandsregeln enthalten, die Staatsnotstandsmaßnahmen zeitlich befristen, an ein Mindestausmaß parlamentarischer Unterstützung binden und gewisse „notstandsfeste“ Materien (z.B. die Verfassung insgesamt oder bestimmte Grundrechte) davon ausnehmen. Ungünstig ist es, erst mitten in der Krise durch Verfassungsänderungen oder sonstige gesetzliche Vorkehrung Notstandsregeln schaffen zu müssen. Insbesondere sollten Notstandsmaßnahmen nicht unbefristet erfolgen dürfen, wie das zum Beispiel in Ungarn vorgesehen war, wenngleich die Maßnahmen dort nun wieder außer Kraft treten sollen. Weiters sollte eine verfassungsrechtliche Vorbegutachtung von Maßnahmen, allenfalls im Eilverfahren, Standard sein. Grundrechtseingriffe sollten, wenn überhaupt, auf Gesetze gestützt werden und nicht einfach „irgendwie“ erlassen werden. Und die Gesetze selbst sollten möglichst klar und bestimmt formuliert sein, sowie Ermächtigungen zu Grundrechtseingriffen nur in möglichst begrenzter und befristeter Art und Weise aussprechen.
Insbesondere sollte die Krise nicht als „Experimentierfeld“ benützt werden, was „alles geht“. Da sehe ich zwar aktuell weniger Gefahr für Österreich, jedoch durchaus in anderen Staaten. Beispielsweise wurde in einigen jetzt eine Verpflichtung zur Verwendung von smartphoneunterstütztem Contact-Tracking oder -Tracing verankert, was bedeutet, dass sämtliche Bewegungen oder zumindest Begegnungen von Menschen datenmäßig registriert und gespeichert werden, um im Infektionsfall Warnungen abgeben zu können. Es ist nicht auszuschließen, dass derartige, ja durchaus mit wirtschaftlichen Interessen verbundene Überwachungssysteme auch für „nach der Krise“ als nützlich erachtet werden, z.B. zur Verbrechensbekämpfung. Und da stellt sich, zumal in liberalen Demokratien, schon die Frage: Will man mehr Freiheit oder Sicherheit? Und lässt sich Sicherheit nicht auch auf weniger eingriffsintensive Weise herstellen? Diese Diskussion ist nicht neu, aber sie stellt sich gerade in neuem Kontext.
Hochkonjunktur für Verschwörungen
Krisenzeiten bieten Verschwörungstheorien eine perfekte Bühne. Der Historiker Claus Oberhauser untersucht die Gründe für ihre Entstehung und erklärt, wie der „Verzauberung“ entgegengewirkt werden kann.
Chemtrails, Zwangsimpfungen, Handystrahlung, undurchsichtige Netzwerke im „Deep State“, die eigentlich alles im Hintergrund lenken. Und: Die Erde ist eine Scheibe. Die Liste an Themenbereichen, um die sich teils abenteuerliche Theorien ranken, könnte beinahe endlos weitergeführt werden. Und im Zweifel schützt ein Aluminiumhut vor den vermeintlichen Gefahren. Verschwörungstheorien sind keineswegs ein neues Phänomen, sondern begleiten die Menschheit bereits seit Jahrhunderten. Krisenzeiten befördern die Entstehung dieses gefährlichen Mixes aus Fakten und Fiktion. Dass die Corona-Krise ein idealer Nährboden für die Entstehung solcher Theorien ist und war, überrascht wohl kaum. Dr. Claus Oberhauser beschäftigt sich seit Jahren mit Verschwörungstheorien und ihrer Geschichte. Der Geschichtswissenschaftler wirft in seinem Kommentar einen historischen Blick auf Verschwörungstheorien und ordnet ihre Bedeutung in der Corona-Krise ein:
Die Corona-Krise fordert dazu heraus, die disziplinären Grenzen des eigenen Faches zu überdenken. Als Historiker, der sich seit Jahren insbesondere mit historischen Verschwörungstheorien beschäftigt, ist die Corona-Krise quasi eine Vergegenwärtigung des historischen Themas. Während man Fragen an die Vergangenheit stellt, um verschiedene Phänomene in Krisenzeiten besser zu verstehen, sind wir nun selbst Teil der Krise und stark abhängig von unserem eigenen „Sehepunkt“. Die Schwierigkeit besteht nun darin, die Erkenntnisse über historische Verschwörungstheorien nicht einfach zu übernehmen und dadurch gegenwärtige Verschwörungstheorien im Hinblick auf den Ursprung des Ausbruchs der Krise erklären zu können. Die Parallelen sind verlockend, aber trügerisch.
Nun lehrt uns die Disziplin der Geschichtsdidaktik seit vielen Jahren Folgendes: Das Geschichtsbewusstsein hat seinen Platz in der Gesellschaft. Dies bedeutet, dass das, was in der Gesellschaft, was auch immer das heißen mag, fragwürdig ist, uns dazu bringt, neue Fragen an die Vergangenheit zu stellen. Im Hinblick auf die Erforschung von Verschwörungstheorien wird uns die Krise noch lange begleiten: Verändert die Globalität des Virus unsere Sicht auf Verschwörungstheorien? Gibt es vergleichbare historische Vorbilder? Warum misstrauen so viele Menschen etablierten Expert*innen oder abstrakter, epistemischen Autoritäten, deren Status offensichtlich fragil ist? Welche Rolle spielen Medien? Wie werden wissenschaftliche Fakten überhaupt zu Fakten? Es ist noch schwierig, die aufkommenden Verschwörungstheorien zu kategorisieren: Haben wir es mit Verschwörungstheorien der Disziplinierung zu tun, also Verschwörungstheorien, in denen behauptet wird, dass das Virus erfunden wurde, um uns nun endgültig zu überwachen und zu unterjochen? Misstraut man bewusst Wissenschaftler*innen und stellt zur Debatte, dass diese nur Teil des korrupten Systems sind und für dubiose Unternehmen im Hintergrund arbeiten? Haben wir es mit einer Vermischung des fiktionalen und faktualen Erzählens zu tun, indem uns der mad scientist begegnet, der uns alle in den Abgrund stürzen will? Gibt es neue Sündenböcke? Werden nationale Kulturen des Verschwörungsdenkens durch die Grenzschließungen sichtbar?
„Verschwörungstheorien als Sinngebungsoption haben schon die Antwort auf die offenen Fragen: Schuld sind wie immer die anderen.“
Claus Oberhauser
Wir werden lernen müssen, dass Verschwörungstheorien zum Menschsein in Krisen dazugehören: Die Stigmatisierung des Verschwörungstheoretikers hat schlussendlich dazu geführt, dass die Forschung jahrelang das Verschwörungsdenken mit Paranoia gleichsetzte und dies daran festmachte, dass man selbst „normal“ ist, also die Norm festlegte, was man sagen darf und was nicht. Derweil ist eine Lektion der Geschichte, dass die Amerikanische Revolution und die Französische Revolution von Anfang an ein hotbed für Verschwörungstheorien waren, dass es überhaupt normal war, Verschwörungstheoretiker zu sein. Während die Erinnerung an George Washington als Verschwörungstheoretiker verblasste, wurden andere Stimmen immer mehr unterdrückt. Ähnlich verhält es sich mit der „normalen“ Historiographie über das Zeitalter der Aufklärung: Menschenrechte, Rationalität, Enzyklopädien etc. Bis heute wirksam sind aber sicherlich die verschwörungstheoretische Narrative dieser Zeit. Die Verschwörung der Freimaurer, der Illuminaten, der Philosophen und recht bald der Juden gegen die Gesellschaft sind Versatzstücke von Verschwörungstheorien, dies bis heute geblieben sind und bleiben werden.
Sir Karl Popper war vermutlich der erste, der den Begriff „Verschwörungstheorie“ in einem wissenschaftlichen Sinn gebrauchte. Er meinte damit eine vulgärmarxistische Interpretation der Welt, also eine Denkweise, die Ereignisse auf den Vollzug eines Plans von wenigen Mächtigen zurückführt. Die Entdeckung dieses geheimen Plans führe dann dazu, dass man versteht, warum die Welt so ist, wie sie ist. Heutzutage wird klarerweise in der Erforschung von Verschwörungstheorien nicht mehr von einem Scheitern des marxistischen Denkens gesprochen, vielmehr fordert uns die Krise heraus, die eigenen Denksysteme zu hinterfragen: Verschwörungstheorien werden wahrgenommen als Rache der Postmoderne und als Reaktion auf die Weber‘sche Entzauberung der Welt – willkommen im postfaktischen Zeitalter.
Diese Krise wird eine Chance sein, inter- und transdisziplinär zusammenzuarbeiten, um gemeinsam sowohl wissenschaftliche und gesellschaftliche Phänomene in den Blick zu nehmen als auch die Ergebnisse dieser Forschungsprojekte so zu präsentieren, dass der Verzauberung entgegenwirkt werden kann. Dabei wird es im Latour’schen Sinn darum gehen müssen, die Zweifel und das Scheitern im Kampf um ein kleines bisschen „Wahrheit“ in den Vordergrund zu rücken, um aufzuzeigen, dass es nicht die Antwort auf das eine Problem gibt, sondern Auslegungen, Versuche, Annäherungen, neue Fragestellungen, Kollaborationen und vieles mehr. Verschwörungstheorien als Sinngebungsoption haben schon die Antwort auf die offenen Fragen: Schuld sind wie immer die anderen.
Zum Autor:
Claus Oberhauser arbeitet am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der Uni Innsbruck und leitet das Institut für fachdidaktische und bildungswissenschaftliche Forschung und Entwicklung an der Pädagogischen Hochschule Tirol. Er ist Teil des europaweiten, interdisziplinären Forschungsnetzwerks „COMPACT -Comparative Analysis of Conspiracy Theories“.
© News-Redaktion der Universität Innsbruck 2020
Mit Beiträgen von: Melanie Bartos, Christian Flatz, Stefan Hohenwarter, Claus Oberhauser, Günther Pallaver
Fotocredit, wenn nicht anders angegeben: Universität Innsbruck