Bedroht, verehrt, verzehrt

subject_10: Tiere | Verdienen Tiere Rechte? Was ist das eigentlich, ein gutes Tierleben? Und welche Rolle spielen Tiere in der Forschung? Diese und weitere Fragen beantworten Forscher*innen der Uni Innsbruck.

News-Redaktion der Uni Innsbruck, März 2021

Haustier, Nutztier, Versuchstier. Der beste Freund des Menschen, Lieblingsessen, Therapeut: Menschen pflegen durchaus Verhältnisse zu Tieren, und das spiegelt sich in der Wissenschaft und in ihren unterschiedlichen Zugängen wider. Auch an der Uni Innsbruck beschäftigen sich zahlreiche Forscherinnen und Forscher mit Tieren – ihren facettenreichen Perspektiven widmen wir uns in diesem „subject“. Wie sprechen wir über Tiere? Was bedeutet Tierwohl eigentlich genau und welche Arten sind schützenswert? „Was das ‚gute Leben‘ für Tiere und besonders für Nutztiere im gesellschaftlichen Diskurs ausmacht, ist einem kontinuierlichen Wandel unterworfen“, hält die Ethnologin Nadja Neuner-Schatz fest und betont die Komplexität des Themas. Ein vergleichsweise junger wissenschaftlicher Zugang ist der der „Human-Animal Studies“ (HAS). „Die Disziplin der Human-Animal Studies bietet sich an, Verhältnisse, Beziehungen und Interaktionen zwischen Menschen und anderen Tieren auf tiergerechte Art und Weise zu untersuchen“, erklärt die Latinistin Prof. Gabriela Kompatscher, die sich dem Thema aus literatur- und altertumswissenschaftlicher Sicht nähert. Ob Tierhaltung in der Landwirtschaft, Tiere und Tierbestand als Indikatoren für Klimawandel und Veränderungen in der Natur oder in wissenschaftlichen Versuchen: Historische Perspektiven treffen hier auf pragmatisch-praktische Zugänge, Utopien auf Gegenwartsbeschreibungen.

Wie du mir, so ich Tier

Für Ökolinguist*innen wie Reinhard Heuberger führt der Weg zu einem respektvolleren Umgang mit Tieren auch über eine kritische Reflexion unserer Alltagssprache. Und der Philosoph Andreas Oberprantacher beschäftigt sich damit, ob Tiere ähnlich Menschen Träger unveräußerlicher Rechte sind.

Sprachliche Annäherungsversuche

Menschen essen. Tiere fressen. – Dieser minimale und selten hinterfragte Unterschied im Sprachgebrauch ist weitreichender, als man zunächst meinen möchte: Er drückt als eines von vielen Beispielen eine grundlegende sprachliche Distanzierung zwischen Menschen und Tieren aus. „Häufig wird für analoge menschliche und tierische Konzepte ein unterschiedlicher Wortschatz verwendet, selbst wenn gar keine Unterschiede objektivierbar sind. Das schafft eine gewisse emotionale Distanz zu Tieren, was es uns wiederum leichter macht, Tiere für unsere Zwecke zu nutzen“, erklärt Ass.-Prof Dr. Reinhard Heuberger vom Institut für Anglistik, der die Human Animal Studies an der Universität Innsbruck um sprachwissenschaftliche Aspekte bereichert.  Denn Sprache – so formulierte es der bekannte Linguist Michael Halliday – bildet die Wirklichkeit nicht nur ab, sondern konstruiert diese mit. Außerdem trägt sie eine zutiefst menschliche Weltsicht. „Sprache als Produkt der Evolution ist natürlich in einem absoluten Sinn immer anthropozentrisch. In der Ökolinguistik unterscheiden wir aber zwischen einer primären und sekundären Form der Anthropozentrik. Während die primäre Form unvermeidbar ist, kann die sekundäre Form überwunden werden“, erklärt Reinhard Heuberger, der überzeugt davon ist, dass ein Überdenken des Sprachgebrauchs die Beziehung zwischen Mensch und Tier verbessern kann. 

Ass.-Prof. Mag. Dr. Reinhard Heuberger ist Mitglied der Human Animals Plattform an der Universität Innsbruck.

Ass.-Prof. Mag. Dr. Reinhard Heuberger ist Mitglied der Human Animals Plattform an der Universität Innsbruck

„Ich plädiere für mehr Objektivität und Sorgfalt bei der Erstellung von Wörterbuchdefinitionen.“

Reinhard Heuberger, Anglist und Ökolinguist

Die sekundäre, utilitaristische Form der Anthropozentrik ist gänzlich vom Nützlichkeitsdenken des Menschen geprägt und sollte nach Ansicht von Ökolinguist*innen in dieser Form auf jeden Fall kritisch hinterfragt werden. So werden Tiere beispielsweise ganz selbstverständlich nach ihrem Zweck für den Menschen in Nutztiere, Haustiere, Pelztiere oder Versuchstiere unterteilt. „Damit werden sie auf eine dem Menschen zur Verfügung stehende Ressource reduziert.“ Auch die Bezeichnungen Schädling, Ungeziefer oder Menschenfresser betonen einzig und allein das aus menschlicher Perspektive negative Profil bestimmter Tiere, wodurch ihnen kein eigenständiger Wert und keine Daseinsberechtigung zugestanden werden. Aber nicht nur auf Wortschatzebene, sondern auch in Grammatik und Diskurs sind verschiedene Spielarten der Anthropozentrik festzumachen.

Auf der Diskursebene liegt ein langjähriger Forschungsfokus von Reinhard Heuberger, der sich seit seiner Dissertation u.a. der Analyse englischsprachiger Lernerwörterbücher und den darin festgeschriebenen Definitionen widmet. „Obwohl Wörterbücher ein sehr hohes Ansehen in Hinblick auf ihre Objektivität genießen, finden sich gerade dort gesellschaftlich weit verbreitete Ideologien wieder. Das trifft auch auf die Definition von Tieren zu“, erzählt Heuberger.

Reinhard Heuberger analysiert Tierdefinitionen aus englischsprachigen Lernerwörterbüchern und veranschaulicht, welche Haltung gegenüber Tieren diese häufig transportieren. Der Videoausschnitt stammt aus einem Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung Human Animal Studies im Wintersemester 2020/21.

Ein sehr plakatives Beispiel aus der Welt der englischsprachigen Lernerwörterbücher ist die Definition von Frosch: „In vielen Wörterbucheinträgen wird bei Frosch auf Froschschenkel als Delikatesse Bezug genommen“, schildert Heuberger seine Beobachtungen dazu.

Frosch

Einsprachige Lernerwörterbücher sind ein Fundus für Weltanschauungen: Frog: a small animal with smooth skin, that lives both on land and in water. The legs of certain types of frogs are cooked and eaten as food, esp in France
Quelle: OALD (1995). Oxford Advanced Learner's Dictionary. Ed. Jonathan Crowther. Oxford: Oxford University Press.

Sprachwandel und Gesinnungswandel

Als Gegenperspektive zum anthropozentrischen Sprachgebrauch werden von Linguist*innen verschiedene Modelle diskutiert, u.a. auch ein physiozentrisches Modell, das jedem Tier und jeder Pflanze einen eigenen Wert und eine intrinsische Funktion im Ökosystem beimisst und entsprechend benennt. Honig wäre in so einem Modell beispielsweise nicht mehr Honig, sondern „Nahrung für junge Bienen“. Solche Überlegungen sind aus Sicht von Reinhard Heuberger zwar berechtigt, aber dennoch unrealistisch. „Das sind schöne Fantasiemodelle, die gesellschaftlich nicht umsetzbar sind“, meint Heuberger und ergänzt mit einem Lachen: „Ökolinguisten rennen nicht mit erhobenem Zeigefinger durch die Welt und schreiben vor, wie Sprache zu verwenden ist – wir sind keine Präskriptivisten.“ Die Ökolinguistik ist seiner Ansicht nach aber sehr wohl von großer Bedeutung, um die Gesellschaft sprachlich zu sensibilisieren. Sie fordert und fördert die Entwicklung einer „speziesgerechten“ Sprache. Deshalb möchten Reinhard Heuberger und seine Kolleg*innen sie in der Lehre und besonders auch in der Lehrer*innenbildung an der Universität Innsbruck verankern. „Denn Sprachwandel und Gesinnungswandel greifen zweifelsohne ineinander und können sich gegenseitig befruchten“, ist Reinhard Heuberger überzeugt.

Tieren Mitsprache geben

Das wohl bekannteste Tier des politischen Denkens ist der Wolf. „Schon bevor Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert den Spruch homo homini lupus populär gemacht hatte, war dies eine relativ bekannte Wendung der Antike”, sagt der Philosoph Andreas Oberprantacher. „Der Wolf reflektierte dabei häufig Grenzen – etwa jene zwischen Natur- und Kulturzustand.” Die Geschichte der politischen Theorie ist reich an Tiergestalten. So finden wir dort auch Insekten (Bienen, Ameisen), wenn es um Konzeptionen des Staates geht, Füchse und Igel, wenn es um das Verständnis menschlicher Haltungen geht, aber auch Schafe und Ochsen im Fall der „Kunst”, Menschen wie Herden zu leiten.

Während das Tier im politischen Denken als Metapher für den Menschen steht, wird es im politischen Leben zur Sache degradiert. „Das hat schon in der griechischen Antike begonnen und wurde vom römischen Recht weitergeführt”, sagt Andreas Oberprantacher. „Tiere wurden objektiviert, als Eigentum klassifiziert und eine eigenständige Rechtssubjektivität wurde ihnen abgesprochen.” Heute gibt es Ansätze, mit dieser Tradition zu brechen und Tiere als „Träger bestimmter unverletzlicher Rechte” zu verstehen – analog zu den Menschenrechten. Anwendung finden diese Rechte zum Beispiel in einem staatsbürgerlichen Modell für domestizierte Tiere, das sie als Teile des „Volkes“ – in einem umfassenderen Sinne – begreift, oder in der „Souveränität“ von Wildtieren, die weder vertrieben noch beherrscht werden sollen. Für den städtischen „Schwellenbereich“, wo Tiere weder wild noch domestiziert leben, werden eigene Richtlinien zur Gestaltung der Koexistenz angedacht und angeregt. „Ein solcher – dezidiert politischer – Zugang zur Versachlichung, Aneignung und Ausbeutung, ja, Vernichtung von Tieren hat zur Folge, dass es nicht genügt, Tieren unser wohltätiges Mitleid zu gewähren, sie ethisch anders zu behandeln“, sagt Andreas Oberprantacher. „Gefordert wird ein neues System von Rechten, das nicht an der scheinbaren Grenze von menschlichen Subjekten und tierischen Objekten Halt macht und Prozesse der Anerkennung und der Beteiligung anders und neu denkt, um so interspezifische Gewaltverhältnisse zu kritisieren und zu minimieren.”

Als Philosoph ist sich Oberprantacher der schillernden Bedeutung des Subjektbegriffs bewusst: „Wir sollten nicht vergessen, dass auch vielen Menschen wiederholt der Subjektstatus abgesprochen wird und sie zur ‚Sache‘ degradiert werden.“ Bei der Frage nach der politischen Subjektivität von Tieren geht es für den Philosophen daher um das, was Hannah Arendt als genuin politische Tätigkeiten bezeichnet hat: um das miteinander Handeln und Sprechen. Während es für Arendt allerdings klar zu sein schien, dass Handeln und Sprechen ein politisches Vermögen von Menschen ist, wird heute versucht, Handeln und Sprechen zu re-konzipieren und die Mensch/Tier-Grenze kritisch zu reflektieren. „Es geht also auch darum, anthropozentrische Verständnisse vom Handeln und Sprechen zur Diskussion zu stellen. Wir müssen uns vielmehr bemühen, Formen und Weisen des tierischen Handelns und Sprechens (an)zuerkennen“, so Oberprantacher.

Andreas Oberprantacher

Der Philosoph Andreas Oberprantacher. 

„Selbst wenn Tiere nicht so handeln und sprechen wie wir, bedeutet das ja nicht, dass sie gar nicht handeln und sprechen, sondern vielleicht eher, dass unsere bisherigen Definitionen exklusiv bzw. speziesistisch sind.“

Andreas Oberprantacher

Wie aber mit den Tieren sprechen? Zwar gilt es, die Bedingung der Möglichkeit einer kritischen Fürsprache, d.h. eines Sprechens von Menschen für Tiere zu diskutieren, so Andreas Oberprantacher, was ja bei Tiermissbrauch, der Zerstörung von Habitaten usf. geschieht. Zugleich sei es aber auch erforderlich, das Verständnis für Tiersprachen weiterzuentwickeln. Angesichts der Mannigfaltigkeit von tierischen Sprechweisen, die uns zumeist unvertraut und unverständlich erscheinen, müsse eine Kultur des Zuhörens entwickelt werden. „Das Problem ist nicht unbedingt, wie sich Tiere Gehör verschaffen können, sondern, was wir Menschen dazu beigetragen haben, den Tieren Chancen der Mitsprache abzusprechen.“

Katze

In einer ambivalenten Rolle finden sich Haustiere wieder.

In einer sehr ambivalenten Rolle gefangen ist das Haustier. „Durch den engen häuslichen Bezug ist es zwar häufig so, dass Haustiere als dem Menschen emotional und sentimental zugehöriger erachtet werden als Nutz- und Wildtiere, fast schon zu einem Teil der Familie werden,“ sagt Oberprantacher, „das schützt allerdings nicht vor Entrechtung, zumal der häusliche Bereich ebenso Stätte der Zuflucht und Hort der Gewalt sein kann. Das Verhältnis von Haus- und Stalltieren, aber auch von Wildtieren sollte angesichts ‚unteilbarer Tierrechte‘ überdacht und Zugehörigkeit und Beteiligung nicht an der Idee des ‚Häuslichen‘ festgemacht werden“, so der in den Human-Animal Studies Innsbruck aktive Philosoph.

Leviathan von Thomas Hobbes

Mit seinem „Leviathan“ hat Thomas Hobbes den Spruch „homo homini lupus“ berühmt gemacht.

Purer Eigennutz beim Artenschutz?

Welche Tierarten sind schützenwert und warum schützen wir sie ? Damit beschäftigt sich die Philosophin Karin Wohlgemuth. Artensterben und Artenschutz stehen auch im Fokus von Wolfgang Mark: In mehreren Projekten untersucht der Zoologe die gefährdete Artenvielfalt Madagaskars.

Wer ist schützenswert?

Ist eine Art nur dann schützenswert, wenn ihr Weiterbestand für Menschen Sinn macht? Mit dieser Frage beschäftigt sich Karin Wohlgemuth. In ihrer Dissertation am Institut für Philosophie beleuchtet sie die Mensch-Tier-Beziehung im Zusammenhang mit dem Artensterben im Anthropozän. „Der im Mai 2019 erschienene Global Assessment Report on Biodiversity and Ecosystem Services Since 2005 des Weltbiodiversitätsrates IPBES sieht eine Million von geschätzten acht Millionen Spezies der Flora und Fauna vom Aussterben bedroht. Das durch Menschen verursachte Artensterben ist in erster Linie auf einen Verdrängungsprozess und einen Kampf um Ressourcen und Lebensraum zurückzuführen. Der Biodiversitätsverlust zählt also sicher zu den drängendsten Herausforderungen unserer Zeit“, beschreibt Karin Wohlgemuth die Ausgangslage für ihre Arbeit. Sie will dieses Sterben und seine Ursachen genauer beleuchten und untersuchen, wie sich Mensch-Tier-Beziehungen im Rückgang der Diversität der Fauna abbilden.

„Die gesellschaftspolitischen Herausforderungen des Biodiversitätsverlustes und des Artensterbens fordern neue Betrachtungsweisen unseres Verhältnisses zu Tieren“, ist Wohlgemuth überzeugt. „Ich möchte vor diesem Hintergrund die Fakten zum Artensterben analysieren: Wovon sprechen wir, wenn wir von Artensterben sprechen? Was bedeutet es, wenn eine Art ausstirbt, was, wenn viele Arten aussterben? Und in Bezug auf das gegenwärtige Massensterben: Welche Tiere lassen wir sterben?“ Denn der emotional positiv behafteten Megafauna stehe ein weitgehend stilles Sterben der Amphibien und der Entomofauna gegenüber.

„Die gesellschaftspolitischen Herausforderungen des Biodiversitätsverlustes und des Artensterbens fordern neue Betrachtungsweisen unseres Verhältnisses zu Tieren.“

Karin Wohlgemuth

Vielen Artenschutzprogrammen liegt die Rote Liste der IUCN zugrunde, in der gefährdete, bedrohte und ausgestorbene Arten gelistet sind, diese umfasst aber nur etwa ein Prozent aller Tiere, vorwiegend Wirbeltiere. Invertebrata, sogenannte Niedere Tiere, bleiben dramatisch unterrepräsentiert. Die Frage, warum wir als Gesellschaft diese als weniger schützenswert erachten, ist eine zentrale Frage des Forschungsvorhabens der Philosophin.

Nützlichkeitsargumente

Aus Sicht von Karin Wohlgemuth finden sich im Artenschutz oft anthropozentrische Nützlichkeitsargumente: Als schützenswert betrachtet werden Tiere nicht aufgrund ihres Eigenwertes. Vielmehr im Vordergrund stehen Artenschutzmaßnahmen, wenn damit ein offenkundiger Nutzen für den Menschen in Form von ökonomischen Vorteilen und/oder Ökosystem-Dienstleistungen wie etwa sauberer Luft, intakten Böden, Nahrung, Kultur und Erholung verbunden wird. Als Beispiel nennt sie den Schutz der Big Five (Löwe, Elefant, Nashorn, Büffel und Leopard) in der afrikanischen Savanne. Ein wichtiger treibender Faktor für deren Schutz sei die Tourismuswirtschaft. Auch der Große Panda – in China gab es 2015 nur noch 1.864 Tiere in freier Wildbahn – ist ein gutes Beispiel für anthropozentrische Schutzbestrebungen. 180 Große Pandas befinden sich im Chengdu Research Center, einerseits um die Tiere zu retten und im besten Fall wieder freizusetzen, andererseits werde auch Geschäft betrieben, indem Pandas als Leihgaben an internationale Zoos verliehen werden. Das Grundproblem des Habitatsverlustes, das sich durch menschliche Aktivität immer mehr verschärft, bleibt laut Wohlgemuth bei Schutzprogrammen meist zu wenig berücksichtigt.

Ethische Krise

In diesem Zusammenhang spiegle sich, so die Philosophin, die Beziehung zu freilebenden Tieren wider. „In einer Gesellschaft der Naturentfremdung und des Konsums müssen wir uns die Frage stellen, in welchem Verhältnis unsere Bedürfnisse und die Bilder stehen, die wir von freilebenden Tieren haben, zu denen auch die Entomofauna zählt. Betrachten wir die verschiedenen Spezies als Teile des Lebensnetzes oder als Ressourcenfundus im Selbstinteresse? Weltbild, Wertsetzungen, innere Haltungen und Motivationen kommen hier zum Tragen. Tiere werden oft auf Objekte reduziert, denen ihre eigene Subjekthaftigkeit und ein intrinsischer Wert abgesprochen werden.“

Karin Wohlgemuth

Karin Wohlgemuth, PhD-Studentin an der Uni Innsbruck, absolvierte das Diplomstudium Philospophie an der Universität Salzburg und befasst sich seit vielen Jahren mit Tierethik und Human-Animal Studies.

Philosophiegeschichtlich und gesellschaftspolitisch sei eine Mensch-Tier-Grenze verankert, die aus einer anthropozentrischen Perspektive resultiere. „Diese dient in der philosophischen Anthropologie einerseits dazu, den Menschen zu definieren, gleichzeitig aber auch der Rechtfertigung und Legitimation zur Ausbeutung und Unterdrückung von Bedürfnissen freilebender Tiere“, erklärt Wohlgemuth, die fordert, Tierethik neu zu denken. „Sowohl eine anthropozentrische als auch eine pathozentrische Ethik, die Leidensfähigkeit und damit vorwiegend Arten mit einem komplexen Nervensystem berücksichtigt, das unserem ähnlich ist, führen zum Ausschluss von sehr vielen Tierarten. Die ökologische Krise des Anthropozän mit dem Massensterben kann als ethische Krise mitgedeutet werden, sie lädt ein, uns mit den Auswirkungen unserer Sicht auf andere Spezies zu befassen – und über eine posthumanistische Transformation hin zu einer Multispeziesgerechtigkeit nachzudenken“, so das Anliegen des Dissertationsprojektes.

Zwei Menschen die mit einem Netz in einem kleinen See fischen

Wolfgang Mark verbrachte zahlreiche Forschungsaufenthalte in Madagaskar, um die dortige Artenvielfalt zu untersuchen.

Hotspot der Artenvielfalt in Gefahr

Das Sterben von Arten ohne sichtbaren Nutzen für die Gesellschaft konnte der Innsbrucker Zoologe Wolfgang Mark in Madagaskar – einem Hotspot der Artenvielfalt – in der Praxis beobachten. Dort hat er im Rahmen mehrerer Forschungsreisen gemeinsam mit Studierenden verschiedene Tiergruppen untersucht. „Der tägliche Überlebenskampf der am Existenzlimit lebenden Bevölkerung in Madagaskar lässt keinen Platz für Naturschutz, wenn er nicht unmittelbar einen sichtbaren Nutzen bringt“, sagt Wolfgang Mark. Madagaskar ist bekannt als Hotspot der Artenvielfalt. „Gleichzeitig ist die Vernichtung der unterschiedlichen Lebensräume, wie zum Beispiel der Wälder durch unkontrollierte Brandrodung und der damit verbundenen Bodenerosion, ein Hauptproblem der Insel“, erzählt Wolfgang Mark. Der Druck der stark wachsenden Bevölkerung auf die verbleibenden Waldgebiete sei unübersehbar. „Durch gesetzliche Regelungen und Aufforstungsprojekte wird derzeit versucht, dem entgegenzuwirken.“

„Der tägliche Überlebenskampf der am Existenzlimit lebenden Bevölkerung in Madagaskar lässt keinen Platz für Naturschutz, wenn er nicht unmittelbar einen sichtbaren Nutzen bringt.“

Wolfgang Mark

Gänzlich unbeachtet bleiben in diesem Zusammenhang die Fließgewässer-Systeme. Verstärkt wird dieser Effekt durch die Folgen der Klimaerwärmung. Durch die immer später und seltener werdenden Regenfälle der letzten Jahre kommt es zunehmend zu Dürrekatastrophen. Dabei trocknen weite Landstriche komplett aus, sodass die Oberflächengewässer verschwinden und der Grundwasserspiegel soweit sinkt, dass Brunnen versiegen oder versalzen. „Fischforschung in Madagaskar ist faszinierend und frustrierend zugleich. Auf keinem Subkontinent der Erde gibt es Wirbeltiergruppen mit so hohen Endemiten-Anteilen wie in Madagaskar. Dies gibt uns nicht nur die Möglichkeit, eine Vielzahl neuer Arten zu entdecken, auch bei den bereits bekannten Arten ist meist nichts über Biologie, Lebensweise und Ansprüche bekannt. Hier tut sich ein riesiges Betätigungsfeld für Forscher auf. Gleichzeitig gibt es kaum eine Region, in der die Bedrohung der Lebensräume so akut sichtbar ist wie hier“, so der Zoologe.

Einzigartige Tierwelt

Wolfgang Mark hat seit 1992 Madagaskar rund 30 mal bereist. Anfangs beschäftigte er sich hauptsächlich mit den Galeriewäldern entlang der Flüsse im Süden Madagaskars. Hier standen hauptsächlich die Kattas, eine nur auf Madagaskar vorkommende Lemurenart, im Zentrum seiner Untersuchungen. Ihre speziellen Anpassungen im Verhalten, besonders ihr einzigartiges Sozialverhalten – die Bildung eines Matriachates in einem unwirtlichen Lebensraum – waren Inhalt seiner Forschungsarbeiten.

„Das Verschwinden der verschiedenen Waldtypen in Madagaskar ist unübersehbar, die Folgen für die Bevölkerung tief eingreifend."

Wolfgang Mark

„Schon zu dieser Zeit war ein schleichender Verlust des Lebensraumes durch Übernutzung des Menschen bemerkbar. Dieser Trend verstärkte sich im Laufe der Jahre, was für die Kattas und andere in diesen Wäldern lebenden Tiere eine ständige Verkleinerung und Fragmentierung des Lebensraumes bedeutete“, berichtet Wolfgang Mark. Die Reduzierung der Individuen und Auslöschung einzelner Populationen war die Folge. „Das Verschwinden der verschiedenen Waldtypen in Madagaskar ist unübersehbar, die Folgen für die Bevölkerung tief eingreifend. Im Laufe der Zeit wurden Schutzbestimmungen und Gegenstrategien wie z.B. Wiederaufforstungsprojekte entwickelt. Auch wenn der Erfolg nur schwach erkennbar ist, hat sich zumindest ein Ansatz von Umweltbewusstsein sowohl in der Bevölkerung als auch in der Verwaltung des Landes etabliert. Für die Kattas bedeutet dies, dass sie zumindest in den Parks geschützt werden“, so der Zoologe. Ganz anders verhält es sich bei den aquatischen Lebensräumen. Diese Veränderungen verlaufen schleichend und unbemerkt. Deshalb beschäftigt sich Wolfgang Mark seit 2015 verstärkt mit dieser Problematik.

Brennender Wald in Madagaskar

Die Brandrodung der Wälder stellt für die in Madagaskar zahlreich vorkommenden, teils endemischen Arten, eine Gefahr dar.

Artenreiche Fischwelt

Nach Schätzungen sind bisher nur rund 30 Prozent der Süßwasserfischarten Madagaskars bekannt. Aus diesem Grund standen diese Fische im Fokus der Untersuchungen des Innsbrucker Forschers, der seit 2015 mehrere Exkursionen mit Studierenden nach Madagaskar unternommen hat. Methodisch bedingt konnten die Innsbrucker Wissenschaftler*innen dabei nur Kleingewässer und die Uferregionen von Seen beproben. „Wir haben mit verschiedenen Netztypen, Reusen und Keschern gefischt. Zusätzliche Informationen erhielten wir auf Fischmärkten und in den zahlreichen Gesprächen mit der lokalen Bevölkerung“, schildert Mark. Die gefangenen Fische wurden soweit als möglich vor Ort auf ihre Artzugehörigkeit bestimmt, vermessen und fotografiert und anschließend wieder ins Wasser entlassen. Ausgewählte Belegexemplare nahm das Innsbrucker Team zur späteren Bestimmung im Labor mit. Gleiches galt für Gewebsproben, die für eine spätere genotypische Bestimmung konserviert wurden. „Sowohl die Belegexemplare als auch die Gewebeproben wurden der Universität in Antananarivo, der Hauptstadt Madagaskars, zur Verfügung gestellt. Zwischen den Universitäten in Antananarivo und Innsbruck besteht seit 2016 ein gegenseitiges Unterstützungsabkommen“, erläutert der Zoologe.

Bach mit zwei Fischer:innen

Kleine Bachsysteme sind Lebensraum für zahlreiche Arten. Neben Fischen will Wolfgang Mark nun auch verstärkt Garnelen und Krebse untersuchen.

60 Süßwasserarten bestimmt

Insgesamt konnten im Rahmen von drei Forschungsaufenthalten mehrere tausend Fische auf Artniveau bestimmt werden, was sich als recht zeitaufwendig erwies, da es noch kaum Bestimmungsliteratur für Fische aus Madagaskar gibt. Inzwischen konnten knapp 60 Süßwasserarten bestimmt werden. Einige dieser Arten wurden vom Mensch nach Madagaskar eingeführt, dazu gehörte beispielsweise der Tilapia, eine Buntbarsch-Art, die in der Aquakultur von Bedeutung ist, oder der Gubby, eine Zahnkarpfenart, die bei uns als Aquariumsfisch bekannt ist und in Madagaskar zur Bekämpfung der Malaria eingesetzt wird. Ein Drittel der bestimmten Arten waren heimisch, d.h., sie können auch auf anderen Inseln bzw. dem Festland des indopazifischen Raumes vorkommen. Ein weiteres Drittel der Arten gehörten zu den endemischen Fischarten, d.h. sie kommen ausschließlich auf Madagaskar, oft nur in kleinräumigen Lebensräumen vor. Sieben Arten konnten bislang nicht zugeordnet werden. Ob es sich bei ihnen um bisher unbekannte Fischarten handelt, wollen die Innsbrucker Zoologen bei weiteren Forschungsaufenthalten untersuchen. Mittlerweile wurden die Untersuchungen auch auf Garnelen und Krebse ausgeweitet: „Hier scheinen die Kenntnisse noch rudimentärer zu sein als bei den Fischen“, so Mark. Insgesamt wurden bisher 11 Bachelorarbeiten an der Uni Innsbruck zu zoologischen Forschungen in Madagaskar abgeschlossen oder stehen kurz vor dem Abschluss. Ziele der geplanten weiteren Untersuchungen der Innsbrucker Zoologen ist es, die verschieden Fischarten zu bestimmen, den Grad ihrer Gefährdung einzuschätzen und mögliche Schutzmaßnahmen zu erarbeiten. Die Ergebnisse dieser Arbeiten werden den lokalen Behörden und der Universität in Antananarivo zur Verfügung gestellt.

Da bedingt durch die Corona-Pandemie 2020 keine Reisen nach Madagaskar möglich waren, hofft Mark, zumindest im Herbst 2021 wieder nach Madagaskar reisen zu können, um seine Arbeit im Sinne des Umweltschutzes und der Erhaltung von Madagaskars einzigartiger Tierwelt fortführen zu können.

Pachypanchax sakaramyi

Ein Drogenopfer der anderen Art: Der Zahnkärpfling Pachypanchax sakaramyi ist eine der akut gefährdeten endemischen Arten im Norden Madagaskars und kommt in nur einem Bachsystem vor. Trocknet dieses aus, ist die Art für immer verloren. Das Verständnis der Bevölkerung für den Schutz dieser Art hält sich allerdings – vor allem aus wirtschaftlichen Gründen – in Grenzen: Bestehende Wälder wurden für den Anbau von Gemüse gerodet und Bäche wurden für die Bewässerung der Felder ohne Rücksicht auf derartige Verluste abgeleitet. Verstärkt wurde dieser Effekt in den letzten 10 Jahren durch den vermehrten Anbau der lokal sehr verbreiteten Kaudroge Kath. „Vor allem durch die Abwanderung der Bevölkerung aus dem Norden in die Hauptstadt hat sich diese offiziell verbotene Droge in Madagskar immer stärker verbreitet. Diese verstärkte Nachfrage führt dazu, dass die Bauern im Norden auf den Anbau von Kath – der ihnen zehnmal mehr Einnahmen beschert als der herkömmliche Gemüseanbau – umgestellt haben“, erklärt Wolfgang Mark. Da der Kath-Anbau allerdings viel mehr Wasser benötigt, wird aus den umliegenden Bächen noch mehr Wasser abgeleitet. „Bisher wurde die Austrocknung noch dadurch verhindert, dass die Quelle dieser Bachsysteme in einem Schutzgebiet liegt, mit der verstärkten Nutzung ist die Austrocknung jedoch nur noch eine Frage der Zeit .“

Tierwohl in der Forschung

Tiere spielen auch in der medizinischen und naturwissenschaftlichen Forschung eine Rolle – im Vordergrund steht auch hier stets das Tierwohl.

Für den Tierschutz in der Forschung ist an der Universität Innsbruck das Tierschutzgremium eingerichtet, die gesetzlichen Vorgaben für Versuche sind in Österreich sehr streng. Alle Forschungsvorhaben, die unmittelbar Tiere betreffen, werden erst intern vorgeprüft. Vorsitzender des Tierschutzgremiums ist der Alternsforscher Prof. Pidder Jansen-Dürr: „Unsere oberste Aufgabe ist, auf das Tierwohl zu achten. Tierversuchsanträge landen bei uns, bevor sie an das Wissenschaftsministerium zur Genehmigung gehen. Wir haben einen internen Kontrollprozess aufgesetzt, der beinhaltet, dass alle Anträge von Wissenschaftler*innen anderer Fachrichtungen als die des Antragsstellers oder der Antragsstellerin vorbegutachtet werden, um hier auch Verbesserungsvorschläge im Sinne des Tierwohls machen zu können.“

Replace, Reduce, Refine

Die Universität Innsbruck verpflichtet sich, wie der allergrößte Teil der österreichischen Hochschulen und Forschungseinrichtungen, zu den als „3 R“ bekannt gewordenen Grundsätzen „Replace, Reduce, Refine“: Vermeidung von Tierversuchen, wo möglich, Verminderung der Anzahl der Tiere und Verfeinerung der Abläufe, um das Tierwohl besser zu schützen. „Wir nehmen diese ‚3 R‘ sehr ernst und erarbeiten gemeinsam im Tierschutzgremium auch oft Verbesserungen – gerade die Reduktion der Anzahl der Versuchstiere oder die Verfeinerung der Maßnahmen sind Dinge, die wir häufig erreichen“, erklärt Jansen-Dürr. Beim Ersatz von Tierversuchen durch andere experimentelle Ansätze und dadurch bei ihrer Vermeidung macht die Wissenschaft ebenfalls laufend Fortschritte – so können heute zum Beispiel Organmodelle auch im Labor hergestellt und für Versuche verwendet werden. Aber es gibt Grenzen, der Forscher nennt beispielhaft vier Bereiche in der medizinischen Forschung, die derzeit nicht ohne Versuche im Tiermodell auskommen: „Neurologische Erkrankungen, Stoffwechselerkrankungen, Krebs und Herzerkrankungen müssen an komplexeren Organismen erforscht werden, das können wir nicht mit alternativen Modellen abbilden – bei allen diesen Krankheiten gibt es sehr viele verschiedene Erkrankungsarten, die sich nur in kleinen Details unterscheiden. Diese Details sind dann aber für die Therapie sehr wichtig.“ An der Universität Innsbruck laufen jährlich 15 bis 20 Projekte mit Tieren – das folgende Projekt ist ebenfalls eines davon:

Pidder Jansen-Dürr

Univ.-Prof. Pidder Jansen-Dürr ist Vorsitzender des Tierschutzgremiums.

Marion Chatelain

Dr. Marion Chatelain ist die Leiterin des Forschungsprojektes „Nahrungsgetriebene Bewegungen von Vögeln in urbanen Landschaften“

Auf die Meise gekommen

Aus einem Lautsprecher hört man artspezifische Warnrufe von Kohl- und Blaumeisen, daneben wird eine Kohlmeise von einer jungen Frau aus einem Fangnetz befreit: Bei der Beschreibung dieser Szene mag man an Vogelfang denken. Tatsächlich handelt es sich hier jedoch um eine wissenschaftliche Studie, bei der Zoolog*innen der Universität Innsbruck das Wanderverhalten von Kohl- und Blaumeisen in und um Innsbruck vor dem Hintergrund der zunehmenden Urbanisierung untersuchen. Bis 2030 wird sich die Fläche von Städten weltweit verdreifachen. Damit stellt die Verstädterung einen der Faktoren für die massiven Umweltveränderungen dar. Neben der Vernichtung ursprünglicher Habitate repräsentieren Städte jedoch gleichzeitig auch neue Lebensräume für Tiere und Pflanzen.

Meisen als Modellorganismen

Um der Frage nachzugehen, wie sich die Urbanisierung auf das Wanderverhalten von Tieren auswirkt, eignen sich Kohl- und Blaumeisen besonders gut, weiß die Leiterin des Forschungsprojektes Marion Chatelain: „Kohl- und Blaumeisen kommen sowohl in ländlichen als auch in urbanen Gegenden vor. Schon länger werden sie deshalb als beliebte Modellorganismen herangezogen, um den Einfluss von Städten auf ökologische und evolutionäre Prozesse bei wildlebenden Tieren zu analysieren. So können wir unsere Ergebnisse später besser vergleichen und in einen größeren Zusammenhang stellen.“ Chatelain hat bereits mehrere Studien mit Vögeln durchgeführt und weiß, wie man mit ihnen umgehen muss. Das Ziel dabei ist immer, die Tiere möglichst wenig Stress auszusetzen und die Beprobung rasch abzuschließen, um sie wieder in die Freiheit zu entlassen. „Wir nehmen beispielsweise Kot- und Federproben, anhand derer wir Informationen zu Nahrung und Schwermetallbelastung erhalten. Am Ende versehen wir die Vögel mit bunten Ringen, um sie später wiederzuerkennen. Natürlich ist es uns sehr wichtig, dass diese Untersuchungen so wenig Zeit wie möglich in Anspruch nehmen. Nach maximal 20 Minuten lassen wir die Vögel wieder fliegen“, erklärt die Zoologin.

Vorarbeit und Aufklärung

Gerade weil die Proben der Vögel auch an öffentlichen Plätzen genommen werden, ist eine transparente Vorgangsweise unverzichtbar. Marion Chatelain und ihr Team haben deshalb von Anfang an auf die Aufklärung und den Dialog mit der Bevölkerung gesetzt. Neben der Berichterstattung in lokalen Medien und Infoplakaten vor Ort suchen die beteiligten Wissenschaftler*innen auch das Gespräch mit Interessierten. „Zu Beginn hatten wir natürlich Sorge, dass wir als Vogelfänger*innen wahrgenommen werden, und tatsächlich sind unsere Feldarbeiten mit den Vögeln auf große Aufmerksamkeit gestoßen. Unsere Vorarbeit hat sich aber gelohnt: Wir haben viel Zuspruch und Interesse an unserer Studie erhalten“, erzählt Chatelain von ihren Erfahrungen. Dass durch diesen Dialog mit der Bevölkerung auch die Forschung profitiert, zeigt die Idee für ein weiteres Forschungsvorhaben, das Marion Chatelain durch die Gespräche mit Passant*innen entwickelt hat. „Viele Personen haben mich gefragt, ob sie das Richtige tun, wenn sie die Vögel im Winter füttern. Erwartet haben sie sich von mir eine klare Antwort, die ich ihnen aber leider nicht geben konnte. Ob die Zufütterung für die Vögel von Vorteil ist und wenn ja, wie das Futter zusammengesetzt sein muss, dem möchte ich künftig gerne nachgehen“, sagt die Wissenschaftlerin vom Institut für Zoologie.

Meise an einem Meisenknödel

Viele Passant*innen waren daran interessiert, ob die Zufütterung von Vögeln im Winter richtig ist. Dem will Marion Chatelain in einem Folgeprojekt nachgehen.

Unsicherheit

Die Forschung mit und an Tieren bedeutet immer auch ein gewisses Maß an Unsicherheit. Das zeigt sich auch an der Forschung mit den Meisen. „Wir sind oft zehn oder zwölf Stunden im Feld. Wie viele Tiere wir beproben können, das wissen wir zuvor natürlich nicht. An erfolgreichen Tagen sind es oft zwölf, manchmal aber auch nur zwei oder sogar keines“, berichtet Chatelain über ihren Forschungsalltag. Und das ist nicht das einzige, das bei der Arbeit mit Tieren berücksichtigt werden muss. „Bevor ich überhaupt die richtigen Fragen zu meiner Forschung stellen kann, muss ich die Tiere in ihrer natürlichen Umgebung beobachten. Beim Lesen vorangegangener Studien wirkt vieles oft sehr klar. Befindet man sich aber im Feld, entdeckt man viele Faktoren, die man zuvor nicht bedacht hat“, erklärt Marion Chatelain. So hat sie nach ausführlichen Beobachtungen beispielsweise die Gelbfärbung des Gefieders der Vögel mit in ihre Datensammlung aufgenommen. Die Intensität der Färbung lässt Rückschlüsse auf den Ernährungszustand der Tiere zu: je intensiver das Gelb, desto besser geht es die Meisen.

Meise wird untersucht

Vogelvielfalt

Seit dem Start der Feldarbeiten im Oktober vergangenen Jahres konnten die Forscher*innen bereits 270 Kohl- und Blaumeisen in und um Innsbruck untersuchen. Noch bis Ende August 2021 sind die Forscher*innen unterwegs, um Proben von noch möglichst vielen Kohl- und Blaumeisen zu sammeln, die sie anschließend im Labor auswerten. Wer in und um Innsbruck einen beringten Vogel sieht, kann diese Sichtung an Marion Chatelain melden. Nähere Informationen dazu finden Sie auf der Website zum Forschungsprojekt.

Bei den Feldarbeiten gehen den Forscher*innen oft auch andere Meisen- und Vogelarten ins Netz, die dann sofort wieder frei gelassen werden. Eine Auswahl sehen Sie in der folgenden Bildergalerie.

Das gute (Tier-)Leben?

Wie sieht das „gute Tierleben“ aus? Darüber denken Erziehungswissenschaft, Argrarsoziologie und Ethnologie nach: Es ist eine Frage der Perspektive.

Pferd auf einer Koppel wird von einer Katze besucht, die am Zaun balanciert

Welches Leben ist für Tiere „gut“?

Tierliebe trotz Fleischkonsums?

Schnitzel, Wurst oder Tafelspitz sind beliebte Speisen. „Ist es aber notwendig, dass für meine Ernährung ein anderes Lebewesen leiden und sterben muss? Erlebt ein Tier aus der Massentierhaltung eine Schlachtung anders als ein Tier vom Biohof? Wie sehr manipulieren wir Menschen Tiere für unsere Zwecke?“ Diesen Fragen widmet sich Reingard Spannring vom Institut für Erziehungswissenschaft. Sie plädiert dafür, radikaler zu hinterfragen, wie wir mit Tieren umgehen, egal, ob wir sie essen oder als Haustiere halten.

Wissen Menschen einfach zu wenig über die schrecklichen Umstände in der Massentierhaltung, die Schlachtbedingungen, den enormen Fleischkonsum oder die Bedürfnisse von Tieren? Reingard Spannring denkt, dass ein nicht tierfreundliches Verhalten nicht am Mangel an Information liegt, sondern an der bewussten Entscheidung der Menschen, aktiv wegzusehen.

„Wir tendieren dazu, Problematisches und Unethisches zu verleugnen, um ein besseres Gewissen zu haben. Zudem gibt es auch starke politische und ökonomische Interessen, die verhindern, dass diese Probleme aufgezeigt und gelöst werden.“

Reingard Spannring

Die Wissenschaftlerin engagiert sich auch in der Forschungsgruppe „Human Animal Studies“ an der Universität Innsbruck. Menschen verstricken sich in eigenen Glaubenssätzen, um das individuelle Verhalten zu rechtfertigen und verleugnen gleichzeitig ihr Wissen über die Zustände, unter denen Tiere, die für uns sterben, leben müssen.

„Kann man als Mensch behaupten, Tiere zu lieben und gleichzeitig Fleisch essen?“

Reingard Spannring

Frage des Gewissens

Ein in Folie verpacktes, totes Ferkel im Kühlregal im Supermarkt verursacht einen enormen Aufschrei in der Bevölkerung. Das Schnitzel daneben tut das nicht. Warum?

„Den Menschen fehlt heute häufig die direkte Verbindung vom Fleisch im Supermarkt zum Tier.“

Reingard Spannring

Schlachtbetriebe seien aus der Stadt verschwunden, Menschen können sich heute durch höhere Einkommen und den Wertverlust von Fleisch mehr davon leisten als früher. Diese Entwicklungen haben dazu beigetragen, dass es einfacher geworden ist, Fleisch zu konsumieren, ohne den Konnex zum lebenden Tier herstellen zu müssen. Trotzdem hadern so manche mit ihrem Gewissen. Glaubenssätze bestimmen viele Aspekte unseres Handelns. Harmonieren diese nicht miteinander, geraten wir in eine kognitive Dissonanz und wir müssen versuchen, die Widersprüchlichkeiten zu überbrücken oder Lösungen dafür zu finden: „Bin ich beispielsweise davon überzeugt, ein guter Mensch zu sein und Tiere als fühlende Lebewesen zu respektieren und lieben, möchte aber trotzdem nicht auf Fleisch auf meinem Speiseplan verzichten, dann passen meine Glaubenssätze nicht zusammen. Die Betroffenen müssen eine Möglichkeit zur Lösung ihres Dilemmas finden, und dafür gibt es unterschiedliche Möglichkeiten“, so die Wissenschaftlerin.

Reingard Spannring

Reingard Spannring. 

Eine Strategie könnte darin bestehen, sich selbst zu täuschen und die offensichtlich problematischen Umstände der Tierhaltung schönzureden. „Viele äußern sich, dass die Tiere ja keinen Stress oder Schmerzen spüren und deswegen eine Schlachtung gerechtfertigt wäre. Andere wiederum argumentieren ökonomisch, indem sie darauf hinweisen, dass auch die Bauern vom Fleischkonsum wirtschaftlich abhängig sind. Somit wird das Leiden der Tiere in den Hintergrund gedrängt. Auch die Rechtfertigung mit dem Konsum von Biofleisch gegenüber Diskontangeboten wird häufig angeführt, der jedoch häufig nur ein Lippenbekenntnis bleibt und die grundlegende Frage nach dem Töten der Tiere nicht auflöst. Ausflüchte, um die eigenen Dissonanzen aufzuheben, gibt es daher viele“, erläutert Spannring.

Getötete Schweine die an den Hinterbeinen aufgehängt wurden

Sind Tiere, die geschlachtet werden, gleich viel Wert wie Haustiere?

„Ich denke, an diesem Punkt in der Geschichte unserer Gesellschaft würde es uns allen nicht nur guttun, mit neuen Ernährungs- und Lebensweisen zu experimentieren und Fragen der Ethik und komplexer biosozialer Zusammenhänge mutig anzugehen. In Anbetracht der Klimakrise und Pandemie ist es offensichtlich geworden, dass es eine dringende Notwendigkeit geworden ist.“

Reingard Spannring

Welches Tier ist mehr wert?

Frisch vom Friseur und mit Jäckchen und Brillanthalsband ausgestattete Hunde können sich auf ihr exquisites Plätzchen zu Hause freuen. Während manche Haustiere zu Familienmitgliedern werden, für die Unmengen an Geld ausgegeben wird, leiden andere in engen Käfigen in der Massentierhaltung. Aber wie kann die Gesellschaft diese beiden Bilder miteinander verbinden? „Mit dem Verschwinden von Tieren aus unserem Alltag im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung ist auch das Bedürfnis der Menschen nach Haustieren, Zoobesuchen oder einem Ausflug in den Naturpark größer geworden. Die Diskrepanz zwischen Haus- und Nutztierhaltung bzw. der Haltung von Tieren in Laboren ist damit noch größer geworden. Diese Diskrepanz ist jedoch auch eine Chance, dass Menschen kritischer gegenüber der Nutztierhaltung werden“, so Spannring. Allerdings hat der Mensch auch in der Haltung von Haustieren Strategien entwickelt, um die Tiere so zu manipulieren, dass sie in das eigene Leben passen. „Hunde oder Pferde werden trainiert, um sie an die Normen unserer Gesellschaft anzupassen. Der Hund muss allein zu Hause bleiben können, ohne durch Bellen den Nachbarn zu stören. Auch das Beschnüffeln von Passanten ist unerwünscht – dabei sind diese Verhaltensweisen nur natürlich, passen aber eben nicht in unsere anthropozentrische Vorstellung von einem reibungslosen Miteinander“, erläutert die Wissenschaftlerin, die ihre Haustiere als Subjekte mit eigenen Vorstellungen von der Welt und ihrem Leben sieht und respektiert.

„Ich würde mir wünschen, dass Menschen auch mehr Pausen machen und sich Zeit nehmen, um danach zu fragen, was ihre Tiere spannend finden – nicht indem wir sie zu kleinen Menschen machen, sondern indem wir die Differenz anerkennen.“

Reingard Spannring

Der Mensch richte sich die Tierwelt, wie er sie braucht. Spannring lädt ein, diesen Anthropozentrismus kritisch zu hinterfragen: „Was wäre, wenn der Mensch nicht allein das Maß aller Dinge ist?“

Buch

Environmental and Animal Abuse Denial. Averting Our Gazehttps://rowman.com/ISBN/9781793610461/Environmental-and-Animal-Abuse-Denial-Averting-Our-Gaze

Eine Frage der Perspektive

Nachhaltigkeit und Regionalität als Gebot der Stunde: Wie kann artgerechte Haltung von Rindern, Schweinen, Schafen oder Hühnern in diesem Kontext gelingen? Und wie definiert sich das „gute Leben“ von Tieren in der Landwirtschaft? Können kleinbäuerliche Betriebe oder Nebenerwerbsbauern- und bäuerinnen mit den Anforderungen mithalten?

Die Ethnologin Nadja Neuner-Schatz und der Soziologe Markus Schermer plädieren dafür, Tierwohl gerade im regionalen Bereich als Teil eines komplexen gesellschaftlichen Zusammenspiels zu sehen, wo unterschiedliche Haltungen aufeinandertreffen.

Im Herbst 2018 hat eine große österreichische Lebensmittelhandelskette verkündet, dass künftig Biomilch nur noch von jenen bäuerlichen Betrieben abgenommen wird, die ihren Kühen ganzjährig Zutritt ins Freie lassen oder ihre Tiere in Laufställen halten. „Das würde ich als eine Art Knackpunkt sehen, denn das war das Ergebnis einer Zuspitzung der Definition von Tierwohl – wenn es um Rinder geht – auf Laufställe. Das muss gewährleistet sein, sonst werden die Produkte nicht mehr abgenommen“, sagt Markus Schermer vom Institut für Soziologie. „365 Tage Auslauf ist natürlich grundsätzlich zu begrüßen und auf den ersten Blick sicher eine positive Entwicklung. Ich denke aber dennoch, dass man einen breiteren Blick darauf werfen muss und sich die Konsequenzen dieser Forderungen überlegen sollte.“ Die Haltung in Laufställen löst nun an vielen Stellen die so genannte Kombinationshaltung ab, die etwa in Tirol besonders verbreitet ist. „Dabei sind die Kühe im Winter angebunden im Stall, im Frühjahr auf der Vorweide, im Sommer auf der Alm und im Herbst auf der Nachweide“, erklärt Schermer.

Für viele bäuerliche Betriebe ist ein Umbau zum Laufstall entweder aufgrund der räumlichen Situation gar nicht möglich – oder die Investition lohnt sich schlicht nicht. Da haben es größere Betriebe wesentlich einfacher als kleine.

Markus Schermer

„Die Konsequenz der Laufstall-Haltung ist nun, dass viele Rinder nicht mehr auf die Alm kommen im Sommer. Das hat Einfluss auf die Art der Ernährung der Tiere. Es hat aber auch Einfluss auf die Ökologie: Im Tal führt die ganzjährige Laufstall-Haltung zu intensiverer Düngung der Böden und am Berg werden die Almen nicht mehr entsprechend genutzt. Dazu kommt, dass es für viele bäuerlichen Betriebe entweder aufgrund der räumlichen Situation gar nicht möglich ist, einen Umbau vorzunehmen – oder die Investition sich schlicht nicht lohnt. Da haben es größere Betriebe wesentlich einfacher als kleine.“ Markus Schermer geht es dabei nicht darum, die Bedeutsamkeit des Tierwohls gerade auch bei Nutztieren zu schmälern, sondern vielmehr um eine Erweiterung der Perspektive, da viele Faktoren zusammenspielen und unterschiedliche Wertehaltungen zum Tragen kommen. „Die eine Wahrheit gibt es hier nicht, dafür ist es viel zu komplex. Und Handelsunternehmen möchten ihren Kundinnen und Kunden griffige Slogans und Anhaltspunkte bieten. Aber in einem komplexen Bereich mit individuell unterschiedlichen Voraussetzungen sind allgemeingültige Regelungen oft nicht so leicht umsetzbar“, gibt der Soziologe zu bedenken. Wo der gesetzliche Rahmen für das Tierwohl liegt, ist letztlich auch eine ökonomische Frage und das Resultat von Verhandlungen unterschiedlicher Interessensvertretungen.

Markus Schermer

Markus Schermer leitet als Professor für Agrarsoziologie die Arbeitsgruppe für Agrar- und Regionalsoziologie am Institut für Soziologie und ist stellvertretender Leiter des Forschungszentrums Berglandwirtschaft der Uni Innsbruck.

Wie Tierwohl und dessen Definition gesellschaftlich ausverhandelt wird, schaut sich auch Nadja Neuner-Schatz in ihrer Forschungsarbeit an – aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive.

Narrativ der Dringlichkeit

Der Begriff „Tierwohl“ findet etwa seit der Jahrtausendwende eine breite Anwendung im deutschen Sprachgebrauch. Nadja Neuner-Schatz vom Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie hat unter anderem österreichische Pressemeldungen rund um diesen Begriff analysiert: „Seit dem Jahr 2011 erlebt das Wort ‚Tierwohl‘ eine regelrechte Konjunktur in Österreich. Dabei fällt auf, dass es häufig als inhaltsleeres Schlagwort verwendet wird.“ Denn obwohl es seit den 1960er Jahren das Feld der Animal Welfare Sciences und mithin eine rege wissenschaftliche Beschäftigung mit Tierwohl gibt, ist der Begriff wie das Konzept nicht klar zu definieren.

„Tierwohl wird sehr oft in politischen Zusammenhängen verwendet, da es offenbar viel Aufmerksamkeit generiert. Es gibt aber eine bemerkenswerte Leerstelle zum Inhalt des Begriffs. Was ist denn Tierwohl? Was braucht es, damit ein Tier ein gutes Leben hat – und was fehlt, wenn es das nicht hat?“. Das weitgehende Fehlen von konkreten Antworten auf diese Fragen oder allgemeinen Definitionen lässt für die Kulturwissenschaft allerdings interessante Rückschlüsse auf gesellschaftliche Entwicklungen zu. Tierwohl sei eine Art Verhandlungssache, so Neuner-Schatz: „Das Konzept Tierwohl ist nicht wertfrei und ein Produkt soziokultureller Aushandlungen. Was das ‚gute Leben‘ für Tiere und besonders für Nutztiere im gesellschaftlichen Diskurs ausmacht, ist einem kontinuierlichen Wandel unterworfen. Und es gibt keine verifizierende Instanz, die ein letztgültiges Urteil abgeben könnte.“

„Das Konzept Tierwohl ist nicht wertfrei und ein Produkt soziokultureller Aushandlungen. Was das ‚gute Leben‘ für Tiere im gesellschaftlichen Diskurs ausmacht, ist einem kontinuierlichen Wandel unterworfen.“

Nadja Neuner-Schatz

Die beispielsweise gerade auch in Tirol stark verbreitete Form der Kombinationshaltung von Rindern galt lange als vorbildlich. Ähnlich ist es bei Hühnern, wo Bodenhaltung zunächst als sehr fortschrittlich und positiv angesehen wurde, inzwischen aber komplett in Verruf geraten ist. „Mit dem Wandel der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Tieren und deren Bedürfnissen, ändert sich auch der Anspruch an die Nutztierhaltung.“ Bleibt die Frage wie diese Forderungen gerade auch im kleinbäuerlichen Umfeld umsetzbar sind – und was diese Veränderungen in der Agrarstruktur auf auch persönlicher Ebene bedeuten können: „Es gibt immer wieder viel Unmut. Die Bäuerinnen und Bauern nehmen Tierwohl als Forderung wahr, dass sie sich besser um das Wohl ihrer Tiere kümmern sollen. Das impliziert, sie hätten das bisher verabsäumt. Widerstände und Spannungen deuten darauf hin, dass es gerade im regionalen Bereich auch viel um persönliche Identitätsarbeit geht: Was bin ich für ein Mensch, wenn ich meine Tiere bisher nicht gut behandelt habe?“, verdeutlicht Neuner-Schatz.
Eine Konstante im Diskurs ortet die Ethnologin aber doch, auch wenn eine Definition des Begriffs mit klaren Abgrenzungen fehlt – ein „Narrativ der Dringlichkeit“, wie Nadja Neuner-Schatz es nennt: „Das Reden und Schreiben über Tierwohl ist immer mit einem ganz dringlichen Appellcharakter verbunden. Das wichtigste Wort ist ‚mehr‘ – es braucht mehr Tierwohl und zwar sofort. Wenn man sich anschaut, wie stark diese verhältnismäßig junge Forderung alte Strukturen in der traditionellen Nutztierhaltung verändert, bin ich immer wieder erstaunt. Diese Veränderungen gehen aber dennoch langsamer vonstatten als der gesellschaftliche Wandel in der Wahrnehmung vom guten Leben für Tiere“.

Und trotz der Dringlichkeit im Sprachgebrauch gibt es bei einem Blick auf den tatsächlichen Konsum der Menschen letztlich einen Gap zwischen Meinung und Kaufverhalten. „Denn zu teuer sollte das Schnitzel dann doch nicht sein“, sind Neuner-Schatz und Schermer einig.

Nadja Neuner-Schatz

Nadja Neuner-Schatz forscht am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie. Schermer betreut die Ethnologin bei ihrem PhD-Projekt mit dem Arbeitstitel „Tierwohl. Das gute Leben der Tiere, die wir essen. Zum Wandel des Mensch-Tier-Verhältnisses in der kleinbäuerlichen Lebensmittelproduktion in Österreich“. 

Lieben, Trauern und Bewahren

Zwei-Klassen-Gesellschaft Mensch und Tier: Das gab es schon in der Antike. Mit der historischen Perspektive und Tieren in der Literatur setzt sich Gabriela Kompatscher auseinander.

Katzen, Hunde oder Vögel bereichern nicht erst seit kurzem unseren Alltag, sondern sind bereits seit der Antike enge Freunde des Menschen. Die emotionale Nähe zu Tieren und die Thematisierung von positiven Mensch-Tier-Beziehungen in der Literatur der Antike und im Mittelalter sind Forschungsgegenstand von Gabriela Kompatscher, Professorin am Institut für Klassische Philologie und Neulateinische Studien.

Tiere, Tierschutz und Tierrechte sind auch Gegenstand der Literatur, mit der sich die Wissenschaftlerin intensiv auseinandersetzt. „Die Haltung gegenüber Tieren hat sich im Lauf der Jahrhunderte erstaunlicherweise nicht geändert. Schon in der Antike können wir eine Art Zwei-Klassen-Gesellschaft im Umgang mit Tieren beobachten. Die einen Tiere werden gezüchtet, geschlachtet und ausgebeutet, während andere zu Hause verwöhnt und gekuschelt werden. Diese Haltung zieht sich vom Mittelalter bis in die heutige Zeit“, so Kompatscher, die vertieft: „Vor allem aus der Zeit des Mittelalters kennen wir teilweise sehr eindrucksvolle Erzählungen über die Pflege der Freundschaft zwischen Menschen und Tieren.“ Von Heiligenerzählungen über Grabinschriften für Tiere bis zu Fabeln oder Briefen und Erzählungen – die Forscherin interessiert sich für alle Arten von Texten, in denen diese besondere Beziehung thematisiert wird.

Grabinschriften und verbotene Tierliebe

„Siehe den Grabhügel des niedlichen Hundemädchens Aeolis, das ich über allen Maßen betrauere, nachdem es mir durch ein vorzeitiges Schicksal geraubt worden war.“

Grabmal des Hündchnes Aeolis, 2. Jh. n. Chr.

Die Hündin Aeolis wurde von ihren Besitzern wohl sehr geliebt, wenn sie im 2. Jahrhundert n. Chr. bereits ein Grab mit einer für sie bestimmten Inschrift bekommen hat. Das Betrauern von geliebten tierischen Begleitern wird laut Kompatscher in vielen Texten thematisiert, wie etwa auch in einem Gedicht des römischen Dichters Catull, der bereits im 1. Jahrhundert v. Chr. die Liebe eines Mädchens zu seinem zahmen Sperling und ihre tiefe Trauer beschreibt, als das Tier starb. Auch der Abt Theoderich hat seine Liebe zu Tieren nie verheimlicht, obwohl es im Mittelalter von der Kirche nicht gern gesehen wurde, wenn sich Mönche oder Nonnen mit Tieren beschäftigt haben, da diese Beziehung von Gott ablenken würde. Außerdem wurden die Gläubigen dazu aufgefordert, ihre Liebe besser den Menschen als Tieren zu widmen.

„Theoderich hat sich diesen Bestimmungen widersetzt und ein kleines Hündchen war sein ständiger Begleiter. In einem überlieferten Gedicht schreibt der Abt über seine Trauer, als das Tier in seiner Abwesenheit verstirbt und er keine Möglichkeit mehr hatte, es zu bestatten“, erzählt die Wissenschaftlerin, die in ihren Forschungen auch Heiligenerzählungen analysiert. „Beispielsweise gibt es zahlreiche Erzählungen von Franziskus, der sich ganz besonders um Tiere gekümmert hat. Aber auch irische Mönche waren für ihre Tierliebe bekannt. Es wird berichtet, dass einer der Heiligen ein Rudel hungriger Wölfe in seine Gaststube aufgenommen und ihnen vorher die Pfoten gewaschen habe, ein Akt, der an Jesus erinnern soll. Anschließend habe er ihnen ein Kalb schlachten lassen“, so Kompatscher, die betont, dass auch hier Tieren ein unterschiedlicher Stellenwert beigemessen wurde: „Speziesismus, die Benachteiligung eines Lebewesens auf Grund seiner Zugehörig zu einer bestimmten Art, lässt sich also bereits in Antike und Mittelalter beobachten.“

Empathie-Simulation

Als Expertin für lateinische Texte und als Mitglied der Forschungsgruppe „Human Animal Studies“ hat es sich Gabriela Kompatscher auch zur Aufgabe gemacht, Texte mit positiven Mensch-Tier-Beziehungen für den Lateinunterricht an Schulen aufzuarbeiten.

Kleines Mädchen trifft auf einen Wolf

Der Wolf wird in vielen Märchen als Bösewicht dargestellt.

„So möchten wir Schülerinnen und Schüler für das Thema sensibilisieren und mit ihnen die Darstellung von Tieren in Texten analysieren. Werden Tiere nur als Objekte oder auch als Individuen beschrieben? Ich bin davon überzeugt, dass sich die Haltung von Autorinnen und Autoren gegenüber Tieren auch auf die Leserinnen und Leser überträgt.“

Gabriela Kompatscher

Literatur kann beispielgebend sein. Werden beispielsweise immer Wölfe oder Ratten in Erzählungen als die Bösen dargestellt, kann sich dies laut Kompatscher auch auf die Wahrnehmung dieser Tiere im Leben der Menschen widerspiegeln. „Es gibt aber auch Literatur, die aus Sicht von Tieren geschrieben wurde. Lesen ist eine Art von Simulation. Dabei können wir lernen, uns in andere Lebewesen hineinzuversetzen und so deren Perspektive einzunehmen. Dadurch wird unser Empathievermögen trainiert und dementsprechend auch unsere Haltung Tieren gegenüber positiv beeinflusst“, betont die Philologin.

Gabriela Kompatscher

Gabriela Kompatscher.

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© News-Redaktion der Universität Innsbruck 2021

Mit Beiträgen von: Melanie Bartos, Christian Flatz, Eva Fessler, Stefan Hohenwarter, Lisa Marchl, Daniela Pümpel, Susanne Röck

Fotocredit „Schützenswertes“: colourbox.de; commons.wikimedia.org

Fotocredit, wenn nicht anders angegeben: Universität Innsbruck

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