Projekte und Forschung

„Erfindung“ der Nadelspitze in Osttirol?

Forschungsprojekt ABT
gefördert vom Tiroler Wissenschaftsfonds (TWF)logo_abt

Unter den 2008 im Zuge von Renovierungsarbeiten geborgenen Textilien des 15. Jahrhunderts von Schloss Lengberg befinden sich auch Fragmente verschiedener Hemden (Abb. 1 links unten und rechts) aus Leinen sowie leinene Innenfutter (Abb. 1 links oben) ehemaliger Wollkleider. Erstmals konnten nun die größeren Fragmente mittels Schneiderpuppen in ihrer Trageweise dokumentiert werden. Die beiden Schneiderpuppen wurden dem Projekt Mittelalterliche Textilien von Schloss Lengberg, Osttirol und der Arbeitsgruppe für Bekleidung und textile Techniken (ABT) des Instituts für Archäologien, Fachbereich Mittelalter- und Neuzeitarchäologie, Universität Innsbruck von der Schneiderei Maß-Moden-Mauracher aus Jenbach dankenswerterweise kostenlos zur Verfügung gestellt.

Innenfutter Hemd
Abb. 1: Fragment eines leinenen Innenfutters eines ehemals blauen Wollkleides (links). - Leinenhemd mit teils  erhaltenem linken Ärmel (rechts). 
 

An einigen leinenen Kleiderfragmenten dienen auch angenähte Nestelbänder und Nadelspitzen als zusätzlicher Dekor. Diese Nestelbänder wurden entweder direkt an den Saum angenäht (Abb. 2,1) oder durch Einfügen einfacher Nadelspitzen aus Leinenzwirn mit den Leinentextilien verbunden (Abb. 2). Im Falle des Hemdes (Abb. 1, rechts), bei dem auch noch Teile des linken Ärmels erhalten sind, diente die Nadelspitze als Verzierung am Halsausschnitt. Leider ist das Nestelband hier nicht mehr erhalten (Abb. 2, 4a und 4b).

 

Nestelbaender - Nadelspitze
Abb. 2: Diverse Nadelspitzen an Leinentextilien von Lengberg. 4a = Reste der sehr  einfachen Nadelspitze am Halsausschnitt eines Leinenhemdes (4b und Abb. 1, rechts).

Die Nadelspitzen von Lengberg  benötigen, im Gegensatz zur Reticella-Spitze, einer Doppeldurchbruchsarbeit, bei der Kett- und Schussfäden aus dem Gewebe ausgezogen und die so entstehenden Stege mittels Knopflochstich umstickt werden, keinen textilen Untergrund sondern wurden mittels diverser Spitzenstiche „in der Luft“ genäht (Abb. 3). Beweis hierfür ist die Anbringung dieser Nadelspitzen an Säumen und eine Spitze, die zwischen zwei Webkanten gearbeitet wurde und nicht zum Annähen eines Nestelbandes dient (Abb. 2, 7). Dies sind möglicherweise die ersten Ansätze einer Technik namens "punto in aria" = "Stich in der Luft" oder "Spitze in der Luft", die zuerst von Giovanni Antonio Tagliente im Jahre 1527 (oder 1528) in seinem Musterbuch Essempio di recammi1 erwähnt worden sein soll. Punto in aria gilt als erste echte Spitze (d.h. Spitze, die nicht auf einem Gewebe gearbeitet wird). Das Gewebe wird hier durch einen schweren Faden oder Schnur ersetzt und auf einen temporären Träger (z.B. Pergament) geheftet. Die fertige Spitze trägt damit ihre eigene Struktur2. Ob in Lengberg ebenfalls eine Pergamentunterlage zum Arbeiten verwendet wurde lässt sich leider nicht mehr feststellen, jedoch sind die hier verwendeten Muster recht einfach und können wohl auch ohne Musterunterlage gearbeitet werden. Auch wurden in Lengberg keine Fäden oder Schnüre als Stege für die Spitzenstiche verwendet.

Schlingstich - Varianten
Abb. 3: Spitzenstich-Varianten wie sie einzeln oder kombiniert als Verzierung an den Kleidern von Lengberg anzutreffen sind.

In ihrem Buch Encyclopædie der weiblichen Handarbeiten beschreibt Thérèse de Dillmont eine von ihr Irländer oder Renaissance-Spitzen genannte Technik: „Die Irländer Spitzen, auch Renaissance-Spitzen genannt, sind eine Nachbildung der ersten geklöppelten Spitzen, der sogenannten Bandspitzen. ...Die Spitze besteht aus Litzen und Bändern, die durch verschiedene Stiche verbunden werden, nachdem sie vorher nach einem bestimmten Muster oder Plan aufgeheftet worden sind“3. Im Falle der Nadelspitzen von Lengberg nehmen Gewebe und/oder Nestelband die Stelle der Litzen ein. Thérèse de Dillmont betrachtet die Renaissance-Spitzen als Imitationen von Klöppelspitzen, und daher jünger, aber die Nadelspitzen von Schloss Lengberg sind älter als alle bis dato bekannten Klöppelspitzen.

Wie alt ist die Technik der Nadelspitze?

Bislang scheint die allgemeine Vermutung zu bestehen, dass echte Nadelspitze irgendwann im frühen 16. Jahrhundert entstand. Nun werfen die Funde aus Schloss Lengberg, deren Datierung ins 15. Jahrhundert durch 14C-Daten bestätigt wurde, erneut die Frage auf, wo und wann Nadelspitze nun tatsächlich das erste Mal Verwendung fand. Zwar legt die  italiennahe Lage Osttirols Einflüsse der frühen italienischen Renaissance nahe, zu bedenken ist aber, dass Antonio Tagliente für sein Buch wohl einige Muster aus älteren deutschen Musterbüchern kopiert hat. So aus dem älteste datierten Buch von Hans Schönsperger, Ein new Modelbuch (Zwickau 1524), und aus Peter Quentels Eyn new kunstlich Boich (Köln 1527). Selbst Hans Schönpergers Buch scheint jedoch nicht das erste gewesen zu sein, da im Titel vermerkt wird: Gemert vñ gepessert mitt new andern Modeln4. Eine „Erfindung“ der Nadelspitze in deutschsprachigen Landen im 15. Jahrhundert  ist daher nicht unmöglich – vielleicht sogar in Osttirol?


1 Voller Titel: Opera nuoua che insegna alle donne a cusire, a racammare & a disegnar a ciascuno, et la ditta opera sara di molta utilita ad ogni artista, per esser il disegno ad ognuno necessario, la qual e intitolata esempio di recammi (Venedig 1528). Erwähnt in: JOURDAIN Margaret, Old lace – a handbook for collectors (London 1909) p. 14 (online at the Open Library – HERE).

LOTZ Arthur, Bibliographie der Modelbücher. 2. Aufl. (Stuttgart 1963) Tafel 45.

2 The new Encyclopædia Britannica, Vol. 9, 15th ed. (Chicago 2005) 803.

3 DILLMONT Thérèse de, Encyklopädie der weiblichen Handarbeiten. Neue, vermehrte und verbesserte Auflage. (Mulhouse ca. 1900). (online “Project Gutenberg” HERE  auf Englisch)

4 HARRINGTON DANIELS Margaret, Early pattern books for lace and embroidery. In: The Bulletin of the Needle and Bobbin Club 17/2, 1933, 6 und LOTZ Arthur, Bibliographie der Modelbücher. 2. Aufl. (Stuttgart 1963) Tafel 3,5.

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