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Graffiti als terminus ante quem
Internationales Kolloquium am 02.10.2021 am Campus Technik, Lienz

Provokante Thesen tauchen nicht selten dann auf, wenn die Mittel zur Erforschung eines Gegenstandes erschöpft und an diesen angeblich keine weiteren Fragen zu stellen mehr sind. Die vermeintlich nur lokale Bedeutung des Pustertaler Malers Simon von Taisten und im Besonderen seine Bemalung der Burgkapelle von Schloss Bruck schienen seit Jahrzehnten hinlänglich geklärt, als Leo Andergassen vor 20 Jahren neue Fragestellungen – missverständlich vielleicht in Form eines kunsthistorischen Statements – an sie formulierte. Das Freskenprogramm betone den Memorialcharakter der Anlage und sei erst von König Maximilian I. in Erinnerung an Leonhard, den an Kunst kaum interessierten letzten Grafen von Görz, nach dessen Ableben im Jahr 1500 in Auftrag gegeben worden. Als Beleg wurde u. a. eine 1507 datierte Forderung Simons von Taisten bezüglich einer Bemalung des „Hauses“ Graf Leonhards ins Treffen geführt.

Unter dem Motto „Graffiti als terminus ante quem“ fand am 2. Oktober 2021 ein internationales Kolloquium zu „Datierungsproblemen der gotischen Fresken in der Kapelle von Schloss Bruck“ statt. Univ. Prof Dr. Harald Stadler (Institut für Archäologien der Universität Innsbruck) hatte dazu Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen in den Campus Technik Lienz eingeladen – Dr. Michaela Frick vom Bundesdenkmalamt Innsbruck und Univ. Prof. Dr. Romedius Schmitz-Esser vom Zentrum für Europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften der Universität Heidelberg waren, weniger aufgrund der geltenden COVID19-Bestimmungen als aufgrund der geografischen Distanz, digital zugeschaltet. Der Hightech-Ausstattung des Standortes und dem fachkundigen Support durch Martin Brunner ist es zu danken, dass die Hybridveranstaltung nicht nur im gelehrten Diskurs, sondern auch infrastrukturell weitestgehend friktionsfrei verlief.

 

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Wie Prof. Schmitz Esser in seinem Eingangsreferat über die noch junge Disziplin der Graffitiforschung ausführte, treten diese geritzten oder geschriebenen Zeichen, nicht selten als bewusst hinterlassene Zeugnisse der physischen Anwesenheit ihrer Verfasser, im Alpenraum erst seit dem 15. Jahrhundert vermehrt auf. Meist waren es Kleriker, Höflinge oder auch Handwerker, die sich an prominenter Stelle namentlich und manchmal sogar in Ergänzung des Bildprogrammes verewigten. Das älteste, eindeutig datierte Graffito in der Burgkapelle von Schloss Bruck hatte der Plebanus Albert Streicher 1498 ausgerechnet in den Golgota Hügel des Kreuztragungsfreskos im Läuteerker geritzt, dessen Ikonologie mit dem an Ketten in den Himmel gezogenen Allianzwappen Görz-Gonzaga Andergassen im Jahre 2000 als Kronzeugen seiner These angeführt hatte.

Anna Maria Petutschnig, die 2017/18 nicht weniger als 720 Graffiti in der Schlosskapelle aufgenommen und die Ergebnisse in diesem Jahr in einer bei Romedius Schmitz-Esser eingereichten Masterarbeit dargelegt hatte, bestätigte in ihrem Vortrag damit, was schon 1985 bei Meinrad Pizzinini nachzulesen war: den terminus ante quem als Datierungshilfe für die Fresken Simons von Taisten, deren Entstehungszeitraum allgemein zwischen 1491, dem ersten mutmaßlichen görzischen Auftrag an den Pustertaler Maler, und 1496, dem Tod Paolas von Gonzaga, veranschlagt wird. Dabei ist das Graffito ein ausgesprochener Glücksfall, denn das zeitlich am nächsten gelegene Datum 1503 bezieht sich auf ein Ereignis, das, wie Petutschnig vermutet, erst 50 Jahre später im Erker verschriftlicht wurde und damit die Brisanz des Eintrags als terminus ante quem deutlich schwächt.

Univ. Doz. Dr. Meinrad Pizzinini bemühte sich in seinem Vortrag über die „sakrale Kunst am Hof des letzten Görzer Grafen“ weitere Missverständnisse aufzuklären und verwies u. a. auf die zahlreichen Aktivitäten der „Görzer Bauhütte“ sowie auf die Freskierung der Franziskanerkirche in Lienz durch Nikolaus Kenntner und Sebastian Gerumer, welche die Grafen von Görz als durchaus kunstaffin bestätigen sollten. Vor allem aber machte er auf eine Verwechslung aufmerksam, die seit David Schönherr hartnäckig tradiert wurde: Mit Leonhards „Haus“ sei gerade nicht die Residenzburg Bruck, sondern das Stadthaus des Görzers am Lienzer Hauptplatz gemeint. Dort habe dieser, wie u. a. der Sekretär des Bischofs von Caorle, Paolo Santonino, in seinen Reisetagebüchern berichtet, bevorzugt gewohnt, während seine Ehefrau Paola von Gonzaga weiterhin auf Schloss Bruck residierte.

Mit diesem Hinweis bot Pizzinini einen ersten Lösungsansatz für ein Problem, das Dr. Leo Andergassen, Direktor des Landesmuseums für Kultur und Landesgeschichte Schloss Tirol, zuvor in seinem Referat „Bild und Memoria“ aufgeworfen hatte: Die Freskierung der Burgkapelle erstrecke sich nicht nur über einen längeren Zeitraum und sei nicht nur von mehreren Händen, die sich immerhin noch der Werkstatt Simons von Taisten einordnen ließen, sondern in nicht geringem Ausmaß von einem bisher unbekannten Künstler ausgeführt worden, dessen Stil eindeutig auf einen italienischen Erfahrungshorizont deute. Damit sei wohl zur Hauptsache Paola Gonzaga, die mit ihrem Hofstaat auf Schloss Bruck residierte, für die Beauftragung des künstlerischen Schmuckes der Kapelle verantwortlich zu machen.

Aus denkmalpflegerischer Sicht wurden Graffiti in den letzten hundert Jahren unterschiedlich bewertet. Berichtet 1914 der Staatskonservator Johann Deininger, dass die aus dem 16. bis 18. Jahrhundert stammenden

 

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Bild 4Inschriften bei der Restaurierung 1911-13 als „historische Dokumente erhalten“ geblieben sind, so wurden sie durch Restaurator Franz Walliser im Jahr 1943, so gut es ging, zugedeckt. Allein die Unterschrift Franz von Defreggers wurde pietäthalber belassen. Graffiti sind grafische Zeugnisse, die, zufällig oder absichtsvoll, öffentlich oder heimlich, an nicht dafür vorgesehenen Trägern angebracht sind. Dr. Michaela Frick vom Bundesdenkmalamt, Abteilung für Tirol, bot in ihrem Vortrag einen detaillierten Überblick über die daraus resultierende Problemlage für die Denkmalpflege und präzisierte eine Reihe objektiver Entscheidungsgrundlagen für den Erhalt oder die Entfernung von Inschriften und Graffiti.

Im abschließenden Referat erweiterte Hubert Ilsinger vom Institut für Archäologien der Universität Innsbruck das Blickfeld auf die Felsbildforschung in Tirol. In nur sechs Jahren konnte die archäologische Forschung unter Harald Stadler und Hubert Ilsinger nicht nur einen Bestand von über 3.500 Petroglyphen und historische Graffiti als Einzelbildmotive dokumentieren, sondern sich auch neue, nicht invasive Technologien zu Bildanalysen aneignen, die Beschädigungen der Substanz ausschließen. Hier wäre auch eine wertvolle Anregung für das Fach Kunstgeschichte zu sehen, die ihrerseits über das traditionsreichste und differenzierteste Instrumentarium zu einer "historischen Bildwissenschaft" verfügt, um die Herausforderung des "Pictorial Turn" anzunehmen.

Schließlich lag der Erfolg dieser Veranstaltung im Bekenntnis aller Beteiligten, den eigenen Erkenntnishorizont auch in Zukunft durch interdisziplinäre Kooperationen zu erweitern, wobei der Universitätscampus Lienz sowohl technisch als auch architektonisch, aber auch atmosphärisch einen gediegenen und bildungsfreundlichen Rahmen bildet.


Rudolf Ingruber und Harald Stadler

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