Jus I: Rechtsgeschichte (Nikolaus Grass, Louis Carlen)
Über vier Nachkriegsjahrzehnte bis in die 1980er Jahre prägte der tirolisch katholisch orientierte Nikolaus Grass (1913-1999) die rechtsgeschichtliche Forschung. Grass war ein konservativer Anti-Nazi und deshalb nach 1945 als junger Dozent Mitglied der universitären Entnazifizierungskommission. Grass hat weiter lehrende Nazi-Kollegen auch vor Studierenden gebrandmarkt.
Zeitlebens blieb der wissenschaftlich weitsichtige Grass – widersprüchlich – auch in den Vorurteilen der rückschrittlich kleinbürgerlich dominierten Städte Innsbruck und Hall, seiner Geburtsstadt, gefangen. Dies hinderte Grass – der unter anderem Berufungen nach Kiel, Halle oder Würzburg ausgeschlagen hat – aber nicht international wissenschaftlichen Kontakt zu pflegen, zu bedeutenden Gelehrten wie Walter Ullmann, dem ehemaligen Innsbrucker Studienkollegen, 1938 wegen seiner „Ständestaats“-Nähe nach England geflüchtet und dann in Cambridge als Historiker des mittelalterlichen Papsttums und der Strafrechtsgeschichte lehrend, zu dem an der Universität Münster Kirchengeschichte lehrenden „Reichsprälaten“ Georg Schreiber (einflussreich als katholischer Zentrumsabgeordneter und Wissenschaftspolitiker der Weimarer Republik), zu Guido Kisch, dem 1933 vom NS-Regime aus Halle vertriebenen Erforscher der (jüdischen) mittelalterlichen Rechtsgeschichte, oder zu Hermann Conrad (Bonn) und zu Leo Santifaller (Wien).
Als bedeutender Rechtshistoriker stand Grass in der Tradition der katholischen Gelehrsamkeit, in der Tradition seiner teils noch bei Julius Ficker ausgebildeten Vorgänger wie Otto Zallinger, Ernst Schwind, Alfred Wretschko, Ferdinand Kogler oder Hermann Wopfner. (Vgl. Nikolaus Grass: Autobiographie, in: Recht und Geschichte. Ein Beitrag zur österreichischen Gesellschafts- und Geistesgeschichte unserer Zeit. Zwanzig Historiker und Juristen berichten aus ihrem Leben, Sigmaringen 1990, 87-114. Weiters Gerhard Oberkofler: Nikolaus Grass. Einige wissenschaftshistorische Miniaturen, Innsbruck-Wien 2009 und Louis Carlen: Nachruf auf Nikolaus Grass, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 118 (2001), 896-903)
1949 hatte die Innsbrucker Fakultät den Münchner Rechtshistoriker Heinrich Mitteis primo et unico loco für die „Lehrkanzel für Deutsches Recht und Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte“ genannt. Wie zu erwarten trat das Ministerium schon allein „aus staatsfinanziellen Gründen“ nicht an diesen Vorschlag heran. Die Fakultät hat auch einen Eventualvorschlag erstellt: Primo et aequo loco Nikolaus Grass und Oswald Gschließer (1895-1973), secundo loco Hans Lentze (1909-1970, Prämonstratenser im Stift Wilten und Privatdozent an der Innsbrucker Rechtsfakultät, 1954 als Nachfolger von Hans Planitz nach Wien berufen).
In der Tradition von Hermann Wopfner forschte Grass seit seiner knapp nach der Befreiung 1945 erstellten Habilitationsschrift „Beiträge zur Rechtsgeschichte der Alpwirtschaft“ über Tiroler Agrarrechtsgeschichte, über die Sozial- und Rechtsgeschichte des Handwerks. Nicht zufällig gab Grass nach seiner Emeritierung 1983 die im Nachlass des 1963 verstorbenen Wopfner ohne Endbearbeitung vorgefundenen Bände des „Tiroler Bergbauernbuchs“ heraus.
Grass‘ Fortführung der Edition der „Tiroler Weistümer“, also der oft mündlich überlieferten ländlich und kleinstädtischen (Gewohnheits-) Rechte, war auch angeleitet von methodischem Weitblick für sozialhistorische und begriffsgeschichtliche Studien, u.a. erworben durch einen Wiener Studienaufenthalt 1939 bei Otto Brunner, dessen „Land und Herrschaft“ Eindruck auf Grass machte. Waren die Kollegen im engeren Innsbrucker historischen Fachbereich noch völlig nur dem hilfswissenschaftlich quellenkritischen Denken verbunden, so interessierte sich Grass früh etwa für den französischen Annales-Kreis.
Ausgehend von den Editionsarbeiten des Innsbrucker Sprachgermanisten Ignaz Zingerle und des in den 1870er Jahren in Innsbruck Politische Ökonomie und Statistik lehrenden Wirtschaftshistorikers Theodor Inama-Sternegg, sowie weiterer Vorarbeiten des Tiroler Landeshistorikers Josef Egger legten Nikolaus Grass, Karl Finsterwalder und deren Mitarbeiter 1966 einen Band „Tirolische Weistümer. Unterinntal“ vor.
Neben zahlreichen Studien zur ländlichen Rechtsgeschichte, zur rechtlichen Volkskunde, zu „Königskirche und Staatssymbolik“, zur Kirchenrechtsgeschichte legte Grass Wert auf die Ideen- und Wissenschaftsgeschichte. So entstanden nicht nur seine „Cusanus Studien“: „Cusanus als Rechtshistoriker, Quellenkritiker und Jurist“ oder „Cusanus und das Volkstum der Berge“, sondern auch zahlreiche Schriften zur Geschichte der (rechts-) historischen Wissenschaft: Arbeiten über die Pioniere moderner Tiroler Geschichtsschreibung wie Albert Jäger oder Rudolf Kink, über die Geschichte der Kanonisten an Österreichs Universitäten, u.v.a.m. Die von Grass knapp nach 1950 herausgegebenen Bände mit Autobiographien österreichischer Historiker und Juristen wurden zu einem bleibenden (Zeitzeugen-) Dokument der jüngeren österreichischen Wissenschaftsgeschichte.
Zum Wintersemester 1967/68 nahm mit Louis Carlen (Jg. 1929) ein zweiter Rechtshistoriker unter dem Titel der „Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte“ die Lehrtätigkeit auf. Carlen, gewähltes christlich-soziales Mitglied des Kantonsrates von Wallis, hauptberuflich Notar und Anwalt in Brig, hat sich als Privatgelehrter 1965 an der Rechtsfakultät der Universität Freiburg in der Schweiz habilitiert. Die in Innsbruck 1966 nachgereihten Kandidaten (Claudio Soliva [Zürich], Franz Klein-Bruckschwaiger [Wien/Innsbruck] und Rudolf Hoke [Saarbrücken, später Professor in Wien]) kamen nicht wirklich in Betracht, da Grass Wert auf Carlens Berufung legte, dessen wissenschaftlichen Werdegang er schon seit dessen Dissertation über „Das Landrecht des Kardinals Schiner, seine Stellung im Walliser Recht“ (1955) unterstützt hat, indem er die Arbeit in der germanistischen Abteilung der „Zeitschrift für Rechtsgeschichte“ anerkennend besprach. Carlens Arbeiten zur „geistlichen Gerichtsbarkeit in der Diözese Sitten im Mittelalter“, zur Stellung des Domkapitels von Sitten, über Jakob Grimms Beziehungen zum Recht, und insbesondere Carlens Habilitationsschrift zur Rechtsgeschichte der Walliser Landgemeinden, lagen ganz auf der Linie von Nikolaus Grass‘ Forschungsinteressen.
Dokumente im Folgenden: