Der Textilarbeiter Josef Hagen war schon mehr als vier Jahre Soldat, als er Anfang Mai 1944 einen Heimaturlaub von seiner Einheit, dem Artillerie-Regiment 349, nach Lustenau zu seinen Eltern erhielt. Seine Familie betrieb eine Landwirtschaft, der Vater Leopold, Veteran des Ersten Weltkrieges, verdiente durch Gelegenheitsarbeiten etwas Geld dazu. Die Familie hatte sieben Kinder, alle drei Söhne wurden in die Wehrmacht eingezogen, einer war bereits an der Ostfront gefallen. Josef Hagen war mit seiner Einheit erst kürzlich von Frankreich in die Ukraine zu Abwehrkämpfen gegen die Rote Armee verlegt worden. Einen Tag vor Ablauf des Urlaubs erhielten die Eltern einen Brief der Einheit ihres Sohnes Robert, dass diese an der Ostfront zersprengt worden war und er seither vermisst werde. Die Mutter Regina Hagen beschloss angesichts dieser bestürzenden Nachricht mit ihrem Sohn Josef – wie sie später bei einer Einvernahme durch die Gestapo (Grenzpolizeikommissariat Bregenz) erklärte –, „daß er nicht mehr einrücken sollte. Aus Angst, daß er auch noch fallen könnte, habe ich eben versucht ihn mir zu erhalten.“
Mit Regina Hagens Bruder Hermann Hofer, ebenfalls Veteran des Ersten Weltkrieges, auch er hatte bereits einen Sohn im Krieg verloren, berieten die beiden, was zu tun war. Hermann Hofer versuchte später in einer Einvernahme durch den Ermittlungsrichter seine Schwester zu entlasten, als er festhielt, dass der Antrieb zur Fahnenflucht nicht von ihr, sondern von Josef Hagen kam: „Horcht, Mutter, ich rücke nicht mehr ein, es geht mir sonst gleich wie meinen beiden Brüdern“, soll er zu ihr gesagt haben. Später, vor Gericht, hielt sich Regina Hagen an diese entlastende Aussage, als sie die Worte ihres Sohnes wiedergab: „Mutter, es geht mir genau so, wie meinen Brüdern, wenn ich morgen wieder zur Frontleitstelle nach Brody [Ukraine] komme, muss ich auf einen vorgeschobenen Posten. Ich rücke nicht mehr ein, ich gehe in die Schweiz.“
Zur Rettung des Lebens von Josef Hagen lag die Flucht in die Schweiz nahe. Da sich Josef im Grenzgebiet nicht gut genug auskannte, benötigten sie einen ortskundigen Helfer, um Josef den Weg über die Grenze zu weisen. Hermann Hofer suchte Rat bei dem Sticker und Hilfsarbeiter Johann König, der ebenfalls zwei Söhne im Krieg verloren hatte; aber einem dritten Sohn, Anton König, war im Februar 1944 die Flucht in die Schweiz gelungen. Hermann Hofer kannte König, auch er war Sticker, und er wusste, dass König früher als Schmuggler tätig gewesen war. Johann König gab seinem Drängen nach und erklärte sich bereit, dem fluchtwilligen Soldaten einen Weg in die Schweiz zu zeigen, den er selbst als Schmuggler benutzt hatte. Am 30. Mai 1944, einen Tag bevor Josef Hagens Urlaub endete, begleitete er diesen am späten Nachmittag in die Nähe des Freibades am alten Rhein zu einem Röhrenkanal, der durch den Rheindamm und unter dem alten Rhein hindurch auf einer Strecke von etwa 200 Metern in die Schweiz führte und aufgrund der Höhe des betonierten Gewölbes von etwa zweieinhalb Metern begehbar war. Der Eingang war zwar durch ein Gitter versperrt, dieses konnte aber bei genauer Ortskenntnis durch einen Einstieg überwunden werden. Die beiden wurden jedoch vom Hilfszollbetriebsassistenten Willibald Hofer, der in der Nähe auf einem Posten stand, entdeckt und beobachtet. Josef Hagen befand sich bereits im Wasser und als der Grenzwächter an den Röhrenkanal kam, war er darin bereits verschwunden. Willibald Hofer feuerte neun Schüsse in die Kanalöffnung und verwundete Josef Hagen schwer. Dieser schaffte den kurzen Weg in Schweiz noch, wurde auf der anderen Seite des Kanals geborgen und in das Krankenhaus Altstätten eingeliefert, wo er noch am selben Tag seinen Schussverletzungen erlag.
Wenig später wurde Johann König von Beamten der Zollgrenzaufsichtsstelle Wiesenrhein wegen Verdachts auf Beihilfe zur Fahnenflucht festgenommen. Bei der Durchsuchung seiner Wohnung fand die Gendarmerie einen Beileidsbrief des Unteroffiziers Manfred Hämmerle. Darin kondolierte Hämmerle seinem Nachbarn zum Tod seines gefallenen Sohnes Ernst. Der Brief beleuchtet die situative Motivlage von fluchtwilligen Soldaten aus dem Arbeitermilieu in Lustenau: „Ja liebe Nachbarn ich weiß Euer Schmerz ist zu groß als daß man ihn durch Worte aus Euren Herzen wischen könnte. […] Daß Euer Anton in die Schweiz gegangen ist, hat mich überrascht und doch nicht. Denn ich hätte es an seiner Stelle auch so gemacht. Wenigstens bleibt Euch ein Sohn erhalten und für ihn ist der Krieg aus.“
Die weiteren Ermittlungen der Gendarmerie führten schnell zur Aufklärung der Identität des Flüchtlings im Rohrkanal. Bei der Durchsuchung des Hauses der Familie Hagen wurde die militärische Ausrüstung von Josef Hagen gefunden. Mutter und Sohn hatten den Vater in den Fluchtplan nicht eingeweiht, dieser hatte vielmehr bei der Gendarmerie das Verschwinden des Sohnes angezeigt. Regina Hagen, Hermann Hofer und Johann König hingegen wurden vom Landgericht Feldkirch am 10. Oktober 1944 angeklagt, „einen aus dem Militärdienst entwichenen Soldaten hilfreiche Hand geboten und dadurch die Fortsetzung seiner Flucht begünstigt“ zu haben. Der Richter Dr. Hämmerle befand sie nach dem § 220 StG und gemäß § 221 StG in einem verkürzten Verfahren für schuldig und verurteilte Regina Hagen zu vier, Hermann Hofer zu sechs und Johann König zu zehn Monaten Gefängnis. Die Strafbemessung blieb deutlich hinter den Strafanträgen von Staatsanwalt Herbert Möller zurück. Der Oberstaatsanwalt berief gegen die ausgesprochenen Strafen. Das Oberlandesgericht Innsbruck erhöhte sie schließlich am 15. November 1944 im Fall von Regina Hagen auf sechs Monate Gefängnis und im Fall von Johann König auf fünfzehn Monate Zuchthaus. Während Regina Hagen aus gesundheitlichen Gründen nicht haftfähig war, wurde Johann König in das Straflager Rodgau-Dieburg in Hessen überstellt, wo er am 25. April 1945 von den Alliierten befreit wurde. Das Urteil gegen Hermann Hofer wurde wegen eines fehlenden Gutachtens zu seiner Urteilsfähigkeit aufgehoben, zu einer neuen Verhandlung gegen ihn kam es nicht mehr.
Josef Hagen hatte mit der Ahnung, die Rückkehr zu seiner Einheit würde zu seinem Tod führen, recht. Seine Einheit, das Artillerie-Regiment 349 wurde mit der 349. Infanterie-Division im Juli 1944 in der Nordukraine vollständig ausgelöscht. Die Flucht in die Schweiz bot bessere Aussichten, am Leben zu bleiben. Fast wäre sie ihm wie Anton König und anderen Vorarlberger Deserteuren gelungen.
Text: Peter Pirker
Siehe auch das Projekt des Jüdischen Museums Hohenems: Über die Grenze. 52 Hörstationen mit Fluchtgeschichten von 1938 bis 1945. Entlang der Radroute Nr. 1 vom Bodensee bis zur Silvretta – in Vorarlberg, der Schweiz und in Liechtenstein.