Wohl das einzige Fitnessstudio in einem Privathaus in der westtürkischen Stadt Uşak gehört einem Fulpmer, der als Gastarbeiter in den 1970ern nach Tirol gekommen ist: Dort sei das einfach nicht üblich, in Österreich schon, erzählt Claudius Ströhle, MA. Er und seine Kollegin Fatma Haron, MA, untersuchen unter der Projektleitung von Prof. Silke Meyer am Institut für Geschichtswissenschaft und Europäische Ethnologie die vielfältigen Beziehungen, die die türkische (Arbeits-)Migration nach Tirol öffnet, konkret die Migration und Re-Migration zwischen Uşak und Fulpmes – heute hat ein Fünftel der Bewohnerinnen und Bewohner von Fulpmes Migrationshintergrund. „Als in den 1960er- und 1970er Jahren in Österreich, auch in Tirol, Arbeitskräfte in der eisenverarbeitenden Industrie gesucht und entsprechende Abkommen mit südeuropäischen Ländern abgeschlossen wurden, kamen viele Arbeiter aus dem damaligen Jugoslawien und vor allem aus der Türkei“, sagt Silke Meyer. Nach Fulpmes kamen fast ausschließlich Arbeitsmigranten aus der Provinz Uşak in der Westtürkei – Beschäftigung fanden sie dort in der Metallverarbeitung, die Stubaier Werkzeugmarke „Stubai“ hat noch heute ihren Sitz in Fulpmes. Der Hauptort der Provinz Uşak, die gleichnamige Stadt, hat heute rund 250.000 Einwohnerinnen und Einwohner, in der gesamten Provinz leben rund 350.000 Menschen.
Transnationaler Alltag
Ausgehend von Remittances (siehe unten), Geldtransfers, die Migrantinnen und Migranten in ihre Herkunftsländer schicken, untersuchen Meyer, Haron und Ströhle die transnationalen Räume, die Migration öffnet: „Was macht Migration mit Gesellschaften? Migration ist nicht nur in westlichen Einwanderungsgesellschaften, sondern zum Beispiel auch in der Türkei natürlich Thema“, sagt Silke Meyer. „Migration ist mehr als die Bewegung eines Menschen in eine Richtung“, ergänzt Claudius Ströhle. Er hat sich in Uşak und Fulpmes mit Migrantinnen und Migranten über deren Lebenswelten unterhalten: „Migration zwischen Uşak und Fulpmes findet nach wie vor statt, genauso Re-Migration. In vielen Fällen sind Familienbeziehungen zwischen der Türkei und Tirol auch in der zweiten und dritten Generation noch sehr eng – und die modernen Kommunikationsmittel machen es auch leicht, Kontakt zu halten“, sagt Ströhle. Remittances, das sind nicht nur finanzielle Mittel, die „nach unten“ geschickt werden, sondern auch soziale Einstellungen und Gewohnheiten. „Inzwischen haben mehrere Arbeitsmigranten aus den 1960er- und 1970er-Jahren Immobilien in der ‚alten Heimat‘ gekauft oder gebaut – und das ist bemerkenswert: Mitten in der Provinz Uşak stehen dann Häuser nach Tiroler Bauart.“ Und im Fall von Menschen, die wieder fest nach Uşak gezogen sind, bekommen die Kinder bei jedem Besuch aufgetragen, Maresi-Kaffeemilch und Kaffeebohnen für den Vollautomaten aus Österreich mitzubringen – beides Dinge, die in der Türkei schwierig oder gar nicht zu bekommen sind. Oder der erwähnte Fitnessraum im Keller: Auch das eine österreichische Gewohnheit, die so in der Türkei landet – genauso wie Stubai-Messer, die ebenfalls in Wohnungen in der Türkei zu finden sind. „Im Fall der Stubai-Messer spielt natürlich auch eine Rolle, dass die Einwanderer in Fulpmes selbst an deren Herstellung beteiligt waren“, erklärt Claudius Ströhle. Umgekehrt darf bei Besuchen von türkischen Verwandten in Tirol keinesfalls Tarhana-Suppe fehlen: eine Gemüsesuppe, die in Pulverform hergestellt und mit Wasser aufgegossen wird. „Was alle diese Dinge zeigen, ist, dass Migrationsbeziehungen deutlich vielschichtiger sind, als sie bei uns diskutiert werden. Was eignet man sich an von einem Ort, an dem man länger lebt? Die Kaffee-Vollautomaten, das Fitnessstudio und Tiroler Dachgiebel auf türkischen Häusern sind nur wenige Beispiele“, sagt Silke Meyer.
Politische Positionierung im transnationalen Raum
Besondere Relevanz erhalten die österreichisch-türkischen Beziehungen durch die aktuelle Politik. Denn auch im transnationalen Miteinander spielen nationale Zugehörigkeiten eine wichtige Rolle: „Das Verhältnis des offiziellen Österreich mit der Türkei hat sich in den vergangenen Monaten zugespitzt. Aus der Türkei stammenden Migrantinnen und Migranten sind hier einem Druck ausgesetzt, sich zu positionieren“, sagt Fatma Haron, die sich besonders diesem Teilbereich widmet: „Die meisten Migrantinnen und Migranten und deren Kinder verbinden mit der Türkei nostalgische Erinnerungen und Positives. Diese verlangte Stellungnahme – verlangt wird ja, sich gegen die aktuelle türkische Politik auszusprechen – ist auch vor diesem Hintergrund nicht ganz einfach.“ Dieses Dilemma gebe es auch innerhalb der türkischen Community: „Viele fühlen sich da auch nicht verstanden, das führt zu teilweise entgegengesetzten Reaktionen und verstärktem Nationalismus“, sagt Haron. Sie untersucht den türkisch-nationalen Diskurs in österreichischem Setting – und den Einfluss, den diese Entwicklungen auf die eigentlich transnationale Identität von „türkischen Österreichern“/„österreichischen Türken“ hat.
Remittances
Ausgangspunkt des Projekts „Follow the Money. Remittances as Social Practice“ sind sogenannte Remittances. Als Remittances werden Geldtransfers von Migrantinnen und Migranten in ihre ursprünglichen Herkunftsorte bezeichnet, um dort Familie und Freunde finanziell zu unterstützen. Die Weltbank gibt regelmäßig Schätzungen über das Volumen dieser Transfers heraus: 575,2 Milliarden Dollar hätten Remittances etwa 2016 weltweit ausgemacht. Diese Zahl ist in den vergangenen Jahren jeweils leicht gestiegen, wobei hier nur tatsächlich überwiesene Summen erfasst werden können – Sachleistungen und persönlich transportiertes Bargeld sind nicht inkludiert. In ihrem Projekt untersuchen die Europäischen EthnologInnen Silke Meyer, Claudius Ströhle und Fatma Haron allerdings auch Remittances im übertragenen Sinn – soziale Praktiken, Konzepte, Weltanschauungen, die Migrantinnen und Migranten in ihre Herkunftsorte tragen und umgekehrt in ihre Ankunftsgebiete bringen. „Follow the Money“ wird vom Wissenschaftsfonds FWF und dem Land Tirol im Rahmen des Tiroler Matching Funds gefördert und läuft bis 2019.
Dieser Artikel ist in der neuen Dezember-Ausgabe des Magazins „wissenswert“ erschienen. Eine digitale Version ist hier zu finden (PDF).