Oral History in der Bibliothek: neues Publikum erreichen und starke Gemeinschaften bilden.

Patrick Urru

Mit der Bezeichnung Oral History bezieht man sich auf jene historische Forschungsmethodik, die Erinnerungen und persönliche Äußerungen von historischer Bedeutung durch Interviews sammelt. Ein Oral-History-Interview besteht normalerweise aus einem gut vorbereiteten Interviewer, der einen Interviewten befragt und die Gespräche im Audio- oder Videoformat aufnimmt. Die Tonaufnahmen werden transkribiert, zusammengefasst oder katalogisiert und dann in einer Bibliothek oder einem Archiv aufbewahrt. Diese Interviews können für Forschungszwecke verwendet oder in einer Publikation, einer Radio- oder Videodokumentation, einer Museumsausstellung, einer Theateraufführung veröffentlicht werden.

Zwischen 2003 und 2007 führte der Südtiroler Historiker Giorgio Delle Donne Oral-History-Interviews durch, um die Erfahrungen von Menschen zu dokumentieren, die sich in Südtirol niedergelassen haben. Sein Ziel war es, die Methodik der Oral History und die Nutzung von mündlichen Quellen im Bereich der Zeitgeschichte zu erforschen. Die Besonderheit des Projekts besteht darin, dass Delle Donne die Interviews in der Italienischen Landesbibliothek „Claudia Augusta“ in Bozen aufbewahren wollte, um Lehrerinnen und Lehrern die Möglichkeit zu geben, diese Videointerviews im Unterricht zur Landesgeschichte zu verwenden. Außerdem war es sein Ziel, dass die Bibliothek ein Ausgangsort für Forscher wird, die neue Interviews durchführen wollen. Dieser Bestand steht im Vordergrund meines PhD-Projekts und ist die Arbeitsgrundlage für das Oral History Archiv der italienischen Landesbibliothek „Claudia Augusta“. Es wurden etwa 150 Persönlichkeiten interviewt, von denen viele eine wichtige Rolle in der Südtiroler Gesellschaft gespielt haben, wie z. B. Politiker, Leiter wichtiger Unternehmen, Gewerkschaftsführer usw.

In diesem Vortrag möchte ich die Schwierigkeiten und Möglichkeiten der Einrichtung eines Oral-History-Bestandes in einer öffentlichen Bibliothek diskutieren. Oral History als Hilfsmittel, das das Teilhaben von Gesellschaftsmitgliedern durch Gespräche und Treffen innerhalb einer neuen „partizipativen“ Bibliothek animiert. Die Bibliothek wird ein Ort, an dem die Stimmen der Nutzerinnen und Nutzer aufgenommen werden, ohne dabei die Entwicklung der Bestände zu vernachlässigen, mit der Absicht, dass die Interviews Teil der Identität der Bibliothek werden. Die Stimmen von Menschen vermitteln eine Vielfältigkeit von Perspektiven im Austausch miteinander, und der Umstand, dass sie zugänglich sind, verstärkt den Erkennungsprozess der Mitglieder, die sich als Teil einer Gemeinschaft wahrnehmen.

Die Bibliothekar*innen sollen die Menschen über die Kommunikationskanäle der Bibliothek ansprechen und auswählen, wer interviewt werden kann. Die Bibliothekar*innen können auch als Interviewer*innen mitwirken, wobei zu bedenken ist, dass Inhalte und Informationen für und durch die Gemeinschaft erstellt werden sollen. Die Bibliothekar*innen erkennen die Schwierigkeiten, einen Zugang zu der Informationsvielfalt der Interviews zu schaffen, und überlegen, ob es notwendig ist, eine begleitende Dokumentation zu erstellen, die sie dem Publikum näherbringt: die Transkription, die Kataloge der Interviews, Indexe. Zuletzt stellen die Bibliothekar*innen fest, wie dieses Material den Teilnehmern des Interviewsammlungsprojekts und dem Publikum weitergegeben werden soll: durch Übermittlung einer Kopie der Tonaufnahme an die Interviewten, Erstellung von Webseiten über das Projekt, Einfügung der Interviews in den Bibliothekskatalog, aber auch durch die Benutzung der Interviews während Bibliotheksveranstaltungen, wie z. B. durch Fotoausstellungen. Oral History in der Bibliothek wird daher als eine Möglichkeit gesehen, eine Brücke zwischen der Bibliothek und der Gemeinschaft zu bauen, eine Chance, die Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft zu fördern und neue Erzählungen zu inspirieren.

Kurzbiografie

Patrick Urru ist Anthropologe. Seit 2008 arbeitet er als Bibliothekar an der italienischen Landesbibliothek „Claudia Augusta“ in Bozen. Er ist außerdem Vorstandsmitglied der Associazione Italiana di Storia Orale (AISO) und der Associazione Italiana Biblioteche – Sez. Trentino-Alto Adige (AIB).

Nach oben scrollen