Sowi I: Wirtschaftswissenschaften
Die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften waren – unter dem so genannten österreichischen „Juristenmonopol“ leidend – im Verbund der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät eher randständig im Rahmen des staatswissenschaftlichen Rigorosen- und Staatsprüfungsbetriebes angesiedelt. Daran änderte auch die Einführung des Doktorats der Staatswissenschaften (Dr.rer.pol.) Anfang der 1920er Jahre und des Studiums zum Diplomvolkswirt ab 1937 [nach 1950 dann auch des Dr.rer.oec.-Studiums] vorerst wenig.
Mitte der 1960er Jahre, im Studienjahr 1964/65, promovierte die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät 91 Dr.jur., 8 Doktoren des an geringem Ansehen leidenden, bald eingestellten staatswissenschaftlichen Studiums (Dr.rer.pol.) und 20 Doktoren der Wirtschaftswissenschaften (Dr.rer.oec.). Hatten von 91 promovierten Juristen 71 die österreichische Staatsbürgerschaft inne, so waren von den 28 Absolventen der staats- und wirtschaftswissenschaftlichen Gruppe nur vier Österreicher, während der Großteil aus der BRD stammte, wohinter sich das die Lage des staats- und wirtschaftswissenschaftlichen Studiums noch weiter verschlechternde, in bundesdeutschen Medien (etwa dem „Spiegel“ Nr. 19/1966 vom 2. Mai 1966) süffisant kommentierte „Dr.Inns.“-Problem verbarg: Franz Josef Strauß wolle nämlich nun auch in Innsbruck den als „Dr. inns. belächelten“ Grad eines Dr.rer.pol. erwerben. Seit den 1950er Jahren in Österreich und vor allem in mehreren bundesdeutschen Kultusministerien anhaltende Kritik am Doktorgrad der Staatswissenschaften führten schlussendlich zu seiner Abschaffung und zu einer aufwertenden Reform des Wirtschaftsstudiums im Rahmen des „Allgemeinen Hochschulstudiengesetzes (AHStG) 1966“.
An der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät waren 1964/65 neben neun externen Privatdozenten 15 Professoren aktiv, - drei davon Nationalökonomen: der 1953 nach „Entnazifizierung“ reaktivierte Politische Ökonom Ferdinand Ulmer (1901-1974), der 1958 aus Köln berufene Finanzwissenschaftler Clemens August Andreae (1929-1991) und der 1962 aus Wien geholte Betriebswirt Rudolf Bratschitsch (1928-2012). (Vgl. Nachrichtenblatt der Universität Innsbruck 1964/65, Innsbruck 1965, 15-19)
Bis 1912 hatte es in Innsbruck nur eine einzige Professur für politische Ökonomie gegeben. Erst 1912 wurde mit der Berufung des ein Jahrzehnt später nach Frankfurt ernannten Wilhelm Gerloff eine zweite wirtschaftswissenschaftliche Lehrkanzel eingerichtet. An dieser Doppelbesetzung sollte sich dann auch bis in die 1960er Jahre (!) nichts mehr ändern.
Je nach Interessenslage des Lehrkanzelinhabers waren die Forschungstendenzen mehr „rein“ wirtschaftswissenschaftlich bzw. mehr (historisch) soziologisch ausgerichtet. Am gleichsam prominenten Beginn stand in den 1880er Jahren mit Eugen Böhm-Bawerk ein klassischer Vertreter der subjektiven „Grenznutzentheorie“, der in Innsbrucker Jahren sein zweibändiges Hauptwerk „Kapital und Kapitalzins“ veröffentlichte, der aber Tirol bald verließ, da der Wirkungskreis an der Rechtsfakultät für einen Ökonomen zu klein war, wie Josef Schumpeter in einem Nachruf auf Böhm-Bawerk 1914 vermerken sollte: „(Denn) in Innsbruck war 1880 bis 1889 das wissenschaftliche Milieu zu klein, als dass die Möglichkeit bestanden hätte, eine Gruppe von Jüngern heranzuziehen, für die das Spezialgebiet theoretischer Ökonomie Lebensinhalt hätte werden können, zumal an der Juristenfakultät im Kreise wesentlich am Rechtsstudium orientierter Studenten.“ (Vgl. Joseph Schumpeter: Das wissenschaftliche Lebenswerk E.v. Böhm-Bawerks, jetzt in derselbe: Dogmenhistorische und biographische Aufsätze, Tübingen 1954, 7-81)
Hermann von Schullern, von 1915 bis 1931 in Innsbruck politische Ökonomie lehrend, zählte zur historische Schule der Nationalökonomie, wie schon Titel seiner Arbeiten über „das Kolonat in Görz und Gradisca, in Istrien, in Dalmatien und in Tirol“ (hier beschrieb er auf Grund umfangreicher Feldstudien die Entwicklung einer auf der Naturalpacht beruhenden landwirtschaftlichen Betriebsform), über „die Bewegung der Getreidepreise in Österreich“, über „die Bewegung im bäuerlichen Grundbesitze Niederösterreichs“ über „die Lohnarbeit in der österreichischen Landwirtschaft und ihre Verhältnisse“ oder seine 1924 publizierte „Agrarpolitik“ vermuten lassen.
Eher soziologisch orientiert arbeitete auch der ab 1922/23 in Innsbruck lehrende, 1939 nach Wien berufene, früh scharf nazistisch aktive Adolf Günther, so etwa mit seiner „alpenländischen Gesellschaft als sozialer und politischer, wirtschaftlicher und kultureller Lebenskreis, Jena 1930“. (Vgl. Peter Goller: Nationalökonomie und Soziologie an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck 1914-1945, in: Tiroler Heimat 54 (1990), 125-146)
1945 kehrte der noch knapp vor 1938 ernannte „Ständestaatler“ Hans Bayer zurück. Der 1940 aus Freiburg berufene Josef Back musste seine Professur wegen fehlender österreichischer Staatsbürgerschaft als „Reichsdeutscher“ verlassen, während der ebenfalls in NS-Jahren 1943 ernannte Theodor Pütz trotz Protesten antifaschistischer Kreise im Lehramt verbleiben konnte. Pütz‘ Arbeiten über die „deutsche Außenwirtschaft“, usw. galten in antinazistischer Sicht als imperialistisch „großdeutsch“ geprägt. Theodor Pütz lehrte bis zu seiner Berufung an die Universität Wien 1953 in Innsbruck. Sein unmittelbarer Vorgänger sollte 1953 auch wieder sein Nachfolger sein: Ferdinand Ulmer!
Zum Wiener Dozenten und wirtschaftspolitischen Sekretär der vom „Ständestaat“ nach 1934 gleichgeschalteten Wiener Arbeiterkammer Hans Bayer (1903-1965) hatte NS-Juristendekan Adolf Günther im Frühjahr 1938 erklärt, dass dieser nur wegen seiner Verdienste um die „Systemregierung“ ernannt worden sei: „Bayer hat die volle Gunst des früheren Systems genossen. So hat z.B. Bundeskanzler Schuschnigg ihm ein Vorwort zu seinem ‚Arbeitsrecht’ geschrieben.“ Bayer solle im unpolitischen statistischen Dienst verwendet werden. Ein Eintreten für ein eigenständiges, wie auch immer innerlich gestaltetes Österreich reichte in Günthers Augen aus, um jemanden als Lehrer für eine in den Kategorien des imperialistischen deutschen Großraums denkende Nationalökonomie auszuschließen: „Die Tatsache allein, dass Bayer für ein ‚selbständiges Österreich’ eingetreten ist, entscheidet natürlich für sich selbst nicht zu viel; nur musste ich allerdings in dieser betonten Auffassung einen scharfen Gegensatz zu meiner eigenen hier seit 1 1/2 Jahrzehnten vorgetragenen Meinung sehen, der zufolge nur der Anschluss als wirtschaftlich und wissenschaftlich vertretbar erscheint.“
1945 in seine Innsbrucker Universitätsprofessur wiedereingesetzt ging der sozial- und gewerkschaftspolitisch forschende, politisch zwischen „Ständestaat“ und (ab 1945) „Sozialpartnerschaft“ stehende Hans Bayer 1956 unter anderem auf Vorschlag des päpstlichen Sozialtheoretikers Oswald Nell-Breuning SJ als Professor an die vom Deutschen Gewerkschaftsbund DGB mit getragene Sozialwissenschaftliche Akademie in Dortmund.
Nach Pütz‘ Berufung nach Wien konnte 1953 mit Ferdinand Ulmer ein ehemaliger „alter“ Innsbrucker Dozent als Professor der politischen Ökonomie an die Universität zurückkehren. Der schon 1939 zum Extraordinarius hoch gehobene Ulmer war als zuverlässiger Nazi-Ökonom 1942 an die von den deutschen Faschisten unterdrückte und kontrollierte Universität Prag berufen worden.
Ferdinand Ulmer (1901-1974) war sogar schon 1937 für eine Professur vorgeschlagen worden. Laut NS-Juristendekan Günther sei er aber zu dem Zeitpunkt noch vom „System“ verhindert worden: „Ulmer stand mit an erster Stelle auf der Liste vom 20.1.1937. (...) Ulmer ist aus rein politischen Gründen übergangen, Bayer aus denselben Gründen berufen worden. (...) Ulmer ist seit 1934 Parteigenosse und stand zur Verwendung des Gauleiters und Landeshauptmannes Christoph.“
Ulmer – er war von 1945 bis 1950 Leiter der Landesstelle für Statistik beim Amt der Vorarlberger Landesregierung, ab 1949 Mitglied der Vorarlberger Landesregierung und auch als Bundesrat für den VdU [Vorgängerorganisation der FPÖ] tätig – konnte sich 1952, als die letzten Ansätze einer antifaschistischen „Entnazifizierung“ endgültig im Sande verlaufen waren, wieder an der Universität Innsbruck habilitieren.
Wie seine Lehrer Schullern und Günther folgte Ulmer einer mehr historisch statistischen Richtung im Bereich der (lokalen Tiroler) Agarökonomie: 1932 mit einer Arbeit über die „Weinwirtschaft Südtirols“ habilitiert legte er etwa 1942 „Die Bergbauernfrage. Untersuchungen über das Massensterben bergbäuerlicher Kleinbetriebe im alpenländischen Realteilungsgebiet“ vor. Ulmer knüpfte mit einem von ihm in den 1950er Jahren neu begründeten und geleiteten Institut für alpenländische Sozialforschung also an die Vorkriegstradition (auch des Karl Lamp‘schen „Instituts für alpenländische Sozialforschung“) an.
Nachfolger des nach Dortmund übersiedelten Hans Bayer wurde 1958 der Kölner Privatdozent Clemens August Andreae (1929-1991).
Seit Beginn der 1950er Jahre forcierte die Fakultät die BWL-Forschung: Rudolf Stemberger (1901-1964) wurde 1955 Inhaber der neu errichteten Innsbrucker betriebswirtschaftlichen Professur. „BWL II“ ging 1962 an Rudolf Bratschitsch. Nachfolger von Stemberger wurde 1965 Walter Marzen.
Auf dem Weg zu einer eigenen Sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät – diese wurde nach Abtrennung von der Juristenfakultät 1976 eingerichtet – stand unter anderem eine dritte Lehrkanzel für Nationalökonomie, die 1965 für kurze Zeit mit dem späteren Finanzminister Stephan Koren besetzt werden konnte, und ein 1966 mit Romed Giner besetztes Extraordinariat.
„BWL III, IV, …“ oder „Nationalökonomie III, IV, …“ sollten als weitere Differenzierungen und als weiterer personeller Ausbau ab ca. 1970 rasch folgen: Hierüber und über das vorige in Bälde mehr von Prof. Engelbert Theurl in einer Studie über „250 Jahre Volkswirtschaft an der Universität Innsbruck“!
Dokumente im Folgenden: