Pädagogik: Wolfgang Brezinka, Peter Seidl

Wolfgang Brezinka: Vom Erziehen zur Kritik der Pädagogik. Erfahrungen aus Deutschland und Österreich, Wien 2019 (Böhlau-Verlag, 421 Seiten). [besprochen von Peter Goller]

Der international renommierte Erziehungswissenschaftler Wolfgang Brezinka (Jg. 1928) hat in den Jahren 1960 bis 1967 als Professor an der Universität Innsbruck gelehrt. In den Jahren nach seiner Konstanzer Emeritierung 1993 hat er eine große vierbändige Geschichte der Pädagogik in Österreich seit dem 18. Jahrhundert vorgelegt, - 2003 den kontroversiell debattierten Band mit dem Innsbruck Teil. Von Gegnern wurde Brezinka wegen der Kritik einer – plakativ gesprochen – „emanzipatorischen 1968er Pädagogik“, einer im Umfeld der s.g. „Neuen Linken“ stehenden, etwa an der „Kritischen Theorie“ oder an Strömungen der Freudschen Psychoanalyse orientierten (geisteswissenschaftlich deutenden) Pädagogik scharf abgelehnt. In Konstanz sollen die Studenten in den späten 1960er Jahren „Marx rein, Brezinka raus!“ gerufen haben. Soweit zur schnellen Verdeutlichung schlicht verkürzend die grobe akademische Kampflinie!

Nun hat der mittlerweile über 90jährige Konstanzer Emeritus Wolfgang Brezinka bei Böhlau den ersten Teil lesenswerter Erinnerungen vorgelegt, wichtig dort, wo sie beim hier referierenden Leser auf Widerspruch stoßen.

1928 in eine Berliner Technikerfamilie hinein geboren wurde für den in der katholischen Diaspora Heranwachsenden das aktiv, sozialkaritativ bekennende Christentum der Mutter prägend. In NS-Jahren herangewachsen war der Gymnasiast Brezinka bei Kriegsende als Jugenderzieher in verschiedenen „Kinderlandverschickungs-Lagern“ tätig, so etwa auch in traditionell bergbäuerlich geprägten Dörfern Osttirols.

Hermann Kant hat 1965 in seinem den sozialistischen Arbeiter- und Bauernfakultäten gewidmeten Roman „Die Aula“ die ideologischen Widersprüche an den im Aufbau befindlichen Universitäten der (ab 1949) DDR beschrieben: hier die antifaschistisch sozialistische Aufbruchsstimmung vieler Studierender aus linken, verfolgten Arbeiterfamilien, der Jubel über die Befreiung durch die Rote Armee, - und dort unter anderen Studierenden das Nachtrauern über das Ende des „großen Deutschland“, das Anklammern an ein ungebrochen religiös konservatives Erbe. Wolfgang Brezinka schreibt, dass die nahende Niederlage der Wehrmacht ihn, den knapp 17jährigen, in eine „bedrückte seelische Verfassung“ (S. 41) versetzt hat: „Die beiden weltanschaulichen und moralischen Konstanten meines Lebens waren der christliche Glaube und die Liebe zum deutschen Volk und Vaterland“. (S. 60)

Wie viele religiös orientierte Jugendliche greift auch der junge Wolfgang Brezinka nach dem offenbar nur begrenzt als Befreiung empfundenen „Zusammenbruch“ auf nach 1945 stark nachgefragte christlich „existentialistische“ Autoren wie Wolfgang Borchert oder Ernst Wiechert zurück. Und schlussendlich der Entschluss 1946: Eintritt in das erzbischöfliche Priesterseminar in Salzburg, persönlich aufgenommen von Fürsterzbischof Andreas Rohracher.  Hier begegnete Brezinka auch der charismatisch katholischen Jugend-Erneuerungsbewegung „Bund Neuland“ (des Priesters Michael Pfliegler). Für Brezinka hoben sich die „Neuländer“ wohltuend von den rituell katholischen, kaum die weltlichen Protektionsgeschäfte verbergenden Verbindungen des Cartellverbandes (CV) ab.

Nach dem Erwerb des philosophischen Lizenziats verlässt Brezinka das Priesterseminar. In diesen Jahren an der Salzburger Theologischen Fakultät hat er nicht nur bei verschiedenen Benediktinerprofessoren wie Albert Auer die Geschichte der Philosophie gründlich studiert, so vor allem die Philosophie des Thomas von Aquin nach dem bekannten Thomas-Forscher Martin Grabmann, sondern auch ein „Verständnis für meine frühe skeptische Distanzierung von der dogmatisch-abstrakten neo-scholastischen Philosophie und ihrem Anspruch auf vernünftige Beweise des Daseins und der Eigenschaften Gottes“ (S. 85) gewonnen.

Entscheidend für die Klärung der Differenz „Wissenschaft/Glaube“ sollte dann ab 1949 die Begegnung mit dem damaligen Innsbrucker Privatdozenten Wolfgang Stegmüller werden. Brezinka zählte zu Stegmüllers ersten Studenten. Er war von Stegmüllers kritischen Analysen zur Phänomenologie Edmund Husserls, zu Max Scheler oder Martin Heidegger beeindruckt. Wolfgang Stegmüller, einer der bedeutenden Analytischen Philosophen des 20. Jahrhunderts, der nach seinem schändlichen Übergangenwerden in Innsbruck später in München lehrte, hat diese Ausführungen dann auch in seine „Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie“ aufgenommen: „Mir haben damals noch die Voraussetzungen gefehlt, um sie voll verstehen zu können, aber [Stegmüllers] kritischer Grundzug und die analytische Kraft seiner pro- und contra-Argumente haben mir imponiert. Später sind wir Freunde geworden und bis zu seinem Tod [1991] geblieben. 1969 hat er mir sein eben erschienenes Hauptwerk ‚Wissenschaftliche Erklärung und Begründung‘ mit Widmung geschenkt, 1989 den letzten Band seiner ‚Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie‘. Er war mir ein Vorbild im Streben nach größtmöglicher Klarheit und nach Redlichkeit in der Unterscheidung zwischen Wissen und Glauben, Wissenschaft und Weltanschauung.“ (S. 102)

Entscheidend für Wolfgang Brezinkas Laufbahn als Dozent der Pädagogik war die Begegnung mit Friedrich Schneider, einem von den Nazis aus Köln vertriebenen katholischen Erziehungswissenschaftler, der nach 1945 unter prekären Bedingungen am Rande der Salzburger Theologenfakultät ein Institut für vergleichende Erziehungswissenschaft aufbauen wollte.  Viel habe er Schneider verdankt, nicht nur die Einführung in das Fach, nicht nur die Weitervermittlung zum philosophisch-pädagogischen Seminar der Universität Innsbruck um Richard Strohal und Theodor Erismann, sondern auch die erste (Salzburger) Assistentenstelle. Trotzdem irritierte ihn Schneiders massives „katholisches Sendungsbewusstsein“, weshalb er Schneiders Kollegien allmählich weniger frequentiert hat: „Mein Eifer hat schon im zweiten Studienjahr nachgelassen, weil mir [Schneiders] begriffliche, methodische und systematische Mängel aufgefallen sind: das Übermaß an Meinungen und Wunschvorstellungen statt theoriekritischer Analyse und empirischer Forschung.“ (S. 87)

Während der Arbeit an der 1951 in Innsbruck fertig gestellten Dissertation über „die Bedeutung der psychologischen Typenlehren von Kretschmer, Jung und Spranger für die Erfassung des Charakters von Jugendlichen“ seien ihm weitere Zweifel an der Relevanz „widersprüchlicher philosophischer Lehrmeinungen“ für die erfahrungswissenschaftliche Forschung gekommen: „In der Pädagogik wie in vielen psychotherapeutischen Lehren überwucherten metaphysische Spekulationen, ethische Postulate und naive technologische Phantasien die empirische Kenntnis der Phänomene und ihrer kausalen Zusammenhänge. Nun sah ich in meiner religiösen Orientierung und meinem moralistischen Weltbild zunehmend ein Hindernis rationaler Erkenntnis.“ (S. 104)

Nach der 1954 in Innsbruck bei Richard Strohal mit Beiträgen „zu einer Revision der Erziehung“ erfolgten Habilitation wurde ein Forschungsstipendium an der Columbia- und Harvard-Universität 1957/58 zu einem weiteren entscheidenden Schritt in Wolfgang Brezinkas wissenschaftlicher Biographie, wichtig Begegnungen mit Sozialwissenschaftlern wie dem aus Wien vertriebenen Soziologen Paul Lazarsfeld, dem ebenfalls „empirischen“ Soziologen Robert Merton oder mit der Kulturanthropologin Margaret Mead. Besonders beeindruckend jene mit dem alten, schon 1914 als Kriegsgegner und Pazifist angefeindeten, ehemaligen aus Deutschland vertriebenen Wiener und Münchner Pädagogik-Professor Friedrich Wilhelm Foerster. Berührt von Foersters Haltung widmete Brezinka im Winter 1958/59 die erste Übung an der Pädagogischen Hochschule Würzburg dem „pädagogischen Lebenswerk F.W. Foersters“.

Brezinkas erste Professur an der teils konfessionell gebundenen Würzburger pädagogischen Hochschule (1958-1960) stand auch im Zeichen eines Konflikts mit einer pointiert katholisch fränkischen Lehrergruppe, die den „positivistischen“ Brezinka im Herbst 1959 offen angriff: „Eine pädagogische Hochschule (sei) kein Asyl für wissenschaftstheoretische Blindgänger.“ (S. 193)

1960 in der Nachfolge von Richard Strohal an die Universität Innsbruck ernannt stand auch ein Ruf an die Universität Hamburg und vor allem einer an die Universität Marburg zur Auswahl. In Marburg bemühte sich die 1934 nach England vertriebene Nohl-Schülerin Elisabeth Blochmann um Brezinka als ihren Nachfolger. Obwohl in Innsbruck nur teilweise willkommen, und obwohl Brezinka bekannt war, dass von der Innsbrucker Philosophischen Fakultät kaum Verständnis für die Pädagogik als eigenständig souveräner Wissenschaftsdisziplin zu erwarten war, wählte Brezinka Innsbruck: „Die Vernunft sprach für Marburg, aber das Herz strebte nach Tirol.“ (S. 231-233)

In Innsbrucker Jahren (1960-1967) plant Wolfgang Brezinka ein empirisch rational fundiertes „System der Allgemeinen Pädagogik“ jenseits aller geisteswissenschaftlich „hermeneutisch“, idealistischen Kulturphilosophie, beruhend auf der Wissenschaftstheorie von Viktor Kraft, Karl Popper oder von Hans Albert. Der befreundete Innsbrucker Philosophiedozent Rudolf Wohlgenannt, später Professor in Linz, sollte den „Wissenschaftsbegriff der Pädagogik“ auf Grundlage des Kritischen Rationalismus formulieren.

Brezinka verlangte 1966 in einem Programmaufsatz „Die Krise der wissenschaftlichen Pädagogik in Österreich im Spiegel neuer Lehrbücher“ etwa: „Die Grundbegriffe müssen sorgfältig herausgearbeitet, in eine logisch richtige Ordnung gebracht und stets in gleicher Bedeutung verwendet werden. Das ist in einer Wissenschaft, die vorwiegend Ausdrücke der Alltagssprache benutzt, von ganz besonderer Bedeutung.“ (S. 288)

Noch von Innsbruck aus wurde Brezinka 1967 zu einem Protagonisten im so genannten „Positivismusstreit in der deutschen Pädagogik“ („Rombach-Brezinka-Kontroverse“).  Brezinka galt als ein „Apologet einer Erziehungswissenschaft als Erfahrungswissenschaft“. Der Würzburger Philosophieprofessor Heinrich Rombach warf Brezinka in der „Zeitschrift für Pädagogik“ vor, „alle wertenden Disziplinen … vor allem Philosophie und Theologie“ eliminieren zu wollen. Brezinkas Verständnis von „Aufklärung“ – der Vorwurf könnte auch aus Adornos und Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“ stammen – schlage nur zu schnell in Blindheit um. Brezinkas Antwort an Rombach über „den Wissenschaftsbegriff der Erziehungswissenschaft und die Einwände der weltanschaulichen Pädagogik“ löste eine Welle weiterer Streitschriften durch dritte Autoren aus.

Der Göttinger Emeritus Herman Nohl hatte 1960 enttäuscht über Brezinkas Marburger Rufablehnung geschrieben: „In Innsbruck sind Sie … wissenschaftlich in einer Sackgasse.“ Nohl schien damit schon nach kurzer Zeit richtig zu liegen.

Für die große Mehrheit der Innsbrucker Fakultätskollegen war die Pädagogik allenfalls dazu da, den Lehramtskandidat/inn/en in möglichst knappem Stundenkontingent ein paar mehr oder wenige dürre Grundbegriffe anzueignen. Als Forschungsdisziplin war die Erziehungswissenschaft den meisten – natürlich auch aus Gründen der kleinbürgerlichen akademischen Konkurrenz um knappe Forschungsmittel – fremd.

Das Ministerium genehmigte 1964 eine zweite erziehungswissenschaftliche Professur (spezialisiert für Schulpädagogik). Das Ministerium stellte ein von Brezinka 1965 detailliert konzipiertes „Forschungszentrum für Erziehungswissenschaften an der Universität Innsbruck“ in Aussicht. Beides wurde von der konservativen Fakultätsleitung mit billigen Geschäftsordnungstricks ausmanövriert, hintangestellt oder abgelehnt. Die Aufforderung von Unterrichtsminister Theodor Piffl-Percevic (ÖVP!), einen Dreiervorschlag für die im Rahmen geplanter Schulreformen wichtige zweite Pädagogik-Professur zu erstellen, wurde in Innsbruck ignoriert. Allein durch die von Wolfgang Brezinka geförderte Habilitation von Lotte Schenk-Danzinger konnte die erziehungswissenschaftliche Lehre erweitert werden: Schenk-Danzinger, einst Studentin von Karl und Charlotte Bühler, und Mitarbeiterin an der Studie über die „Arbeitslosen von Mariental“, hat sich 1963 als damalige Leiterin des schulpsychologischen Dienstes der Stadt Wien, für das Fach „Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie“ habilitiert.

Die von Brezinka wiederholt gestellten Anträge auf Ausbau der pädagogischen Universitätsinstitute – historisch u.a. auf die „Leitsätze zur Neugestaltung der Lehrerbildung“ des Wiener Sozialdemokraten Otto Glöckel (1920) gestützt – fanden in der Innsbrucker Fakultät wenig bis gar keine Unterstützung, sodass es Brezinka wohl bereut haben mag, 1962 einen Ruf an die Universität Tübingen, an der knapp zuvor noch niemand Geringerer als Eduard Spranger gelehrt hatte, abgelehnt zu haben. Nun 1967 hat es gereicht: Wolfgang Brezinka nimmt einen Ruf an die „Reformuniversität“ Konstanz an. Hier endet der erste Teil der „Erinnerungen“. Teil II ist in Arbeit!

 

Der Fall „Peter Seidl“ (1974-1976)

Im Jänner 1974 hat Peter Seidl (1941-1986), 1967 noch von dem bald nach Konstanz berufenen Wolfgang Brezinka als Assistent am Institut für Erziehungswissenschaft eingestellt, die Habilitationsschrift „Bausteine für eine Theorie der Schule und der Schulreform“ eingereicht. Peter Seidls Eintreten für eine nicht sozial klassenmäßig aussiebende Gesamtschule löste bei dem 1947 nach Innsbruck berufenen Althistoriker Franz Hampl reaktionäre Vorurteile aus. Hampl zählte zu jenen, die der Pädagogik von rechts aus den Wissenschaftscharakter schon seit Jahren abgesprochen hatten. Wissenschaftlich hierzu in keiner Weise ausgewiesen berief er sich auf die Macht mäßig einflussreiche, aber rein administrative Position als Vorsitzender der Lehramtsprüfungskommission.

Das Verfahren war zudem von einem gerade im Bereich des Erziehungswissenschaftlichen Instituts heftig ausgetragenen Konflikt um die anstehende, dann im UOG 1975 festgeschriebene Mitbestimmungsreform (so genannte „Drittelparität“ der Professoren-, Assistenten- und Studierendenkurie) überlagert, sodass Peter Seidl in der ORF-Sendung „In eigener Sache“ am 5. September 1976 darauf hinweisen konnte, dass nicht nur sein Einsatz für die Schulreform politischen Widerstand in der Innsbrucker Philosophischen Fakultät ausgelöst hat: „Mein Fehler war allerdings, dass ich mich nicht nur kritisch mit der Schulwirklichkeit befasst habe, sondern dass ich mich auch für eine Hochschulreform engagiert habe, und zwar unter anderem für das von den Professoren bekämpfte Mitbestimmungsgesetz, (…).“

Erst nach über einem Jahr langten im April und Mai 1975 die Fachgutachten beim Philosophischen Dekanat ein, verfasst von Ivo Kohler, Professor für (experimentelle) Psychologie in Innsbruck, von den Pädagogikprofessoren Helmut Seel (Graz, auch SPÖ-Nationalratsabgeordneter), Alois Eder (Wirtschaftsuniversität Wien), Günther Buck (Stuttgart) und Walter Schultze (Frankfurt). Von dem kritisch unentschiedenen Buck abgesehen empfahlen alle Gutachter mit Anerkennung einen positiven Abschluss des Habilitationsverfahrens, auch wenn im Rahmen üblicher Kritik Einwände (wie ein widersprüchliches „Theorie-Praxis“-Verständnis, nicht immer ausreichender Vergleich mit außerösterreichischen Schulreformen oder die Zugrundelegung begrenzt aussagekräftiger Schulversuche) vorgebracht wurden.

Aufgebracht mobilisierte Franz Hampl seine konservativen Fakultätskollegen, indem er in einem sich auf ganz wenige Passagen in Seidls Schrift stützenden „Gutachten“ die Frage der Schulreform ideologisch auf die Frage von „Vererbungs“- wider „Milieutheorie“ herabbrach, so unter Berufung auf Arthur Jensen (1969) und auf eine 1972 veröffentliche Resolution, in der „über fünfzig amerikanische und europäische Wissenschaftler ihre warnende Stimme gegen die Milieutheorie und ihre Folgen auf dem Gebiete der Bildungspolitik erhoben“ haben, darunter der auch in rechtsextremen Heften publizierende Hans Jürgen Eysenck. Eysenck veröffentliche 1975 seine Bücher „Vererbung, Intelligenz und Erziehung“ und „Die Ungleichheit der Menschen“ in deutscher Übersetzung.

Seine Ressentiments gegen die Pädagogik, gegen jede sozialwissenschaftliche Terminologie, die er im Stil eines Helmut Schelsky als „babylonische Sprachverwirrung“ abtat, deutet Hampl bereits einleitend mit dem Hinweis an, dass seine Stellungnahme in der Sicht jener, die von „der Pädagogik als eigener Wissenschaft“ überzeugt seien, als „fachfremd“ gelten wird: Arthur R. Jensen „brachte bekanntlich in der Harvard Educational Review Bd. 1969 eine Untersuchung heraus, in welcher er – nach dem Vorgang anderer – zu zeigen versuchte, dass den Erbanlagen in der Entwicklung des Menschen wie in körperlicher, so auch in psychischer Hinsicht eine weit größere Bedeutung zukommen, als die die in den USA seit langen Jahrzehnten vorherrschende sogenannte Milieutheorie zugeben möchte.“

Hampl schwang sich auch im Konflikt mit Seidl zu einer seiner berüchtigten, im laufenden Habilitationsverfahren aber jedenfalls deplatzierten geschichtsphilosophischen Höhenflüge auf: „Für den Historiker ist es eine Binsenwahrheit, dass die kulturelle Entwicklung der Völker in erster Linie von den schöpferischen Anlagen bzw. Konzeptionen Einzelner bestimmt wird und dass man dem Wirken dieser Männer – man denke etwa an Phidias, Archimedes, Leonardo da Vinci und Beethoven – niemals gerecht werden kann, betrachtet man es als einen bloßen Ausfluss von Umwelt und Erziehung.“

Sowohl Ivo Kohler als auch Helmut Seel – beide traten für eine Einschränkung der Lehrbefugnis auf „Pädagogische Soziologie“ ein – erklärten Hampls Einwendung von einem rational fachwissenschaftlichen Standpunkt aus für irrelevant: Hampl ignorierte nämlich sämtliche Fachkritik an Arthur R. Jensen, wie die fragwürdige „Auswahl des Datenmaterials“ und umstrittene „Angemessenheit der von [Jensen] eingesetzten statistischen Methoden der Datenverarbeitung“, so Helmut Seel im Juni 1975: „Völlig außer Acht gelassen werden im Gutachten Prof. Dr. Hampls schließlich die Tatsache, dass auch die zur Stützung seiner Ansicht herangezogenen Autoren wesentlich geringere Zusammenhänge zwischen vererbten Anlagen und Schulleistung als zwischen Erbausstattung und Testintelligenz aufweisen. Die Ausführungen des Habilitationswerbers sind aber in erster Linie als Grundlagen von Schulreformtendenzen gedacht. Er schränkt daher die Bedeutung der Forschungsergebnisse, die in IQ-Werten dargestellt werden, zurecht ein.“

Ivo Kohler hat Seels Argumente im Oktober 1975 noch einmal wiederholt: „Die Erbe-Umwelt-Diskussion betrifft nicht das eigentliche Anliegen des Habilitanden. Selbst wenn nachgewiesen werden könnte, dass nur wenige Prozent der Intelligenzstreuung (nicht der absoluten IQ-Werte!) durch Milieugestaltung veränderlich sind, bleibt noch genug für die Pädagogen zu tun. Die in der Biologie und Psychologie wohlbekannte Erbe-Umwelt-Problematik wurde somit ungerechtfertigt und emotional hochgespielt. Meine Bemühungen, diese Auseinandersetzung zu objektivieren und zwar durch Zusendung eines wegweisenden Artikels von Prof. Lienert ‚Gedanken zur psychologischen Erbe-Umwelt-Problematik‘ (Festschrift Hain, 1967), sowie neueste Artikel aus ‚Psychologie heute‘ ‚Warum die Intelligenzdebatte wieder aufgewärmt wird‘ (Fatke, Sept. 1975) und ‚Auswege aus der Jensendebatte‘ (Klauer, Okt. 1975), insbesondere an Prof. Hampl gerichtet, blieben ohne den erwünschten Erfolg.“

Obwohl die Habilitationskommission im Juni 1975 Peter Seidls Zulassung zu den weiteren Verfahrensschritten beschlossen hatte, und obwohl die Professoren Seel und Eder ihre für Seidl günstigen Gutachten vor der Fakultätsversammlung verteidigten, gelang es Hampl eine politische Mehrheit gegen Seidl zu gewinnen. Gegen Hampl stellten sich aber trotzdem nicht nur die von ihm stets verächtlich gemachten kultur- und sozialwissenschaftlichen („soziologischen“) Kollegen, sondern auch einige als unangreifbar geltende Ordinarien aus dem naturwissenschaftlichen Bereich der Fakultät, wie jenem der Chemie: Expertengutachten zählen mehr als ein vereinzeltes Gutachten eines eindeutig Fachfremden! Nach über fünf Jahren konnte das Habilitationsansuchen Peter Seidl 1979 im Berufungsverfahren positiv abgeschlossen werden. (UAI, Philosophische Habilitationsakten nach 1945. Vgl. bei allen Differenzen zu Seidl den Habilitationskonflikt in allen Widersprüchen darstellend Wolfgang Brezinka: Pädagogik in Österreich. Die Geschichte des Faches an den Universitäten vom 18. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Band 2: Pädagogik an den Universitäten Prag, Graz und Innsbruck, Wien 2003, 743-760. Vgl. Axel Hirsch: Eysenck, die Intelligenz und die Bildungspolitik, in: Rechte Psychologie. Hans Jürgen Eysenck und seine Wissenschaft, hrg. von Axel Hirsch, Heidelberg 1989, 125-144)

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