Eurovision
subject_04: Europa | Am Anfang war Zeus, der als Stier die Europa raubte. Später kamen die Römer, das Christentum, Kriege, Frieden, noch mehr Kriege, heute der geeinte Kontinent. Aber Europa, was ist das eigentlich?
News-Redaktion der Uni Innsbruck
Oktober 2017
Europa ist ein Kontinent. Europa ist eine Idee. Europa ist eine Figur aus der griechischen Mythologie, ein Friedensprojekt, eine Festung, kulturelles Zentrum, dauernd im Streit. Europa ist: Darüber haben sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Uni Innsbruck Gedanken gemacht. Wir spannen den Bogen von der Via Claudia Augusta, einem der ersten transeuropäischen Verkehrswege, über die Rolle von Latein bei der Entstehung eines Europabewusstseins, die Migration aus anderen Erdteilen, Zustand und Zukunft der Europäischen Union, über Europas vermeintlich christliche Wurzeln und die Rolle des Islam, hin zur Philosophie der europäischen Identität.
Eine Verkehrsachse quer durch Europa, ein Weg, der Länder und Menschen verbindet – und das seit über 2000 Jahren. Eine seit der Antike bestehende Brücke zwischen Italien und Mitteleuropa, zwischen den jeweils größten Strömen: Kaiser Claudius, vierter römischer Kaiser, ließ die von seinem Vater Drusus begonnene Straße zwischen dem Po und der Donau erweitern und begradigen. Entstanden ist die nach ihm benannte Via Claudia Augusta, ein Meisterwerk der römischen Ingenieurskunst.
Meilensteine belegen die Wegstrecke zwischen Altinum, einer antiken Stadt in der Provinz Venezien, über den Reschenpass durch Tirol und weiter zur Donau, mit einer Gesamtlänge von 350 Meilen. Gerald Grabherr, Professor am Institut für Archäologien, beschäftigt sich bereits seit Jahren mit der Via Claudia Augusta, deren Name als einziger Straßenname aus dieser Zeit im Alpenraum überliefert ist. „Wir sprechen hier von der wichtigsten Verkehrsverbindung in einem Bereich, in dem man auf Flüssen nicht mehr weiterkommt – über die Alpen. Obwohl der Transport über Land und vor allem über die Alpenpässe am aufwendigsten und teuersten war, mussten die Menschen auf diesen Weg ausweichen, denn Gebirgsflüsse sind nicht sinnvoll schiffbar“, erläutert der Wissenschaftler die damals bestehende Notwendigkeit für die Römer, eine Straße über die Pässe anzulegen.
Verbindung
Entlang der Via Claudia Augusta bewegten sich Menschen, wurde Fracht transportiert, Lebensmittel ausgetauscht, Material und Kulturgut transferiert sowie Sprachen und Religionen verbreitet. „Wie an allen Kontaktlinien und Handelsrouten sind die Menschen viel offener gegenüber Neuem und Fremdem. Der ständige Austausch, die Konfrontation und die Kommunikation entlang dieser Achse führten Menschen zusammen. Lieben und Freundschaften wurden geschlossen und die Möglichkeiten von Geldeinnahmen erleichterte das Leben der Menschen vor Ort“, verdeutlicht Grabherr die Bedeutung der Via Claudia Augusta. Doch nicht nur Handel wurde in der Antike auf der Straße betrieben. Auch Ideen und neue Religionen verbreiteten sich entlang der Kommunikationsroute. „Wir dürfen nicht vergessen, dass sich auch das Christentum über solche Wege verbreitet hat. Die einheitliche Kirchensprache Latein machte es den Priestern vor allem in der weiteren Geschichte im Mittelalter und der Neuzeit möglich, ihre Messen weltweit zu halten und dabei verstanden zu werden, denn das Erlernen der Universalsprache war damals verpflichtend“, so der Archäologe, der in Grabungen viele multinationale Artefakte finden konnte.
„In Biberwier am Fernpass fanden wir Amphoren für Olivenöl aus Spanien, für Wein aus der Ägäis, aber auch regionalere Sachen wie Keramik aus dem Trentino oder Norditalien. Auch lassen sich Bezüge in den Norden wie dem bayrischen Alpenvorland finden. Wir können daher den Austausch von Gütern von der Iberischen Halbinsel über Italien in den Norden und wieder zurück nachweisen.“
Gerald Grabherr
Als Vorgänger des vereinten Europas ist das Römische Reich für uns auch heute noch bedeutend. „Die Grundlage unserer westlichen Kultur liegt im Römischen Reich. Neben dem kodifizierten Recht, als Grundlage vieler Rechtssysteme in den europäischen Ländern, wurden erstmals einheitliche Maße, Gewichte und Geld verwendet. Dies war eine maßgebliche Erleichterung für den Handel“, erläutert der Wissenschaftler, der weiter ausführt, dass die gut ausgebauten Verkehrsachsen wie etwa die Via Claudia Augusta wesentlich für die Verbreitung dieser Vorschriften waren.
Baukunst
Der Wegeerhalt war teuer, denn die aufwendig errichteten Straßenabschnitte mussten regelmäßig instand gesetzt und renoviert werden. „Die damals hohe Qualität des Straßenbaus wird heute auch dadurch deutlich, dass ein entsprechendes Ausbauniveau des Landverkehrs wie in der Antike, erst wieder in Frankreich unter Ludwig XIV. oder in Österreich unter Maria Theresia im 18. Jahrhundert erreicht werden konnte“, betont Grabherr die hohe Baukunst der antiken Römer. Sie passten sich dem Verlauf der Täler an, vermieden Kehren über die Pässe, um die Zugtiere mit einer gleichmäßigen Belastung zu schonen, schlugen Straßen aus Felsen, bauten Befestigungen und schufen Innovationen. Gleichzeitig, mit dem überlieferten Baubeginn um 45 nach Christus, wurde auch eine schwimmende Straße durch das Moor von Lermoos gebaut.
„Der Prügelweg ergab nur eine Wegverkürzung von etwa 150 Metern und eine mögliche Zeitersparnis von nicht einmal einer Minute – und trotzdem haben die Römer einen riesigen Aufwand betrieben, die schwimmende Straße durch das Moor zu bauen. Vielleicht wollten sie auch nur zeigen: Wir machen es, weil wir es können.“
Gerald Grabherr
Durch die unterstützenden Analysen der Dendrochronologie, durchgeführt von Kurt Nicolussi vom Institut für Geographie, konnte Grabherr mit seinem Team den genauen Bauverlauf sowie die späteren Änderungen und Renovierungen der Straße rekonstruieren. So wurde der Prügelweg im Lermooser Moor der am besten untersuchte und dokumentierte Abschnitt einer Römerstraße. Schon im Mittelalter wurde der Teil der Straße aufgeben und das Moor mit einer Straße umrundet, da die schwimmende Straße nicht mehr instand gehalten werden konnte. Die Bedeutung der Via Claudia Augusta variierte seit jeher, je nach dem, welche Handelswege gerade von Bedeutung waren. „Unter Kaiser Septimius Severus im späten 2. Jahrhundert wurde die Brennerstrecke relevant, da vom Brenner kommend der Weg über Seefeld nach Augsburg, aber auch dem Inn folgend nach Regensburg möglich war“, sagt Grabherr. Auch heute hat die Via Claudia Augusta ihre Bedeutung nicht verloren. Als gut ausgebauter Rad- und Wanderweg ist sie auch im 21. Jahrhundert noch eine bedeutende Verbindung zwischen Ländern, Menschen, Kulturen, Reisenden und wird auch weiterhin die Wissenschaften beschäftigen.
Neu ist das ja alles nicht. Ein vereinter Kontinent, Diskussion um Grenzen, Impulse von außen: Alles schon dagewesen, in der Antike sogar. Das wird einem klar, wenn man den Latinisten Martin Korenjak undIsabella Walser-Bürgler zuhört: „Vorformen einer europäischen Identität gab es spätestens im Mittelalter, aufgehängt am ‚christlichen Abendland’. In der Neuzeit bewegt sich der Begriff dann von der religiösen Komponente weg und wird mit anderen Werten verbunden, mit Wissenschaft, Fortschritt, Kultur“, sagt Martin Korenjak. Am Ludwig-Boltzmann-Institut für Neulateinische Studien und dem Institut für Sprachen und Literaturen der Uni Innsbruck forscht er zur europäischen Wissenschaftsgeschichte und wie die sich in der lateinischen Literatur zeigt – konkret in der neulateinischen, also in der Neuzeit, als Latein als Muttersprache zwar ausgestorben, als Verkehrssprache unter Gelehrten aber weit verbreitet ist. Seine Kollegin Isabella Walser-Bürgler arbeitet am Ludwig-Boltzmann-Institut zum Europabegriff in der lateinischen Literatur: „Die lateinische Literatur zu Europa ist bislang noch relativ wenig berücksichtigt, wir haben fast nur nationalstaatliche und nationalsprachliche Quellen. Ich arbeite daran, neue Perspektiven auf den damaligen Europadiskurs zu eröffnen.“ Ein Diskurs, der fast so alt ist wie der Kontinent selbst. Geografisch etwa: Schon die Römer waren sich uneinig, wo Europa aufhört. An welchem Fluss ist Schluss? Am Don? Am Dnepr? Das Uralgebirge ist auch heute noch bloße Konvention, völkerrechtlich festgelegt ist diese Grenze nicht.
Identität Europa
„Bis ins 19. Jahrhundert hat man Kontinente nie anders als geografisch verstanden. Mit einer bedeutenden Ausnahme: Europa. Dieser Begriff war zu keinem Zeitpunkt neutral, immer war daran eine bestimmte Art der Zusammengehörigkeit geknüpft, der Abgrenzung, das zeigt die Literatur deutlich“, erklärt Isabella Walser-Bürgler. Abgrenzung vorrangig von Osmanen, Barbaren, eben Nicht-Europäern. Eine wichtige Rolle spielt dabei die lateinische Sprache: Sie ist bis weit in die Neuzeit lingua franca der europäischen Gelehrtenwelt und der Geistlichkeit. So bildete sich als frühe „Scientific Community“ die res publica literaria heraus, die Gelehrtenrepublik: Ihr gehörten alle wissenschaftlich Tätigen an, sie umfasste den gesamten lateinischen Sprachraum und ist damit als Vorläuferin der europäischen Einheit zu sehen. Und im Gegensatz zu den in Europa herrschenden Monarchien begriffen sich die Gelehrten als Republik. Sie waren auch die Träger der Aufklärung und trugen bedeutend zur Entstehung eines Europabewusstseins bei, das sich von der rein religiösen Definition löste.
Martin Korenjak erkläutert die Gelehrtenrepublik:
Jesuiten als Aufklärer
Aufgeklärt wurde auch von unerwarteter Seite: Jesuiten trugen als Missionare Wissen von außen nach Europa und befeuerten damit wissenschaftliches und aufklärerisches Denken. „Die Kirche schickte Missionare in nahezu alle denkbaren Weltgegenden, meist waren das Jesuiten. Diese Missionare unterrichteten dann auf Latein Europa darüber, was in anderen Teilen der Welt vor sich ging“, erzählt Martin Korenjak. Die Rolle von Latein als Sprache und der Jesuiten als Vermittler wird auch durch andere Beispiele deutlich: „Berühmt ist ein Beispiel vom Ende des 17. Jahrhunderts: Das expandierende chinesische Reich der Qing-Dynastie und das ebenfalls expandierende russische Reich stießen damals aufeinander, und es kam zu Konflikten. Der erste Friedensvertrag zwischen beiden Reichen war in Latein abgefasst: Die Chinesen konnten kein Russisch, die Russen kein Mandarin, aber auf beiden Seiten gab es europäische Jesuiten, die die jeweilige Landessprache beherrschten und Latein als neutrale, aber verbindliche Sprache für beide Seiten verwendeten.“
Martin Korenjak über Jesuiten in China:
In der Fremde die eigene Identität kennenlernen und das Fremde nach Europa zu tragen – das trägt wesentlich zum europäischen Selbstverständnis bei, heute noch und schon im Mittelalter und in der frühen Neuzeit.
Definitionssache
Mit dem europäischen Selbstverständnis beschäftigten sich viele neulateinische Autoren, wenn sie auch Unterschiedliches darunter verstanden. Und sie entwarfen Utopien: „Bestimmte Konzepte halten sich längerfristig, das von Europa als christliche Einheit etwa. Aber selbst das ist problematisch, das Christentum ist in sich gespalten, es gibt die Ost- und die Westkirche, Glaubenskriege, Muslime in Spanien und Albanien, und Juden kommen da überhaupt nicht vor. Politische Konzepte sind spannend: Es gab zum Beispiel mehrere Entwürfe für eine europäische Universalmonarchie, einen Länderverbund unter der Herrschaft eines der großen Fürstenhäuser, etwa Habsburg, Frankreich, Schweden. Oder die Idee eines pluralen Staatensystems, genau ausbalanciert nach Größe und Bevölkerungszahl, damit kein Staat mehr zu sagen hat als die anderen“, sagt Isabella Walser-Bürgler. Alles das wurde bekanntlich nie umgesetzt, in der Literatur wurde aber diskutiert und ausgeführt, warum diese Konzepte besser seien als der Status Quo, erklärt Walser-Bürgler: „Diese Konzepte waren auch keineswegs exotisch, das ist breit diskutiert worden und taucht in jedem Genre auf. Was die Arbeit natürlich auch erschwert, man muss sich alle Genres ansehen, auch die ‚schöne’ Literatur.“ Diskutiert wurde auch über den Namen „Europa“ an sich: Die mythologische Europafigur war keine Europäerin, außerdem keine Christin – sollte Europa nicht besser nach dem Sohn Noahs „Japhetien“ heißen?
Isabella Walser-Bürgler über den Europabegriff:
Wer ist Europäer?
Was und wer zu Europa gehört, unterschied sich auch je nach Autor: „Sozusagen der ‚Kernbestand’ Europas, Frankreich, das heutige Deutschland, Italien, das ist immer dabei. In Aufzählungen – und das wissen wir aus Korrespondenzen und Reiseberichten – kommen dann aber schon andere Gebiete mal vor, mal nicht, zum Beispiel die skandinavischen Länder“, sagt Isabella Walser-Bürgler. Nicht zu Europa zählte für die Gelehrten des Mittelalters und der frühen Neuzeit zum Beispiel Russland: „Dass Russland nicht dabei ist, hat mehrere Gründe, aber eine Rolle spielt das Große Schisma von 1054: Die West- und die Ostkirche trennten sich, damit gab es keine gemeinsame Sprache. Die Ostkirche hat Griechisch oder Altkirchenslawisch als Verkehrssprache, die Westkirche Latein, damit fiel Russland aus dem lateinisch definierten Europa hinaus“, sagt Martin Korenjak. Und Großbritannien? Dazu hieß es bereits in der Antike bei Virgil: „Toto divisos orbe Britannos.“ Die Britannier, um eine ganze Welt vom Rest Europas getrennt. Some things never change.
Heute steht die Mittelmeerinsel Lampedusa als Sinnbild für die Grenze Europas. Nur knapp 110 Kilometer vor der afrikanischen Küste gelegen, wurde sie nach dem Beginn des „Arabischen Frühlings“ 2011 innerhalb kürzester Zeit zum Brennpunkt der medialen Berichterstattung. Tausende Bootsflüchtlinge kamen jeden Monat über die Insel nach Europa. Durch den Bürgerkrieg in Syrien rückte Lampedusa als Grenzstation Europas vorübergehend in den Hintergrund. Nach der Schließung der sogenannten Balkan-Route steht das Mittelmeer heute erneut im Mittelpunkt der Debatte.
Der Kulturwissenschaftler Gilles Reckinger reiste schon 2009 zum ersten Mal nach Lampedusa, um dort mit Einheimischen und Flüchtlingen zu sprechen. Seine ethnografischen Beobachtungen hat er unter anderem im Buch „Lampedusa. Begegnungen am Rande Europas“ festgehalten, das mehrfach ausgezeichnet wurde und einen Einblick in die Lebenswirklichkeit der Lampedusani und der Flüchtlinge bietet.
In Feldstudien in Kalabrien und Südtirol hat Gilles Reckinger das weitere Schicksal der Migrantinnen und Migranten auf ihrem Weg nach Europa verfolgt. „Wir haben in Lampedusa gelernt, dass vieles anders ist, als es medial dargestellt wird“, sagt der Ethnologe. Wenn er das Leben der Flüchtlinge auf den Obst- und Gemüseplantagen Süditaliens dokumentiert, dann tut er dies nicht nur aus wissenschaftlichem Antrieb, sondern auch, um den Menschen zu zeigen, dass es ein anderes, für viele unbekanntes Europa gibt. Daraus ist gemeinsam mit der Fotografin Carole Reckinger die viel beachtete Ausstellung „bitter oranges“ entstanden, die das Gesicht der Sklaverei in Europa eindrücklich aufzeigt und ein breiteres Publikum für das Leben der Migrantinnen und Migranten sensibilisieren will.
Reckinger stellt klar, dass die Missstände in Kalabrien auf ein strukturelles Problem zurückgehen. Die Produktions–bedingungen, vor allem in der Landwirtschaft, und die Lebensmittelerzeugung seien stark von Ausbeutung gekennzeichnet. „Hier treffen die Effekte des europäischen Grenzregimes, des Migrationsregimes und der Agrarpolitik aufeinander“, sagt Reckinger, dessen Professur von der Stiftung Südtiroler Sparkasse finanziert wird.
Potenzial nicht übersehen
Die Grenze und das Leben zwischen mehreren Ländern, Sprachen und Kulturen prägten Gilles Reckinger schon als Kind, da er selbst in einem kleinen Dorf in Luxemburg, an der Grenze zu Belgien, aufwuchs. Sein Interesse für die Menschen, die immer etwas „dazwischen“ sind, ist daher bei ihm schon früh entstanden.
„Die Migrantinnen und Migranten auf Lampedusa sind die Vorzeige-Europäer, weil sie das machen, was viele Europäer letztendlich nicht machen – nämlich über Grenzen schauen.“
Gilles Reckinger
Reckinger erinnert sich an viele, die sich nach ihrer Ankunft auf Lampedusa auch sprachlich ihrem Umfeld rasch angepasst haben. „Das sind zum Beispiel Leute, die ganz schnell Französisch gelernt haben, nachdem sie auch ganz rasch Italienisch gelernt haben und Englisch sowieso schon konnten.“ Dieses Potenzial dürfe nicht übersehen werden.
„Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elisium“, so hebt Friedrich Schillers „An die Freude“ von 1785 an. Die erste Strophe in einer erneuerten Fassung von 1808 schließt mit „Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt“, an die Schwestern dachte Schiller damals vermutlich nicht. Die Melodie dazu, ein Teil aus dem 4. Satz von Beethovens 9. Sinfonie, ist eines der offiziellen Symbole der Europäischen Union, gemeinsam unter anderem mit der blauen Flagge und ihren zwölf Sternen, dem Euro, dem Europatag. Als Europahymne gilt allerdings nur die Melodie, Schillers Text, von Ludwig van Beethoven selbst ausgewählt, ist ausdrücklich nicht Teil davon – um keine Sprache in der Union zu bevorzugen.
„Alle Menschen werden Brüder“: Zumindest inoffiziell taugt der Satz dennoch für die EU – dem europäischen Einigungsprozess nach 1945 verdanken wir mehr als 70 Jahre Frieden zwischen den einstigen Großmächten auf dem Kontinent, Wirtschaftswachstum, Wohlstand. Dennoch gibt es heute immer lautere Rufe nach einer reformierten Union, das institutionalisierte Europa scheint im dauernden Krisenmodus. Andreas Maurer, Professor für die Politik der Europäischen Integration am Institut für Politikwissenschaft, rückt das Krisen-Bild zurecht: „Verglichen mit den über Jahrhunderte gewachsenen Nationalstaaten ist die EU beständigen Reformen ausgesetzt. Die Reformen allein sind kein Ausdruck irgendeiner Krise, die EU ist extrem flexibel und passt sich vor allem im Vergleich zu Staaten relativ schnell neuen Anforderungen an. Und zwar nicht nur programmatisch, sondern auch institutionell.“ Zu sehen etwa am Europäischen Parlament: Vom reinen Redeparlament ist es in vergleichsweise kurzer Zeit durch Vertragsänderungen und Reformen zu einem gesetzgeberischen Arbeitsparlament geworden, das sich auch gegen die nationalen Regierungen durchsetzt.
Reformforderungen
So sieht der Politikwissenschaftler auch Forderungen nach neuen Strukturen für die Eurozone, wie sie jüngst etwa der französische Präsident gefordert hat, skeptisch: „Ein europäischer Finanzminister löst keine Probleme in der Wirtschaftspolitik. Ein Eurozonen-Parlament schafft eine Parallelstruktur und spaltet das Europäische Parlament. Alle paar Jahre, fast immer, wenn europaweit neue Generationen an Politikern antreten, gibt es derartige große programmatische Reden, die einen großen Modernisierungsschub vorschlagen, weil sich die ‚Neuen‘ profilieren wollen. Die Union hält das aus, und natürlich braucht es diese Zündungen auch, selbst wenn sie meistens verpuffen.“ Der bevorstehende Brexit, der Austritt Großbritanniens aus der EU, wird Änderungen notwendig machen, wenn sie auch zuerst kosmetisch ausfallen dürften: „Es sieht ganz danach aus, als würden Personalstand und Budget einfach um den Anteil Großbritanniens verringert. Dann gibt es eben genau 73 Abgeordnete zum Europäischen Parlament weniger, einen Kommissar weniger, das Budget sinkt um genau den Anteil Großbritanniens, und so weiter.“
„Im Moment des Austritts ist die Beziehung der EU zu Großbritannien vergleichbar mit der zu Nordkorea.“
Andreas Maurer über den Brexit.
Den Brexit selbst sieht Andreas Maurer als in erster Linie für Großbritannien schwierig: „Ohne Übertreibung: Im Moment des Austritts ist die Beziehung der EU zu Großbritannien vergleichbar mit der zu Nordkorea. Das wird auch den Briten allmählich klar, die haben weitgehend unterschätzt, wie groß der Rechtsbestand der EU ist, den sie nun selbst regeln müssen.“ Aufgrund dieser Erfahrungen seien weitere Austritte auch sehr unwahrscheinlich. Selbst jene osteuropäischen Länder, die die EU innenpolitisch als Gegner stilisieren, seien letztlich auf die Union angewiesen: „Die Visegrád-Staaten, allen voran Ungarn und Polen, sehen die Union primär als Wirtschaftsunion und machen auch bei allen Vertiefungen des Binnenmarkts mit. Wir haben da aber ein Problem in Bereichen wie der Justiz, den Grundrechten – die betroffenen Länder haben offenbar nicht ausreichend bedacht, dass dort die gleichen Mechanismen wie beim Binnenmarkt gelten und dass man in der Union bei Mehrheitsentscheidungen auch überstimmt werden kann. Ich will das gar nicht kleinreden, Grundrechtsverletzungen in osteuropäischen Mitgliedern sind ein großes Problem, aber die weitaus meisten EU-Beschlüsse tragen die Osteuropäer mit. Die Nachteile eines EU-Austritts dieser Staaten wären für sie enorm, für die restliche Union nicht besonders groß.“
Die EU in 15 Jahren
Wie geht es nach dem Brexit weiter? „Ich denke: Wir kommen die nächsten zehn Jahre ohne große Vertragsänderung aus. Gleichzeitig mit den nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament, 2019, verhandeln wir wohl zugleich einen großen Konvent für eine Vertragsänderung, wie es seit dem Lissabon-Vertrag vorgesehen ist. Da sind dann Vertreterinnen und Vertreter aller EU-Institutionen, der nationalen Parlamente und einiger weiterer Institutionen vertreten. 2019 ist auch der Brexit absehbar, der Konvent macht sich dann Gedanken darüber, wie eine EU ohne Großbritannien, mit den Balkan-Staaten als möglichen neuen Mitglieder aussehen kann, wie die Kompetenzen verteilt sein sollen, wie die Institutionen gestaltet sein müssen.“ In etwa zehn bis fünfzehn Jahren, nach dem Konvent und der Ratifizierung des neuen Vertrags in allen Mitgliedsländern, hätte die EU dann eine neue Struktur. „Ich behaupte: In zehn bis fünfzehn Jahren sind auch alle derzeitigen EU-Mitglieder, ohne Großbritannien, Mitglieder der Eurozone. Alle haben sich dazu verpflichtet und ich glaube sogar, auch die Dänen, die eine Ausnahmeregelung haben, werden den Euro einführen. Damit löst sich auch die Diskussion um Parallelstrukturen für die Eurozone, weil die EU deckungsgleich ist mit der Eurozone“, sagt Andreas Maurer.
„In zehn bis fünfzehn Jahren sind alle derzeitigen EU-Mitglieder in der Eurozone.“
Andreas Maurer
„Denkbar ist dann eine Art Doppelhut-Funktion des Währungskommissars, er oder sie sitzt dann auch dem Wirtschafts- und Finanzministerrat vor, wie wir es heute schon in der Außenpolitik haben.“ Eine weitere Europäisierung sieht der Politikwissenschaftler auch bei den Wahlen zum Europäischen Parlament: „Ich glaube, die europäischen Parteien werden sich von nationalen Parteien emanzipieren und erkennbar europäische Wahlkämpfe machen. Vorstellbar wäre auch eine Art Spitzenkabinett-System, nicht nur ein Spitzenkandidat: Die großen Parteien treten mit einem Team aus möglichen Kommissarinnen und Kommissaren an, nicht nur mit einem Spitzenkandidaten, aus jedem Land ein Kandidat oder eine Kandidatin für ein konkretes Amt in der Kommission.“
Die Zukunft Europas als Kontinent ist für Andreas Maurer jedenfalls eng an einen geglückten Einigungsprozess gebunden: „Europa ist natürlich mehr als seine Institutionen. Aber gleichzeitig ist die EU für mich Europa, einschließlich Norwegens, Islands, der Schweiz, also die Staaten der EFTA, und des Balkans.“ Alle Menschen werden Brüder: Zu Beethovens 9. Sinfonie gibt es übrigens eine ganze Reihe an Textfassungen. Darunter mindestens eine sehr österreichische: Der Wiener Volksschauspieler Kurt Sowinetz sang 1972 „Olle Menschen san ma zwider“. Auch das ist Europa.
Mit über 1,3 Millionen Asylanträgen wurde die Europäische Union 2015 vor zahlreiche Herausforderungen gestellt. Die große Zahl an Menschen, die vor allem aus Syrien, Afghanistan und dem Irak nach Europa geflüchtet sind, bringt auch aus religiöser Sicht neue Herausforderungen für Europa mit sich. Für die katholische Theologin Martina Kraml und Zekirija Sejdini, Professor für islamische Religionspädagogik an der Uni Innsbruck, kann diese Herausforderung nur durch ein Miteinander bewältigt werden.
Die letzten Fluchtbewegungen haben die Angst- und Bedrohungsgefühle Europas gegenüber dem Islam verstärkt. Das Motiv des christlichen Europas wurde und wird als Gegenbild zum Islam bemüht. Die Diskussion zum Islam ist aber älter, weiß Martina Kraml, Universitätsprofessorin für Katechetik/Religionspädagogik und Religionsdidaktik an der Katholisch-Theologischen Fakultät und der School of Education der Uni Innsbruck: „2015 hat nur viel zutage gebracht über das, wie wir in Europa denken und agieren. Gerade der Islam wird gerne als Religion dargestellt, die über Europa hereingebrochen ist und das europäische Gefüge gestört hat.“ Gestört wurde laut Kraml dabei vor allem eine religionskritische Haltung, die dem Glauben immer weniger öffentlichen Raum zugesteht. „Im Lauf der Geschichte wurde Religion – auch der christliche Glaube – in manchen Kreisen in Europa immer wieder hauptsächlich mit Gewalt in Verbindung gebracht und es galt vielfach der Grundsatz, je weniger Raum Religionen zugestanden wird, desto besser“, erklärt Kraml. „Der Islam, der in Bezug auf Religion ein ganz anderes Konzept hat – zum Beispiel im Hinblick auf religiöse Symbole wie das Gebet oder das Kopftuch – macht Religion in der Öffentlichkeit wieder sichtbar. Dadurch wurde diese Kontroverse vielleicht noch verstärkt.“
„Der Islam wird als Religion dargestellt, die hereingebrochen ist, und Europa gestört hat.“
Martina Kraml
Auch Zekirija Sejdini, Professor für islamische Religionspädagogik an der School of Education der Uni Innsbruck, bestätigt die Beobachtung, dass der Islam oft als Bedrohung für das christliche Abendland dargestellt wird: „In Österreich ist der Islam beispielsweise schon seit 100 Jahren offiziell anerkannt und ich würde sagen, es ist ganz gut gelaufen. Im Zuge der medialen Diskussionen seit 2015 wurde es aber plötzlich gesellschaftsfähig, Dinge zu sagen, die vielleicht immer schon gedacht aber nie ausgesprochen wurden. Eine bestimmte Kritik ist natürlich sinnvoll, denn jede Religion benötigt Kritik, um sich zu erneuern. Was sich mittlerweile aber medial und politisch abspielt, hat mit konstruktiver Kritik wenig zu tun“, so Sejdini. Martina Kraml betont in diesem Zusammenhang die Wahrung der Religionsfreiheit als wichtigsten Grundsatz. In Europa wurde diese erst durch den Prozess der Säkularisierung, der erst Wahlfreiheit ermöglichte, durchgesetzt. Gleichzeitig sieht sie, dass in Europa ein ambivalentes Verhältnis zu Religion besteht, es immer wieder Tendenzen gibt, die Religion als problembehaftet darzustellen und zu versuchen, sie aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen. Diese einseitige Sicht und mangelnde Sensibilität für Religion zeigt sich, so Kraml, aktuell überall: „So nimmt das grundsätzliche Unverständnis gegenüber den religiösen Symbolen der meisten Religionen zu, gegenüber dem Islam ist es allerdings am schärfsten. Dabei wäre es gerade dieser öffentliche Raum, in dem die Religiösen und Nicht-Religiösen sowie die Religionen untereinander Gemeinsamkeiten entdecken und Solidarität entwickeln könnten, vorausgesetzt, sie können Anerkennung durch die Öffentlichkeit erfahren.“
„Gläubige Menschen müssen Interesse daran haben, in einem säkularen demokratischen Rechtsstaat zu leben, denn erst dieser ermöglicht ihnen, ihren Glauben zu leben.“
Zekirija Sejdini
In diesem Zusammenhang verdeutlicht Sejdini: „Natürlich besteht für Menschen, die glauben, dass sie irgendwann vor Gott stehen werden, kein Zweifel daran, dass sie ihren Glauben über alles stellen. Daraus lässt sich aber keine Aufforderung zur Missachtung des eigenen Staates ableiten. Im Gegenteil, gläubige Menschen müssen Interesse daran haben, in einem säkularen demokratischen Rechtsstaat zu leben, denn erst dieser ermöglicht ihnen, ihren Glauben zu leben“. Die Wissenschaftler, die im Bereich der islamischen und katholischen Religionspädagogik bereits sehr eng zusammenarbeiten, sind überzeugt davon, dass ein Miteinander nicht von einem neutralen Standpunkt aus funktioniert, betonen aber, dass eine Vermischung der Religionen nicht das Ziel sein muss und kann. „Es geht nicht darum, das Eigene aufzugeben, sondern darum, in Beziehung zu gehen und offen für Möglichkeiten zu bleiben“, so Kraml. „Vielfalt sollte als potentielle Bereicherung gesehen werden – dazu brauchen wir natürlich starke Fundamente und Kompetenzen, um diese für die Gesellschaft fruchtbar zu machen. Daran müssen wir gemeinsam arbeiten“, bestätigt Sejdini.
Fühlen wir uns eigentlich als Europäerin, als Europäer? Wenn ja: Woraus besteht die europäische Identität? Die Philosophin Marie-Luisa Frick beschäftigt sich mit Fragen des kulturellen Dialogs auf verschiedenen Ebenen. Als Expertin für politische Philosophie und Rechtsphilosophie spielen dabei Menschenrechte eine große Rolle. Ihre Sicht auf Europa hat sich in den letzten Jahren stark geändert: Nicht nur aufgrund verschiedener gesellschaftspolitischer Ereignisse, sondern vor allem durch Aufenthalte in außereuropäischen Ländern. Reisen weg vom Kontinent, die ihre Selbstwahrnehmung als Europäerin verändert haben. Das Verlassen der europäischen Komfortzone hält sie für die Ausbildung einer europäischen Identität für wesentlich. Warum, erzählt Marie-Luisa Frick im Interview:
Was verstehen Sie unter europäischer Identität?
Die Identität eines einzelnen Menschen oder auch einer Gruppe von Menschen entwickelt sich immer erst in der Auseinandersetzung mit dem anderen – häufig auch in Abgrenzung zu anderen. Wirft man einen Blick darauf, wie Europa versucht, sich selbst zu definieren, dann geschieht das oftmals in Abgrenzung einerseits zu den USA, andererseits aber auch zu jenen Systemen, die nicht demokratisch verfasst sind. Das ist nicht per se zu verurteilen, denn man benötigt ein „Du“, um zu einem „Ich“ zu kommen. Die Frage ist, wie mit dem „Du“ umgegangen wird und da haben wir es natürlich immer wieder mit Unschärfen und Zerrbildern des jeweils „anderen“ zu tun. Dennoch ist das ein unvermeidlicher Weg in einem Selbstfindungsprozess, den die europäischen Gesellschaften schon lange gehen und noch länger gehen werden müssen. Und dieser Prozess ist offen: Die europäische Identität wird nie abgeschlossen feststehen, denn jede Generation steht neu vor dieser Aufgabe.
Ist dieser Prozess in der Bevölkerung auch präsent?
Ich denke ja, und doch wird vieles als selbstverständlich angesehen. Dabei genügt schon ein Blick in die jüngere Vergangenheit, um festzustellen, dass das Europa, wie wir es heute erleben, eben alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist. Meine Großeltern mussten den Zweiten Weltkrieg miterleben und für diese Generation war es völlig unvorstellbar, dass Europa sich nach dem Kalten Krieg von Ost nach West vereint. Für meine Generation und sogar die meiner Eltern ist das Gegenteil nicht mehr vorstellbar. Wir haben aber keine Garantie für dieses Europa, daher sollte unsere europäischer Lebensraum mehr Wertschätzung erfahren. Jeder Mensch in Europa trägt auch im Kleinen die Verantwortung für die Weiterentwicklung des Projektes Europa und der europäischen Identität.
Wie kann das gelingen?
Durch Verlassen des Bekannten, der Komfortzone Europa. Im Vergleich zu meiner Jugendzeit beobachte ich, dass heute weniger Menschen erkundend in die Welt reisen. Studierende bewegen sich vorwiegend in Europa und wenn nicht, dann in abgesicherten Gebieten, die von Wohlstand geprägt sind. Mit fehlt da an vielen Stellen die Lust auf das Fremde – und auf das Heraustreten aus Selbstverständlichkeiten. Dabei halte ich gerade das für absolut wesentlich, denn letztlich ist Identitätsbildung immer ein persönlicher Prozess, für den es auch die entsprechenden, gerade auch irritierenden Anreize braucht. Viele Menschen denken, dass die Welt „da draußen“ die Ausnahme ist – und wir sind die Regel. Meiner Meinung nach ist es genau umgekehrt: Wir sind die Ausnahme, und das müssen wir erst verstehen lernen.
Was macht uns zur Ausnahme?
Es gibt viele verschiedene Sichtweisen auf mögliche Säulen der europäischen Identität. Aus einer religiösen Perspektive würde hier sicher das Christentum als prägende identitätsgebende Kraft genannt werden. Dem widerspreche ich nicht, aber im gleichen Atemzug würde ich die Aufklärung nennen. Das eint uns mit jenen Gesellschaften, die auch eine Epoche der Aufklärung durchlebt haben und trennt uns von jenen, die das nicht haben. Die Aufklärung und der daraus gewachsene freiheitliche Lebensstil ist ein wesentlicher Eckpfeiler der europäischen Identität, auch wenn heute leider nur wenige mit „Aufklärung“ mehr verbinden als ein Schlagwort.
Viele Menschen identifizieren sich offenbar stärker mit Nationalstaaten als mit Europa.
Da muss man meiner Meinung nach unterscheiden. Ich denke, dass das Gefühl, Europäer zu sein, heute bei vielen, besonders jungen Menschen so stark ist wie nie zuvor. Gerade im Hinblick auf die europäische Staatsbürgerschaft, die die Menschen zum Teil einer größeren Union werden lässt, die ihnen wiederum viele Handlungsspielräume einräumt – und somit auch in das Bewusstsein hineinwirkt. Der Rückzug der Menschen in ihre kleineren staatlichen Strukturen ist eine aus meiner Sicht verständliche Reaktion auf das Versagen der Europäischen Union auf vielen Ebenen. Viele Bürgerinnen und Bürger lässt das enttäuscht zurück. Wenn es im gemeinsamen Haus „Europa“ durch das Dach regnet, ist der Rückzug ins eigene „Schneckenhaus“ nachvollziehbar.
Schaden diese Tendenzen Europa?
Solche Krisen könnten meiner Meinung sogar positiv sein: Europa ist größer als seine Institutionen innerhalb der EU. Denken wir etwa an den Europarat mit seinem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der in seiner Zusammensetzung über die EU-Mitgliedsstaaten weit hinausgeht. Ich würde dennoch Europa nicht über Institutionen definieren. Europa kann meiner Ansicht nach nur gelingen, wenn es von unten – von den Menschen – getragen wird. Das kann auch, ja muss vielleicht sogar innerhalb vitaler Einzelstaaten geschehen. Die europäische Identität ist jedenfalls in Bewegung und das Experiment „Europa“ hat noch viel Spielraum für Entwicklungen.
© News-Redaktion der Universität Innsbruck 2017
Mit Beiträgen von:
Melanie Bartos, Christian Flatz, Stefan Hohenwarter, Daniela Pümpel, Susanne Röck
Zusatzmaterial:
Bitter Oranges – African migrant workers in Calabria
Lampedusa. Begegnungen am Rande Europas
Zeit für Wissenschaft 019: Lampedusa mit Gilles Reckinger
Video: Andreas Maurer zur Europäischen Union
Sujetfotos/-videos: colourbox.de, Mann im Flüchtlingslager: Carole Reckinger, Lampedusa: Luca Siragusa, CC BY 2.0, Fahnen vor dem Berlaymont-Gebäude: © EU 2016/Etienne Ansotte